Geschichte und Dichtung
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Geschichte und Dichtung

Die Ästhetisierung historischen Denkens von Winckelmann bis Fontane

  1. 406 Seiten
  2. German
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Geschichte und Dichtung

Die Ästhetisierung historischen Denkens von Winckelmann bis Fontane

Über dieses Buch

Die Kritik des Wahrheitsanspruchs zwischen Geschichte an sich (Ranke: "wie es eigentlich gewesen") und Darstellung der Geschichte ist ein auch politisch umstrittenes Erbe der Aufklärung. Eine Geschichte dieser Kritik reicht vom Perspektivismus des 18. Jahrhunderts, der die subjektive Standortgebundenheit historischer Aussagen regelt, bis zum Positivismus des 19. Jahrhunderts, der für den Tatsachenglauben wissenschaftliche Objektivität beansprucht. An der Diskussion über das Verhältnis von Geschichte und Dichtung hatten die hier behandelten Autoren – Winckelmann, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Novalis, Kleist, Heine, Grillparzer und Fontane – einen maßgeblichen Anteil. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Historiker wie Chladenius, Gatterer, Schlözer, Heinrich Luden, B. G. Niebuhr, Ranke, Gervinus, Droysen, Mommsen, Treitschke und Scherer sowie der Philosophen Kant, Nietzsche und Dilthey haben sie zur kritischen Problematisierung historischer Wahrheitsfindung einen vor allem literarischen Beitrag geleistet, z. B. Lessings Nathan der Weise, Goethes Faust, Novalis' Heinrich von Ofterdingen, Kleists Der zerbrochne Krug, Grillparzers Der arme Spielmann, Fontanes Vor dem Sturm. Allen gemeinsam ist die schließlich existentielle Verunsicherung durch die zentrale Frage der Aufklärung, wie sie Kleist formuliert hat: "ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint".

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Information

Jahr
2020
ISBN drucken
9783110676259
eBook-ISBN:
9783110679915
Auflage
1
Thema
History

1Johann Joachim WinckelmannGeschichte als Vorlauf des Todes

„Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann.“60 Mit diesem Bonmot hat Walter Benjamin in seinen Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskows, Der Erzähler (1936), ein Grundproblem der Erzähltheorie angeschnitten, das auch für das historiographische Projekt gilt. Wenn der Tod, wie auch Nietzsche meinte, „nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel [ist], durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird“,61 dann rechtfertigt auch das Ende einer Erzählung seine daraufhin strukturierte Vorgeschichte. Wenn erst in der Erinnerung an einen Menschen sich der Sinn seines Lebens von seinem Tod her erschließt, erfahren die Leser, so meint Benjamin, diese tröstliche Sinngebung stellvertretend an Romanfiguren, deren Tod – wie das Ende der Erzählung – von vornherein gewiß ist. Aber wie können die Helden ihr eigenes Ende so antizipieren, daß sich die Leser von der Allgegenwart des Todes fesseln und zugleich trösten lassen? „Wie geben sie ihm zu erkennen, daß der Tod schon auf sie wartet, und ein ganz bestimmter, und das an einer ganz bestimmten Stelle? Das ist die Frage, welche das verzehrende Interesse des Lesers am Romangeschehen nährt.“62
Für Personen der Geschichte, die sowohl historiographisch als auch literarisch erinnert werden, gilt Frank Kermodes ähnlich zugespitzt formulierte These seiner Fiktionstheorie „that the end is immanent rather than imminent“.63 Der ihrem Leben immanente Tod zeigt an, daß sich ihr Leben zugleich auf ihr Ende und auf den Zeitpunkt ihrer narrativen Erinnerung zubewegt. Die an fiktiven Figuren erfahrene Immanenz des Todes verspricht einen Aufschub des eigenen Todes. Schon Benjamin hätte an Johann Joachim Winckelmann denken können, den an der Grenze zwischen Geschichte und Dichtung berühmtesten Fall eines gewaltsamen Todes, der die Erinnerung an den deutschen Begründer der Kunstgeschichte so sehr geprägt hat, daß seine historiographische Leistung in den Hintergrund des existentiellen Trostschemas getreten ist.
„Hat er Ahnungen eines nahen Todes gehabt?“ So fragt Gerhart Hauptmann in der ‚Fragment‘ genannten ersten Fassung seiner Winckelmann-Erzählung von 1939.64 Die meisten, die den Namen Winckelmann gehört haben, wissen, daß er (am 8. Juni 1768 in Triest) ermordet wurde. Aber hat Winckelmann selbst ‚gewußt‘, was auf ihn zukam, als er seine Deutschlandreise in Wien abbrach, um möglichst schnell nach Rom zurückzukehren, das seine eigentliche Heimat geworden war, und als er in Triest tagelang auf eine Schiffsverbindung nach Ancona warten mußte? Läßt die überhastete Umkehr darauf schließen, daß er seine Ermordung geahnt hat, um deretwillen er vielen Lesern bekannter geworden ist als durch sein Leben und seine Werke? Konnte er ahnen, daß er die Bedingung des Tragischen erfüllte, als er das gefürchtete Unheil, indem er es zu vermeiden trachtete, gerade dadurch selbst herbeigeführt hat? Warum hat der gewaltsame Tod Winckelmanns, der immerhin schon 50 Jahre alt war, als er starb, die Gemüter seiner Zeitgenossen und vieler Leser nachfolgender Generationen so viel mehr erregt als der Tod junger Genies wie Novalis (28), Büchner (23), Trakl (27) und Kafka (40) oder sogar wie Kleist, der sich mit 34 Jahren selbst das Leben genommen hat?
Nicht die Neugier auf geniale Werke, die die Frühvollendeten noch hätten schreiben können, bestimmt dieses Interesse an Winckelmanns Tod, sondern die Frage, ob dem ganz anders unerwartet abrupten Tod durch Mord (oder Unfall), ob seiner vermuteten Zufälligkeit und Sinnlosigkeit doch noch ein Sinn dadurch unterstellt werden kann, daß das Ende einen Vorlauf erhält, der den abrupten Tod als Konsequenz einer Entwicklung akzeptabler macht. In diesem Sinn ist es vielleicht ein uneingestandenes Wunschdenken, das danach fragen läßt, ob der Betroffene wohl „Ahnungen“ (im Sinne Gerhart Hauptmanns) als Vorgriff auf sein gewaltsames Ende gehabt haben könnte. Der unerwartete Tod weckt, wenn er denn vorausgeahnt würde, die Hoffnung, daß der Begründer der Kunstgeschichte seinen Sinn nicht nur auf die Vergangenheit, sondern vielleicht auch auf die eigene Zukunft, richtiger: auf deren Ende gerichtet haben könnte. Kommt mit dem historischen Verständnis dessen, was war, auch eine Ahnung dessen, was sein wird, also ein Verständnis für den womöglich zwangsläufigen Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft?
Hauptmann hat auf die beiläufig eingeworfene Frage in der ersten Fassung seines Winckelmann erst in dessen zweiter Fassung eine ausführliche Antwort gegeben, indem er solche „Ahnungen“ zum bestimmenden Leitmotiv der ganzen Erzählung machte, als würde erst die geahnte Zukunft den Historiker legitimieren.
Die über seinen Tod hinausweisende Zukünftigkeit der Rolle Winckelmanns in der deutschen Geistesgeschichte nimmt eine wichtige Stelle in Hauptmanns nicht uneitler Selbststilisierung ein („Winckelmann, Goethe und meine Geringfügigkeit“),65 weil sie direkt auf Hauptmann zuzulaufen scheint: „‚Winckelmann‘ muß meine Art faustisches Finale werden.“66 Hauptmann mißt sich mit Goethe (dem er im Alter auch äußerlich immer ähnlicher zu werden trachtete), indem er Winckelmann zu seinem Faust macht. Er bewundert in Winckelmann den Dichter, der er selbst zu sein beansprucht: „Es ist in Winckelmann ein dichterischer Zug. In ihm aber liegt seine Fähigkeit, das Griechentum in Schönheit zu erneuern. In dieser Beziehung basieren alle Späteren auf ihm.“67 Damit das ‚faustische Finale‘ auch für den „Späteren“, eben Hauptmann, der bis zu seinem Tod 1946 noch an dem Fragment gebliebenen Der neue Christopherus arbeiten sollte, kein endgültiges Ende ist, bemüht sich Hauptmann um eine narrative Transzendenz, die das Mehrwissen des Erzählers in die „Ahnungen“ seines Spiegelbilds projiziert.
Eine solche Prognostik, die den Vorausdeutungen einen falschen mystischen Zug verleiht, wird von vornherein mythisch überhöht, wenn Hauptmann seinem Helden einen ‚Inkubus‘ in den Nacken setzt, wie ihn der Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli in vielen Bildern dargestellt und Franz Grillparzer, Freud vorwegnehmend, in seinem bekannten Gedicht Incubus (1821) beschrieben hat.68Zugleich erinnert der Incubus, der als albtraumartiger Nachtmahr den Schlafenden überfällt, an Goethes Faust, der den als Pudel erscheinenden Teufel mit dem Ruf „Incubus! Incubus“ (V. 1290) wegzuscheuchen versucht. Während sich Hauptmanns erste Fassung auf eine unbestimmte Warnung des Malers Raphael Mengs beschränkt, daß ihn „der Tod holen“ könne, wenn er „in den nordischen Nebel, das nordische Schneetreiben, die nordische Nacht“ zurückkehrt,69 geht die zweite Fassung über Mengs’ klimatische Bedenken weit hinaus, wenn ihm nun Winckelmann selbst die „hauptsächlichste“ Vision des drohenden Schicksals vorträgt:
Mir im Rücken fühle ich dann eine Stele. Obendrauf den widerwärtigsten Marmorkopf einer Frauenperson. Sie hat unzweifelhaft mit einer Erinnys Ähnlichkeit. Der Stein ist mit einer leichenhaften Farbe getönt. Die Augen ohne Pupillen scheinen aus Elfenbein. Damit glotzt das Bild gleichsam blind und sehend und dringt mit seinem Blick von rückwärts gnadenlos in mich ein. Um Sie das Gruseln völlig zu lehren, lieber Mengs, ergänze ich noch, daß diese liebenswürdige Dame gelb, grün und blau am Halse ist, als ob sie jemand gewürgt hätte, und daß ihr ein blutiger Faden über die linke Wange rinnt.70
Die Erinye mit dem unheimlichen Medusenblick verkündet bereits auf den ersten Seiten der viel längeren zweiten Fassung der Winckelmann-Erzählung das wie in der griechischen Tragödie verhängte Fatum des blutigen Würgetods – vielleicht als Rache für einen ungenannten Frevel, Winckelmanns griechische Liebe für Epheben, die als „Unnatur“71 allerdings nur angedeutet und zugleich ausdrücklich nicht verurteilt wird: „Dem unserer Moral durchaus nicht Natürlichen steht es wie einer naturgegebenen, im Ganzen der Menschheitsgeschichte untilgbaren Anlage gegenüber.“72 Weil sich der Erzähler einer moralischen Kausalisierung des gewaltsamen Endes verweigert, wird dessen Funktion als unverdientes und deshalb unberechenbares Schicksal umso deutlicher. Die Bedrohung durch das unheimliche Zeichen war Hauptmann so wichtig, daß er sich an dieser Stelle notiert hat: „Am Schluß Motiv wiederholen.“73
Das Motiv erscheint aber schon lange vor dem Schluß immer wieder, bevor es schließlich in Gestalt des Mörders Francesco Arcangeli auftritt, um Winckelmann mit einem Strick zu würgen und mit einem Messer zu erstechen. Hauptmann personifiziert für Winckelmann „die dumme Vision, die ihn während des Schreibens im Rücken beunruhigte“,74 zum sokratischen Daimonion und verbindet es mit den zwei Seelen, ach, die wie in Goethes Faust auch in seiner Brust miteinander kämpfen: „Sokrates hat seinen Dämon gehabt. Ich habe zwei: einen guten und einen bösen. Mir schien, der böse stand hinter mir.“75 Winckelmann sieht „einen bösen Dämon hinter sich“,76 „als stiege wieder der Schatten herauf, der ihn schon öfter beängstigt hatte“,77 bis der Erzähler, sein Mehrwissen schlecht verbergend, meint: „Man könnte sagen, daß es der von der Gegenseite ins Feld geschickte, Winckelmann feindliche Dämon war, der sich des Bildhauers bediente, ihn doch noch ins Verderben zu peitschen.“78 So wird sogar der Bildhauer und Kunsthändler Bartolo Cavaceppi, der die Deutschland-Reise mit Winckelmann erzwingt, um mit dessen Reputation an deutschen Höfen seine Geschäftsinteressen zu fördern, zum bloßen Werkzeug eines Schicksals, das unausweichlich auf das bekannte Ende zuläuft.
Um die Zwangsläufigkeit der Motivwiederholung zu unterstreichen, läßt Hauptmann, gegen alle historische Überlieferung, Winckelmann schon lange vorher, als er den ‚begehrenswerten‘ Epheben ‚Desiderio‘ Arcangeli kennenlernt, an einen Koch namens Francesco Arcangeli in Florenz denken, den sein Freund Stosch in Verona einst mit der unheilschwangeren Bemerkung abgewiesen habe: „Man müsse mit Köchen vorsichtig sein, sie hantierten zuviel mit Messern.“79 Der Erzähler spekuliert auf das Mehrwissen der Leser, die die Bedeutung des historischen Namens Arcangeli kennen, und nutzt das literarische Namensspiel, um zwischen dem hinreißend schönen Desiderio Arcangeli, der Winckelmann auf den Vesuv begleitet, und dem eher abstoßenden Francesco Arcangeli, der ihn ermorden wird, eine fatale Korrespondenz von Eros und Thanatos, in Freudscher Terminologie (in Jenseits des Lustprinzips, 1920): zwischen ‚Lebenstrieb‘ und ‚Todestrieb‘ anzudeuten. Den todgeweihten Winckelmann selbst plagt „eine Art Beängstigung. Bestand am Ende ein Schicksalsspruch, der ihn bestimmte, nun abzutreten?“80
Die Antwort auf die in der ersten Fassung der Erzählung gestellte Frage wird nun in die harmloseste Situation hineingetragen und selbst eine unerwartete Heiterkeit „als Ausdruck einer schlimmen Ahnung gedeutet“,81 als wäre jedes Glück nur die Kehrseite eines Unheils. Aber nicht nur Winckelmanns Ahnungen, sondern sein ganzer Lebenslauf, der unglaubliche Aufstieg des Schustersohns aus Stendal zum Adlatus des Kirchenfürsten Albani in Rom, erscheint dem Erzähler auch objektiv als fataler Plan mit tragischem Ende: „Wie seltsam der Ratschluß der Schicksalsgöttin.“82 Winckelmanns „Verfolgungswahn“83 versteift sich auf den „Neid der Götter“,84 den er fürchten muß, und folgt „der fürchterlichen Magie des Schreckauges, das ihn, allem Sträuben zum Trotz, in sich sog“.85 Was das gefürchtete Fatum vorhat, verrät sich in nicht gerade subtiler Symbolik auch darin, daß sich ein Totenkopf-Schmetterling auf der Perücke Winckelmanns und auf seinem Bettkissen einfindet.86 Schon vorher hat Winckelmann, von Genien, Faunen und seinem künftigen Mörder träumend, noch im Halbschlaf gerufen: „[I]ch komme von den Pforten des Todes“ und „Assassino, ladro, laß mich in Ruhe.“87 Im antizipatorischen Traum ist Winckelmann seinem ‚diebischen Mörder‘ bereits begegnet, lange bevor er ihn überhaupt kennengelernt hat.
Hauptmann setzt also alle literarischen Mittel ein, um an der von ihm konstruierten Schicksalstragödie keinen Zweifel zu lassen: „In der Tat: er, der sich dem Fatum entronnen fühlt, läuft ihm nun gerade blindlings in die Falle.“88 Bis zur letzten Seite wird der prognostische Charakter der Erzählung ausgekostet, als Arcangeli, während Winckelmann noch seine Geschichte der Kunst für eine Neuauflage revidiert, „diese scheußliche Schlinge, welcher er blind entgegengelaufen ist“,89 um seinen Hals zusammenzieht. Zugleich wird die Schicksalsblindheit durch Winckelmanns letzte Notizen („Erinnerungen für den künftigen Herausgeber der Geschichte der Kunst“) wieder mit der scheinheilig wirkenden Frage des Erzählers eingeschränkt: „Ist dies ein Wissen von der Nähe des unabänderlich Waltenden und die Ergebung in seinen Beschluß?“90 Winckelmanns „Ahnungen“, nach denen in der ersten Fassung nur gefragt wurde, haben am Schluß der zweiten Fassung ihre Antwort in einem „Wissen“ gefunden, das Winckelmann, als wäre er selbst der Autor seiner verhängnisvollen Geschichte, zum Mitwisser s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Einleitung: Die Problematisierung des Wahrheitsanspruchs
  7. 1 Johann Joachim Winckelmann – Geschichte als Vorlauf des Todes
  8. 2 Gotthold Ephraim Lessing – Geschichte als Parabel der Wahrheit
  9. 3 Johann Gottfried Herder – Geschichte als Sprachbild des Dramas
  10. 4 Friedrich Schiller – Geschichte als tragische Analysis
  11. 5 Johann Wolfgang von Goethe – Geschichte als Spiegelbild der Zeiten
  12. 6 Novalis – Geschichte als Roman des Lebens
  13. 7 Heinrich von Kleist – Geschichte als Gerichtsspiel mit dem historischen Faktum
  14. 8 Heinrich Heine – Geschichte als Interesse der Zukunft
  15. 9 Franz Grillparzer – Geschichte als narrative Selbstvergewisserung
  16. 10 Theodor Fontane – Geschichte als Roman einer Vorgeschichte
  17. Schluß: Fragen statt Antworten
  18. Zeittafel: Stationen in der Ästhetisierung historischen Denkens
  19. Bibliographie
  20. Personenregister