1.1.1 Technik als zur âNaturâ des Menschen gehörend
Die Auffassung, dass Technik â im weitesten Sinn â zur Wesensbestimmung des Menschen gehört, ergibt sich aus dessen biologischer Verfasstheit als âMĂ€ngelwesenâ im Vergleich mit dem Tier (vgl. Gehlen 1962, 33 f.): Die fĂŒr das Tier zur LebensbewĂ€ltigung notwendigen Instinkte sind bei dem Tier âMenschâ nur noch rudimentĂ€r vorhanden. Auf der anderen Seite hat beim Menschen eine Koevolution der Greifhand (Opposition des Daumens), des Kehlkopfs (Möglichkeit der Artikulation) und des Gehirns stattgefunden, was eine Fortentwicklung der Feinmotorik, die Entwicklung von Sprache und, damit verknĂŒpft, von Denken ermöglichte.
Ob diese evolutionĂ€r neuen FĂ€higkeiten möglicherweise ursĂ€chlich waren fĂŒr die Instinktreduktion des Menschen oder ob es sich dabei um eine Parallelentwicklung handelte, ist hier nicht von Belang. Wesentlich ist, dass hierdurch MĂ€ngel der Instinktausstattung kompensiert werden konnten, mehr noch: dass dem Menschen dadurch FĂ€higkeiten zuwuchsen, die weit ĂŒber alle Instinktleistungen hinausreichen. In diesem Sinn muss Technik in der Tat als dem Menschen essentiell zugehörig verstanden werden. Helmut Plessner nennt es âdas Gesetz der natĂŒrlichen KĂŒnstlichkeitâ des Menschen, der âals exzentrisch organisiertes Wesenâ sich âerst machenâ mĂŒsse zu dem, was er ist (Plessner 1975, 309); âexzentrischâ im Sinn des nicht mehr Eingepasstseins in die Natur: Der Mensch ist âvon Natur, aus GrĂŒnden seiner Existenzform kĂŒnstlichâ (310). âKunstâ im Sinn der griechischen âtechneâ, also Technik im weitesten Sinn, gehört zur Natur des Menschen. Seine NatĂŒrlichkeit ist die BefĂ€higung zu einer kĂŒnstlichen Daseinsweise. Die Nicht-Angepasstheit des Menschen an die Natur erfordert umgekehrt Anpassung der Natur an den Menschen: als intelligente Herstellung einer kĂŒnstlichen Natur, eben durch Technik.
Man muss sich vergegenwĂ€rtigen, dass der Mensch damit nicht lediglich seine Defizite als âMĂ€ngelwesenâ so weit kompensieren konnte, dass er dem Tier bestenfalls ebenbĂŒrtig war, sondern dass er es qua Technik vielmehr exorbitant ĂŒbertrifft â das wird in der Bewunderung fĂŒr die staunenswerten Leistungen des Organismus hĂ€ufig ĂŒbersehen. Wenn etwa das enorme Geruchsvermögen des Hundes angefĂŒhrt wird, das â wie man hört â das des Menschen etwa um das Zweihundertfache ĂŒbertreffen soll, so ist dem entgegenzuhalten, dass eine solche FĂ€higkeit durch technische Sensoren nochmals bei weitem ĂŒberboten wird â bis zur physikalisch möglichen Grenze der Registrierung eines einzigen MolekĂŒls. Setzt das Beispiel noch Vergleichbarkeit mit Leistungen animalischer Organisation voraus, so gilt dies fĂŒr technische Leistungen grundsĂ€tzlich nicht. Man denke nur an Entwicklungen der Laser- oder Computertechnik, die dem Menschen völlig neue Dimensionen technischer Möglichkeiten und damit auch der DaseinsbewĂ€ltigung erschlieĂen.2
Die von der Technik immer auch ausgehende Faszination ist von daher begreiflich: als das Erstaunen und die Bewunderung ĂŒber den immer erneuten Triumph des Geistes. Man könnte vom Wunder der Verwirklichung sprechen, dass etwas so Ătherisch-Ungreifbares, wie es Gedanken sind, in der Form technischer Schöpfungen âharteâ RealitĂ€t gewinnt. Darin ist schon eine Vorausdeutung auf ontologische TatbestĂ€nde enthalten, die im Folgenden nĂ€her betrachtet werden sollen (Kap. 1.2). Es muss fĂŒr den Ingenieur ein ĂŒberwĂ€ltigendes GefĂŒhl sein, wenn der Denkentwurf eines Motors in seiner realisierten Form tatsĂ€chlich funktioniert.
Zugleich ist der zugrunde liegende gedankliche Zusammenhang damit in Wissen ĂŒberfĂŒhrt worden. Was funktioniert, ist richtig. Wenn Giambattista Vico geltend gemacht hat, dass wir von der Natur nicht in dem MaĂ Wissen haben können wie von der Kulturwelt, weil wir nur diese selbst geschaffen haben (Vico 1990, Nr. 331; vgl. auch Hösle 1990, Kap. 2.3), so gilt dieses als Verum-Factum-Prinzip gelĂ€ufige Diktum eigentlich erst recht fĂŒr die technische Welt (die ja, wie einleitend erwĂ€hnt, in der Tat als Teil der Kulturwelt zu verstehen ist). In einem gewissen Sinn hat das Verum-Factum-Prinzip paradigmatischen Charakter fĂŒr die gesamte neuzeitliche Wissenschaft, insofern sie experimentelle Wissenschaft ist: Im Labor wird die Natur erkannt, indem sie â partiell â technisch nachgeschaffen wird, âund zwar, gerade durch die Abstraktion von Störfaktoren, in einer Reinheit, die an den göttlichen Schöpfungsakt erinnertâ (Hösle 1991, 58).
Das âWunder der Verwirklichungâ ist aber nur ein â wenn auch zentrales â Motiv der Faszination von Technik. Ein anderes Faszinosum ist zweifellos der sich in der Technik eröffnende Horizont unabsehbar neuer Daseinsmöglichkeiten und WunscherfĂŒllungen. Jeder kennt das aus dem Alltag: KĂŒhlschrank, Auto, Fernsehen, Computer, Digitalkamera, Laserchirurgie, Tomographie und so fort. Die Palette technischer Produkte ist ĂŒberwĂ€ltigend â und ihr Verlockungspotential ebenso. Dass wir dagegen nicht immun sind, macht das unstillbare BedĂŒrfnis nach immer neuer Technik und, daraus resultierend, ihre ökonomische Bedeutung verstĂ€ndlich. Aber was an der Technik ist es, was uns so unwiderstehlich anzieht? Arbeitserleichterungen und Annehmlichkeiten im Alltag (etwa âZentralheizungâ, âFernsehgerĂ€tâ etc.)? OrganverstĂ€rkung und OrganĂŒberbietung (Gehlen 1961, 93 f.)3 (etwa âMotorsĂ€geâ, âElektronenmikroskopâ etc.) oder auch Befreiung von NaturbeschrĂ€nkungen (etwa âFlugzeugâ, âZahnprothetikâ etc.)?
Sicher von all dem etwas, aber, so will scheinen, doch auch mehr: Vielleicht eine Art Begeisterung des Geistes fĂŒr seine Geschöpfe, in denen er seine eigene Intelligenz gespiegelt sieht. NatĂŒrlich habe ich den Computer, den ich verwende, nicht selbst erdacht und hergestellt, aber er imponiert mir als Zeugnis der IngeniositĂ€t, die ich auch mir selbst, als Angehörigem der Menschengattung, die solches hervorzubringen vermag, grundsĂ€tzlich zurechnen darf.
Diese â sehr âanthropologischeâ â Form der Technikbegeisterung scheint mir im Ăbrigen eine gewisse ErklĂ€rung fĂŒr das PhĂ€nomen zu bieten, dass technische Produkte, die ja als Mittel zur Erreichung eines Zwecks gedacht zu sein scheinen, immer auf dem Sprung sind, zum Selbstzweck zu werden. Man kann es auch so ausdrĂŒcken: Sie regen zum âSpielenâ an, und das heiĂt, die Phantasie gerĂ€t in Bewegung â als technische Phantasie, die damit spielt, technische Möglichkeiten auszudenken. Auf den Computer trifft dies sicher in besonderem MaĂe zu. Computerprogramme sind perfektionierte logische Gebilde, aber aus begreiflichen GrĂŒnden nie so perfekt, dass sie nicht weiterer Perfektionierung fĂ€hig und bedĂŒrftig wĂ€ren. Jeder, auch der Nicht-Programmierer weiĂ, was zu verbessern wĂ€re, und in diesem Sinn imaginiert er sein Wunschprogramm. Jeder kann zudem im Umgang mit dem Computer seine eigenen Vorstellungen von Ordnungen und Strukturen konfigurieren und variieren. Der Computer bietet der technischen Phantasie gleichsam unerschöpflich âFutterâ, was seine AttraktivitĂ€t zweifellos ganz wesentlich mit ausmacht.
1.1.2 Der Erfolgscharakter technischer RationalitÀt
Charakteristisch fĂŒr Technik ist jene Denkform, die als Mittel-Zweck-RationalitĂ€t bezeichnet wird. Das richtige Mittel garantiert die Realisierung eines bestimmten Zwecks (dazu spĂ€ter mehr, Kap. 1.2.3). Das Mittel âHeizungâ ermöglicht die Realisierung des Zwecks âWĂ€rmeâ. Diese der Mittel-Zweck-Relation inhĂ€rente Erfolgsgarantie macht ein weiteres Essential technischen Denkens deutlich: die Möglichkeit, den Erfolg herbeizuzwingen â ein Menschheitstraum! Das riesige, der Technik innewohnende Verlockungspotential wird von daher begreiflich.
Die mit technisch-instrumentellem Denken verknĂŒpfte Erfolgserwartung motiviert zur Generalisierung: Warum sollten sich so nur technische Effekte erzielen lassen, warum nicht auch strategische, politische oder psychologische Siege? âNichts ist so erfolgreich wie der Erfolgâ: Erfolgsgeleitetes technisches Denken empfiehlt sich als die Methode des Erfolgs schlechthin. In der Tat findet sich dafĂŒr im militĂ€rischen, im politisch-sozialen Bereich, in der Werbung etc. reiches Anschauungsmaterial. Der in diesem Kontext geprĂ€gte Begriff der âSozialtechnikâ ist bezeichnend. Der Gedanke, dass Menschen in dieser Weise konditioniert, instrumentalisiert, manipuliert werden können, ist einfach naheliegend. Hier ist an Kants mahnende Unterscheidung von Sache und Person zu erinnern, wonach die Sache ânur einen relativen Wertâ (Kant GM, 428), die Person aber âWĂŒrde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wertâ habe (GM, 436). Dem entspricht Kants zweite Formel des kategorischen Imperativs, dass der Mensch âniemals bloĂ als Mittelâ, sondern immer auch als âZweck an sich selbstâ zu achten sei (GM, 429, i. Orig. hvgh.).
âNiemals bloĂâ â damit ist auch eine EinschrĂ€nkung formuliert: In der unvermeidlich arbeitsteiligen Welt ist der Mensch unvermeidlich auch Mittel: als Taxifahrer, Professor, Bankangestellter etc. Dies gilt fĂŒr alle Lebensbereiche: Ohne den Einsatz von Mitteln ist DaseinsbewĂ€ltigung unmöglich. Selbst in psychisch-emotionaler Perspektive mĂŒssen strategische Aspekte im Blick behalten werden â Geburtstag nicht vergessen, Ăffnungszeiten des Blumenladens beachten, an Zahlungsmittel denken und so fort. Erfolgsbedingung ist hier konsequentes Mittel-Zweck-Denken, also eine im weitesten Sinn technische RationalitĂ€t: als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung zwischenmenschlichen Handelns. Werte wie Zufriedenheit, Freundschaft etc., die im Horizont der Technik selbst keinen Ort haben, mĂŒssen gleichwohl immer auch technisch-strategisch realisiert und gesichert werden. Kurzum: Handlungserfolg ist an die Mittel-Zweck-RationalitĂ€t geknĂŒpft derart, dass â bei gegebenem Zweck â die Wahl des richtigen Mittels die Realisierung des Zwecks garantiert. Das ist von Anbeginn an eine Grundfigur menschlichen Denkens.
Arnold Gehlen hat deren AffinitĂ€t zur Magie bemerkt (Gehlen 1957, 13 ff.; 1961, 96 f.). Wer die magische Formel kennt, kann den Dingen befehlen und sie fĂŒr sich arbeiten lassen: Genau das intendiert Technik in der Tat. Die Magie freilich bedient sich nicht realer Mittel, sondern sucht eine spirituelle Macht ĂŒber die Dinge zu gewinnen. Gehlen nennt sie daher eine âĂŒber-natĂŒrliche Technikâ (1957, 14). Wetterzauber, Fruchtbarkeitszauber, âBesprechenâ von Krankheiten, Astrologie etc. sind gewissermaĂen als âGeisteswissenschaften der Naturâ zu verstehen. Gehlen sieht darin ein âResonanzphĂ€nomenâ in dem Sinn, dass der Geist dazu neigt, die Natur als durchgĂ€ngig begeistet zu deuten (1957, 16). Nun, so ganz falsch liegt er damit letztlich vielleicht nicht, wenn man bedenkt, dass auch die reale Technik nur gelingen kann, wenn sie die den Dingen zugrunde liegende âLogikâ â die Naturgesetze â richtig erfasst und technisch in reale FunktionalitĂ€t umsetzt (hierzu Kap. 1.2.1, 1.2.2). Beides erspart sich die Magie allerdings und ist dadurch zum...