Krähengeschrei: Friedrich Nietzsche auf Winterreise
Abstract
Screeching of crows: Friedrich Nietzsche on a winter travel. The essay addresses Nietzsche’s posthumous poem Der Freigeist on the background of its formative musical influence (Schubert’s Winterreise), its contexts within Nietzsche’s works and remains, and its reception in arts, philosophy and literary criticism in the 20th century.
Unter dem eigenwilligen Plural von „Nietzsches Litertaturen“, der zu Zeiten der inzwischen verstorbenen Postmoderne mancherlei Verständnisprobleme mit sich gebracht hat, mag man einen unorthodoxen, gleichsam polytheistischen Zugang zu Nietzsches überaus reichem, vielschichtigen und vielgestaltigen Werk suchen. Wenn man – laut Nietzsches bekanntem Zarathustra-Zitat, „noch Chaos in sich haben muss, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (KSA 4, S. 19), dann gilt das nach dem Chaostheoretiker- und Praktiker Karl Marx auch für die Remobilisierung versteinerter Verhältnisse, die wieder zum Tanzen gebracht werden sollen. Literaturen sind Ligaturen: unersetzliche Bindeglieder, die nicht feste Substanzen, ‚harte‘ Identitäten bezeichnen, sondern Konfigurationen und Konstellationen. Literaturen stehen stets in Beziehung. Sie eröffnen oder schließen Zusammenhänge, aber auch Dissidenzen. Sie sind reflexiv und ironisch. Gott, als er sich mit der Schöpfung so vertan hatte, dass er nicht mehr wusste, was er sich denn dabei gedacht hatte, rettete sich in den einzigen Hafen, der ihm noch geblieben war: die Ironie und vor allem die Selbstironie. Wenn seine Gläubiger nur gehörig an ihn glauben, ist er – Gott – so etwas wie der Thomas Mann der Literaturen. Wie auch immer: Es kommt auf den Polyperspektivismus von Nietzsches Werk und den damit einhergehenden Relativismus wechselnder Optiken an. Denn Wahrheiten, so Nietzsches brillante Diagnose, sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie Illusionen sind.
Nietzsche tastete sich mit seinen Literaturen vor in Bereiche, deren Wahrheiten die Infragestellung des einen Subjektes als Nachfolger des einen Gottes intendierten. „Meine Hypothese[ ]“, heißt es im Nachlass Nietzsches vom September 1885, „das Subjekt als Vielheit“, die „Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebenso gut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewusstsein zu Grunde liegt?“ (KSA 11, S. 650) Wenn dem so ist, dann würde es möglich, sich auf die ganze Spannweite der Nietzsche’schen Literaturen einzulassen, von denen indessen keine auch nur annäherungsweise das Ganze zu nennen wäre, im Gegenteil: Das angebliche Ganze verlöre sich in der Vielheit der Subjekte, so dass weder die Wahrheit noch die Totalität der Nietzsche-Literaturen jemals zu haben wäre. Nietzsches Literaturen sind im höchsten Maße nicht nur polyvalente Ligaturen, sondern plurale Abrisse eines Ganzen, das als solches nie gegeben ist. Nietzsches Literaturen, um das in der unvermeidlichen Abbreviatur wenigstens anzudeuten, stehen hier in einem Zusammenhang, der wesentliche Aspekt der neueren Philosophie- und Psychologiegeschichte umfasst:
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das gleichsam afrikanische Modell Arthur Rimbauds, der – im Zuge der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten, dieses „wahre[n] innere[n] Afrika[s]“ (Paul 1996, S. 1182) nach der prägnanten Formel Jean Pauls – in seinen erst verspätet rezipierten Briefen an Georges Izambard und Paul Demeny vom 13. und 15. Mai 1871, den Lettres du Voyant, die ‚bestimmte Negation‘ der Identität des Selbst unter dem Titel „je est un autre“ („Ich ist ein Anderer“) konzipiert hat (Rimbaud 2002, S. 368 – 369); sie hat nahezu kanonische Geltung in den Zeiten der inzwischen verabschiedeten Post- und der Postpostmoderne erreicht.
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in dem Konzept der „Unbestimmtheitsstellen“ (Ingarden 1931, S. 250 – 259, hier S. 250), das der Phänomenologe und Husserl-Schüler Roman Ingarden als Inbegriff der Schnittstellen zwischen Ästhetik, Ontologie und Erkenntnistheorie entworfen hat.
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In der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik der ‚Konstanzer Schule‘ (Wolfgang Iser, Hans Robert Jauß), die zur Co-Produktionsästhetik erweitert worden ist.
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schließlich und vor allem von der Subjektkritik, wie sie maßgeblich von Nietzsche und der negativen Dialektik der kritischen Theorie zugespitzt worden ist.
Das alles schreit, nein: krächzt nach Deutung: Am Anfang war nicht das Wort und auch nicht der Text, sondern das Gekrächz der Krähen: Zukunftsmusik. Diese freilich folgt nicht wenigen eigenwilligen literarischen Impulsen. Die Musik ist zunächst die eines gekrächzten Krähengeschreis. Bei näherem Zuhören deutet sich aber an, dass diese Musik zwar mit dem Schreien der Krähen zusammenhängt, wie es in der apostrophierten einsilbigen Form von Nietzsche notiert worden ist, im Übrigen aber auf eine der unverwechselbaren, vollendeten Kompositionen von Schuberts Winterreise zurückgeht: das 20. Lied auf einen tautologischen (und titelgebenden) Wegweiser, der auf eine Straße weist, die „noch keiner ging zurück“ (Schubert 1979, S. 181). Anders als bei Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist es eine Straße ohne Wiederkehr. Ihr Ziel ist der Tod.
Wer diese Straße geht, singt ihre Musik, hört aber mehr noch das Schreien der Krähen, die sich stadtwärts aufgemacht haben, weil ihnen sonst, wie den Winterreisenden, eine Schneekatastrophe droht. Wollen die Gefährdeten, Vögel wie Menschen, ihr zuvorkommen, dann müssen sie andere Wege gehen. Aber können sie das? Wollen sie das überhaupt? Wäre das denn noch ein Singen zu nennen, geschweige denn die Musik eines Schwarms, wenn aus den Tönen der Krähen erst ihr Krächzen wird, das sie den Raben abgehört haben, dann aber jenes unleidliche Schreien, das sie um eine Silbe apostrophiert und zum eigenwilligsten, kollektivsten, unsagbarsten aller Vogelgesänge ausgerufen haben? Mit dem Schreien der Krähen, für deren Schwarmroute es keine Milderung, geschweige denn Widerstand gibt, wird eine geflügelte Massenhysterie auf den Plan gerufen, deren ausfluchtloses Ende das Ende der Krähen wäre. Wenn die krächzenden Krähen so etwas wie die Eingreiftruppe unter den Vögeln sind, die selbst unter widrigsten Wetterbedingungen um ihre gefährdeten Lebensbedingungen kämpft – als Einheit von Einzelkämpfern, deren aggressive Attacken in Schwarmformation das Aas ihrer Vorgänger suchen –, dann ist auch auf den softeren Gebieten der Lyrik die Härte des natürlichen Lebens angesagt.
Diese so aggressiven wie subtilen Vögel führen den Kampf um das alltägliche Brot, gegen die aggressiven Attacken ihrer Nahrungs- und Überlebenskämpfe mit Entschiedenheit und List, aber auch so, dass ihr Leben auf den Feldern, am Rande der Städte, in den Kuppeln der Bäume manchmal ein mörderisches Fest zu werden droht. Jedenfalls die Durchschnittskrähe will es so. Sie folgt den Regeln und Impulsen ihres Durchschnittslebens, aus dessen kargen Resten sie sich nährt. Sie ist Aasfresserin, aber auch auf den Feldern zuhause, bevor sie sich in der Stunde der Gefahr stadtwärts bewegt. Sie ist ein außerordentlich kluges Tier. Aber sie hat auch in jedem Sinn Geschmack. Ganzjährig trägt sie ihr schwarzes Gefieder. Sie ist der Wintervogel schlechthin und wird sich ihre mühsam zusammengetragene Nahrung nicht ohne Weiteres nehmen lassen. Die Stadt als bergender gesellschaftlicher Schutzraum, die Natur als Raum der Gefahr, sind ihre zwiespältige Bleibe. Aber im schwirren Schwarm ihrer kollektiven, an den Gesetzen der Bionik orientierten ‚Schwarmintelligenzen‘ – wie es Nietzsches ehemaliger Freund Richard Wagner wohl alliteriert hätte – findet sich unter dem winterlichen Horizont sowohl ein meteorologisch wie prophetisch versiertes Tier. Nicht der vermeintliche Wetterbericht, vielmehr die Wettervorhersage ist ihre Destination. Und manchmal lässt sie sich sogar in ihrem krächzenden Übermut mit der – zugegebenermaßen berühmten – Hegel’schen Nachteule der Minerva ein, deren Sinn für Verspätungen universalgeschichtlicher Natur sie erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnen lässt, aber auch signalisiert, dass wieder einmal eine Gestalt des Lebens alt geworden ist. Doch bis zu deren Tod ist es noch eine kleine Weile.
Nietzsches im Frühherbst 1884 noch in Sils-Maria niedergeschriebene, aber erst zehn Jahre später und nicht mehr von ihm selber publizierte Gedicht, dessen Metapher vom schwirren Flug der Krähen die ‚Irre‘ seines Autors vorweggenommen hat, ist unter mehreren, insofern schon seit je pluralen Titeln überliefert. Unter dem – im Autograph an den Rand gedrängten – Gesamttitel: Der Freigeist, Untertitel: Abschied, Gegenuntertitel: Antwort, schließt das Gedicht an jene Konstellation an, die der sogenannte ‚mittlere Nietzsche‘ seit Menschliches, Allzumenschliches und der Morgenröthe mit der Rolle des „freien Geistes“ (KSA 3, S. 57), dem weiterhin gültigen Konzept der Aufklärung und zumal mit der Rolle Voltaires verbunden hat, dessen 100. Todestag 1878 zu feiern war. ‚Aufklärung‘ war aus der Voltaire-Perspektive das Medium von Zitaten, die aus Literaturen entstehen und wieder zu Literaturen werden, ein Fest der Intertextualität als aufgeklärter Promiskuität. Der deutsche Aufklärer Friedrich Nietzsche – darauf liegt der Akzent dieser Entente cordiale et rationale –, der nach der Auflösung seines Teufelspakts mit Richard Wagner als Zentralgestalt der atheistischen Moderne zu verstehen war, sagte dem Guru von Tribschen und Bayreuth streng und methodisch ab. Mit dem flammenden und flackernden Sinn aber wird es nun für alle Feingeister ernst. Der Beginn des Krähengedichtes, der es mit dem apostrophierten „schrei’n“ und dem ebenfalls apostrophierten „schnei’n“ (KSA 11, S. 329) zu einer gleichsam einsilbigen Sprachform gebracht hat, spricht nun von einer rabiaten, aber wenn es sein muss auch zugewandten, ja manchmal erstaunlich zärtlichen Winterwanderschaft. Angesichts der drohenden Schneekatastrophe schlagen die Menschen wie die Vögel unterschiedliche Rettungsrichtungen ein, die viele Wege offen lassen.
Was aber wollen die Krähen und wer sind sie überhaupt, wenn sie nicht den Rückzug aus der Gefahr in die Stadt wollen, während sich ein freierer Geist paradoxerweise, also nicht ohne ein gewisses Moment der Überraschung, in die Welt zurückgezogen hat und nun dort auf sein krächzendes Feinsliebchen wartet? Denn hier, in der Welt, ist es eine einzelne Krähe, die auf den vereinzelten, vereinsamten Unter-Wanderer wartet, auf den an dieser Stelle und in dieser Winterzeit wohl weder die Krähen noch die Menschen gerechnet haben. Und trotzdem wird ihnen die Gnade einer geteilten erotischen Begegnung zuteil. Was in dieser riskanten, aber auch faszinierenden Situation für die Krähen und den Freigeist angesichts der gefährdeten Heimat noch möglich war, waren die großartigen Bilder einer katastrophisch gefährdeten Welt. Die Lieder von Liebe und Schmerz, die der britische Liedersänger Ian Bostridge in seiner Vertonung der Schubert’schen Winterreise, dem solitären Meisterwerk deutschsprachiger Liederkunst, annonciert (vgl. Bostridge 2015), geben auch Nietzsches musikalischen Literaturen einen ganz eigenen Klang. Sie folgen dem Schwirren der Krähen zwischen der Stadt als letztem Asyl und Winterlandschaften, die zu solchen des Todes werden, wenn der Winterwanderer am Ende seine Reise in ihnen beschließt. Sie buchstabieren das Weh, das die Lieder – nicht von Liebe und Schmerz, wie es Bostridges moderate Lesart will, sondern von Liebe und Tod – vergegenwärtigen.
Auch Nietzsches Winterreise ist ein Weg in die Irre und den Tod. Die finalen Zeilen, auf die sein Krähen-Gedicht zuläuft, und das suizidale Ende ohne Wiederkehr, dem Schuberts Lied mit noch radikalerer Konsequenz zustrebt, leben von der tödlichen Ausweglosigkeit einer Straße, die „noch keiner ging zurück“ (Schubert 1979, S. 181). Es ist die unvollendete Trias von Musik, Liebe und Tod, der Nietzsches Winterreise in Schuberts Spuren folgt. Die Tödlichkeit des Todes zeigt sich als die Unumkehrbarkeit eines Wegs.
Wenn die Krähen aber so etwas wie das Proletariat unter den Vögeln sind, allenfalls von einem ...