1 Abenteuerspielplätze für Fotografen
Mitten in einem verwilderten Park stehen verborgen die brüchigen Mauern eines einstmals stolzen Schlosses. Tote Fenster, sieche Säulen, eingestürzte Decken, abgelagerter Müll. Dazwischen vermutlich Mäuse, Ratten, verwesende Taubenkadaver. Eine verlassene Ruine, um die sich niemand zu kümmern scheint. Betreten auf eigene Gefahr.
Das Abenteuer lockt
Manchmal sind die reizvollsten Spielplätze für Fotografen bekannte Ausflugsziele, wie beispielsweise der Landschaftspark Duisburg-Nord auf dem Gelände eines ehemaligen Hüttenwerks. Meistens jedoch liegen die tollsten Locations abseits der touristisch erschlossenen Wege, oft nur erreichbar über Trampelpfade, häufig auch hinter Zäunen und Mauern verborgen. Verschwiegen, vergessen, verboten – den größten Nervenkitzel garantieren Orte, die der gemeine Spießbürger und ordnungsheischende Beamte am liebsten von der Landkarte tilgen möchte. Da das glücklicherweise häufig nicht so einfach ist, werden die Objekte möglichst „unsichtbar“ gemacht – Hinweise entfernt, Bauzäune aufgestellt, der Schilderwald aufgeforstet. So paaren sich vielerorts Gerüchte, Horrorgeschichten und der fortschreitende Verfall mit dem Reiz des Verbotenen. Ob Sie nun von Forscherdrang, der Sucht nach dem Adrenalinkick oder dem Spaß an einer Schatzsuche mit der Kamera getrieben werden, möglicherweise Grenzen zu überschreiten und gesperrtes oder gefährliches Terrain zu erkunden, sollten Sie sich immer bewusst sein, was Sie da tun und welche Risiken Sie dabei eingehen.
Morbides, Marodes und Mystisches
In Ruinen und auf Friedhöfen spürt man intensiv den – manchmal auch recht übel riechenden – Hauch der Vergangenheit, fotografiert nicht nur Oberflächen, sondern die Tiefe der Zeit. Hinter staubigen Türen und trüben Fenstern erhoffen sich entdeckungsfreudige Fotografen spannende Locations und großartige Motive, trotz des Risikos, im Zweifel in einer schäbigen Müllhalde zu landen, die von außen zu viel versprach. Abenteuerliche Entdeckungsreisen in unbekannte, mitunter sogar gefährliche Welten sind überall möglich, sogar mitten im ansonsten so aufgeräumten und sterilen Deutschland. Alle Aufnahmen in diesem Buch sind ausschließlich in deutschen Landen fotografiert mit Ausnahme einiger Motive, die die Interviews mit Urbex-Fotografen illustrieren. Man muss also keine Expeditionen in ferne Gestade starten, um grandiose Bilder zu machen, sondern nur die Augen öffnen und einfach mal in heimische Ecken schauen, die man bisher übersehen oder schlichtweg ignoriert hat. Morbides, Marodes und Mystisches findet man oft hinter hohen Mauern, hässlichen Bauzäunen, dichten Hecken, oft auch mitten im Wald. Die Suche nach geeigneten Motiven ist genauso spannend wie das eigentliche Shooting und die spätere Bildbearbeitung.
Faszination und Ästhetik des Verfalls
Einige der schönsten Städte der Welt wie Wien oder Venedig verdanken ihre Attraktivität hauptsächlich ihrem morbiden Charme. Hätte man die Lagunenstadt aufwendig saniert, gesichert und frisch gestrichen, wäre sie nur noch eine bunte Touristenfalle ohne Seele. So aber hält man in jedem Bild der Serenissima nicht nur deren glorreiche Vergangenheit, sondern auch den drohenden Untergang fest. Morbide Motive spiegeln die Vergänglichkeit. Mystische Motive dagegen spiegeln die menschliche Sehnsucht nach der Ewigkeit. Zwar müssen Locations, denen mystisches Flair nachgesagt wird, nicht zwangsläufig auch optisch eindrucksvoll sein, doch oftmals findet man Transzendenz in der Existenz von alten Gemäuern und alten Wesen, deren Dasein in dieser Welt unsere Lebens- und Erfahrungsspanne weit übertrifft – beispielsweise in uralten Bäumen. Schönheit liegt bekanntlich immer im Auge des Betrachters. Sieht der eine eine üble Narbe im geordneten Stadtbild, eine Gammelbude, ein Rattenloch, das möglichst bald beseitigt werden sollte, sieht der andere – also vermutlich Sie und ich – dort eher einen verborgenen Schatz im Meer der langweiligen Uniformität, ein interessantes Fotomotiv, eine vielversprechende Location.
Irrationale Architekturfotografie
Die meisten morbiden Orte, eigentlich alle Lost Places, sind Bauwerke im Zustand mehr oder weniger fortgeschrittenen Verfalls. Grundsätzlich fallen also die fotografischen Arbeiten auf diesem Gebiet vermutlich unter die Rubrik „Architekturfotografie“. Vom technischen Standpunkt aus macht es keinen Unterschied, ob das zu fotografierende Gebäude neu erbaut oder alt und marode ist. Inhaltlich aber ist der Unterschied zwischen herkömmlicher Architekturfotografie und der Abbildung morbider Bauwerke fundamental.
Eine normale Aufnahme im Architekturbereich erfordert die rationale, möglichst exakte Darstellung gebauter Struktur. Bilder morbider Bauten dagegen vermitteln eher Irrationales. Stimmungen, Ängste, Neugierde, Geheimnisse, Klage, wohliges Gruseln. Das ist das Schöne und Besondere an der Fotografie von Ruinen und gespenstigen Orten: Formale Konventionen gibt es kaum. Der Interpretations- und Experimentierfreude der Fotokünstler sind fast keine Grenzen gesetzt.
Trotzdem stellen solche Bildwerke gehobene Ansprüche an die technischen Fähigkeiten der Fotografen. Oft unter Zeitdruck muss man in unsicherer Umgebung sein Werkzeug ebenso sicher beherrschen wie die Regeln eines gekonnten Bildaufbaus, sonst ist eher das fertige Bild zum Gruseln als das Motiv darauf.
Stimmungsmache am Computer
Auf den in diesem Buch behandelten Abenteuerspielplätzen für Fotografen kann man Verwunschenes und Verfallenes zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter interessant ablichten, selbst bei Regen und dichtem Nebel. Nicht immer findet man jedoch geeignete oder erhoffte Lichtstimmungen vor. Hat man Pech während des Shootings, erhöht vielleicht erst später eine gekonnte Bearbeitung das matte Bildchen zum mystischen Kunstwerk. So ist denn auch die Bildbearbeitung in diesem Segment der Fotografie (und in diesem Buch) von besonderer Bedeutung.
Am Computer werden Bildstimmungen vertieft oder gar erst erzeugt. Schon bei der Aufnahme sollte man dabei bestimmte Bearbeitungstechniken einkalkulieren und entsprechend vorgehen. Ob ich eine Belichtungsreihe für eine HDR-Aufnahme mache, „Fleisch“ um das Motiv einkalkuliere für das spätere Aufrichten stürzender Linien oder absichtlich unterbelichte, um in der Nachbearbeitung spezielle Effekte zu erzielen, setzt immer voraus, dass ich diese Methoden kenne und auch richtig anzuwenden vermag.
Dieses Buch will Ihnen Mittel und Wege aufzeigen, aus altem Gemäuer neue Fotowelten zu erschaffen – ohne jedes Hexenwerk.
2 Urbexer, Geisterjäger und Vandalen
An vielen verlorenen Orten, die scheinbar der Welt entrückt und sich selbst überlassen im Abseits stehen, werden Sie bald feststellen, dass Sie dort selten der Einzige sind, der durch das Unterholz schleicht. Sind es Gespenster, die Geister der Verstorbenen, die im Skelett des Bauwerks knistern, das Sie soeben erkunden? Bevor Ihnen der Schweiß auf die Linse tropft und die Kamera aus den zittrigen Händen plumpst, seien Sie versichert: Gespenster rufen nicht „Was machen Sie denn da?“ oder „Wo wollen Sie denn hin?“.
Anziehungskraft und Verlockung
Verlassene und mystische Locations ziehen überraschend viele Interessengruppen an – aus den unterschiedlichsten Gründen. Die einen wollen erkunden, die anderen fotografieren, manche wollen nur mal gucken, andere sind auf der Suche, und leider ziemlich viele finden, man könne alles klauen oder zerstören, was scheinbar herrenlos herumsteht.In unserer sterilisierten, überregulierten und konditionierten Welt proben viele zumindest gelegentlich den Ausbruch aus dem beengten, behüteten und überwachten Wohlstandsleben. Sie lockt der Reiz von Orten, die mehr oder weniger aus dieser starren Ordnung gefallen sind. Äußerlich ist schwer zu unterscheiden, wer sich da so tummelt in den vermeintlich vergessenen, häufig auch verbotenen Zonen. Uniformen deuten allerdings in der Regel darauf hin, dass deren Träger höchstwahrscheinlich im Auftrag einer höheren Macht (beispielsweise des Eigentümers oder ihrer Dienststelle) unterwegs sind, um Sie mit „Ja, Sie da!“ zu kontrollieren oder dezent darauf hinzuweisen, dass ein sofortiger Rückzug aus dem Gelände angebracht ist.
Urban Explorers
Aufgrund der mitgeführten Fotoausrüstung samt Stativ recht leicht zu identifizieren sind die Urbexer, Gesinnungsgenossen, die ihrer Passion frönen, Ruinen aller Art mit der Kamera zu erkunden. Mancher Urbexer genießt dabei eher die Entdeckerfreude und die Spannung, in einem Areal außerhalb der üblichen Grenzen aufregende Plätze zu betreten, aber ohne den inneren Anspruch, sich an diesen Locations auch künstlerisch zu verwirklichen. Deren Fotos dienen nur zur Dokumentation der Exkursion, als Trophäe und Beweis. Die Bildergebnisse entsprechen weitgehend den Sicht- und Gestaltungsweisen herkömmlicher Architekturfotografie ohne besondere optische Mätzchen. Auch die Farbwelten sind oft eher reduziert bis hin zu edlem Schwarz-Weiß.
Der Reiz des Vergänglichen
Andere Urban Explorers wiederum reizt die außergewöhnliche Szenerie zu außergewöhnlichen Bildwerken. Sie verwenden viel Zeit und Mühe darauf, in Objekten, die häufig nicht oder nicht mehr der landläufigen Auffassung...