Vom Geist des Besonderen â Zur Kritik der Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaft
Abstract
In a particular mood. A critical reexamination of the distinction between natural sciences and the âGeisteswissenschaftenâ. The paper argues that the Diltheyan distinction between the so called âGeistes-â and âNaturwissenschaftenâ is flawed by the attempt to oppose an understanding of historical singularity viz. an explanation of timeless generality. By means of mereological and set theory-arguments, it develops an alternative distinction between thematic and aspectual types of scientific reasoning. This distinction is neither dependent on the investigated material nor on the procedure of investigation but on the â mostly tacit â decision to focus either on existing entities or on general qualities. A critical analysis of classical theories that distinguish two realms of science (Windelband, Rickert, Dilthey, Weber) and the reconsideration of some analytical arguments concerning understanding and explanation (including Quine, Davidson, Dennett) serve to highlight apparently hidden similarities between the âtwo culturesâ (science and scholarship). So, our task should not consist in attributing âx is scienceâ or rather âx is not scienceâ but to show the congruity of their respective argumentative types (description, causation, intention, function, etc.) in order to improve and generalize them for the sake of a comprehensive theory of science.
Von einer engen oder gar innigen Beziehung zwischen Wissenschaftstheorie und meiner eigenen Disziplin, der Philologie, kann nicht die Rede sein. GrĂŒnde fĂŒr das gegenseitige Desinteresse mag es viele geben, darunter auch gĂ€ngige. So insistieren Philologen und Philologinnen gerne auf der UnizitĂ€t ihrer Unikate, die einen verallgemeinernden Zugriff auf ihre GegenstĂ€nde verunmögliche. Und dort â wie bei den Sprachwissenschaften â, wo fĂŒr Erkundungsreisende in Sachen Regeln oder gar Gesetze mehr Land in Sicht zu rĂŒcken scheint, sorge der Mensch, das unzuverlĂ€ssigste unter den belebten Wesen, als willkĂŒrlicher Sprachproduzent, -nutzer und -adressat so tĂŒchtig fĂŒr Gegenwind, dass eine den Naturwissenschaften vergleichbare Gewissheit nicht zu erreichen sei. Diese und Ă€hnliche Ansichten haben ihre Geschichte, ihre denkwĂŒrdigen Debatten und ihre klassischen Formulierungen. Die meisten betreffen nicht die Philologie, die Geschichte, die Kunst- und Kulturwissenschaften im Einzelnen, sondern ein mutmaĂliches Gesamt, die so genannte(n) Geisteswissenschaft(en), indes scheinen diejenigen Disziplinen, die Kunst ins Auge fassen, am stĂ€rksten betroffen.
Die Beurteilung der Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher Forschung ist eine kritische Aufgabe und alles andere als ein unlauterer Angriff, der gezielt den Geisteswissenschaften gĂ€lte. Sie entspringt der selbstverstĂ€ndlichen Zielsetzung einer allgemeinen Wissenschaftstheorie, nĂ€mlich zu bestimmen, was denn Wissenschaft sei. Und sie betrifft alle Disziplinen, die AnsprĂŒche auf Wissenschaftlichkeit anmelden, wenn vielleicht auch in unterschiedlichem MaĂe und auf unterschiedliche Weise. In dem ungebremsten klassifikatorischen Usus der lĂ€ngst ĂŒberwunden geglaubten Vorstellung von Geisteswissenschaft nisten zĂ€he und hartnĂ€ckige Erwartungen, die dem habitualisierten Unterscheiden oder Unterscheiden-Wollen mehr verdanken, als ein unvoreingenommener Blick auf die breite Palette wissenschaftlicher Praxis zu erkennen gĂ€be. Im Folgenden soll es nicht um Philologie, nicht um Literatur- oder Sprachwissenschaft und auch nicht um Geschichte gehen, sondern einzig um den Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaft. Es wird versucht, Ăhnlichkeiten und Unterschiede hinsichtlich des WissenschaftsverstĂ€ndnisses empirischer Forschung auszumachen, um schlieĂlich die Frage aller Fragen, nĂ€mlich diejenige nach der Wissenschaftlichkeit zu stellen. Dabei wird wie folgt verfahren: Es wird 1) ausgehend von einer gemeinverstĂ€ndlichen Grundannahme eine alternative Einteilung der Wissenschaften versucht, 2) eine Reihe von Dichotomien analysiert, die im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaft eine Rolle spielen, 3) die Unterscheidung von Geisteswissenschaft (bzw. Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaft) und Naturwissenschaft, wie sie sich um die Jahrhundertwende etabliert hat, auf ihre BegrĂŒndungen hin untersucht, 4) der Unterschied von ErklĂ€ren und Verstehen in neueren AnsĂ€tzen der analytischen Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes dargestellt, um schlieĂlich 5) die Empfehlung auszusprechen, sich bis auf Weiteres und auf möglichst lange nicht nur von den Namen, sondern auch von den damit verbundenen Erwartungen zu verabschieden.
1 Einheit und Einheitlichkeit
Wissenschaften nach Gegenstand, Methode und Funktion zu klassifizieren, ist gelĂ€ufig.1 In einem frĂŒheren Beitrag habe ich vorgeschlagen, das VerhĂ€ltnis von Gegenstand und Methode anhand der Begriffe âThemaâ und âAspektâ etwas anders zu fassen, als dies zu geschehen pflegt.2 Anlass der Ăberlegungen, die zu einer Unterscheidung von âThemaâ und âAspektâ gefĂŒhrt haben, waren nicht die Geisteswissenschaften, sondern das problematische VerhĂ€ltnis von Philologie und Kulturwissenschaft. Die damalige einleitende Begriffsanalyse, die hier rekapituliert, erweitert und modifiziert werden soll, dĂŒrfte jedoch auch im vorliegenden Kontext förderlich sein, da die Rede von den Geisteswissenschaften eine Vorstellung von der Geisteswissenschaft vorauszusetzen scheint.
Der akademische Alltag mit seinem FĂ€cherkanon, seinen Berufsbezeichnungen, seinen Instituten und Institutionen, seinen Förder- und Schwerpunktbereichen usf. hat eine Taxonomie generiert, deren Differenzierungen sich alles andere als deduktiv erschlieĂen. Wenn wir ĂŒber die Definition von Disziplinen und FĂ€chern brĂŒten oder streiten, so brĂŒten und streiten wir hĂ€ufig ĂŒber ganz unterschiedliche Dinge, die zu vergleichen recht schwerfĂ€llt, oder zumindest schwerfallen sollte. Unbestritten sind die Namen der einzelnen Wissenschaften mit Traditionen verbunden, die mehr oder minder weit zurĂŒckreichen. Tradition aber konstituiert naturgemÀà keine stabile Einheit, ist Geschichte doch Geschichte, weil sie VerĂ€nderungen kennt. NatĂŒrlich weiĂ die Geschichtsschreibung einer Wissenschaft oft um die GrĂŒnde fĂŒr VerĂ€nderungen ihrer autoreferentiellen Lexik, doch dĂŒrften diese GrĂŒnde wohl eher selten auf rein systematische Ăberlegungen zurĂŒckgehen.
Die Debatte um die PrioritĂ€t internalistischer oder externalistischer ErklĂ€rungen beim Betreiben von Wissenschaftsgeschichte mag deshalb nicht nur in Bezug auf die jeweiligen Theorien, sondern auch auf die Genese und Evolution der jeweiligen Wissenschaft gefĂŒhrt werden. Doch auch wenn wir einrĂ€umen oder einrĂ€umten, dass neologe Wissenschaftsbegriffe, Neugruppierungen und Binnendifferenzierungen mehrheitlich eher zufĂ€lligen AnlĂ€ssen denn systematischer Planung geschuldet sind oder wĂ€ren, so bleiben diese AnlĂ€sse doch GrĂŒnde. Disziplinen etablierten und etablieren sich nicht ohne einen beachtlichen argumentativen Aufwand. Worauf nun berufen sich Geburtsurkunden und Taufakte, die eine Wissenschaft als Einheit konstatieren, wenn nicht gar konstituieren? Mit Blick auf die Selbstdarstellung bestehender sowie die BegrĂŒndung neuer Wissenschaften können zwei wiederkehrende Argumentationsfiguren unterschieden werden: Entweder wird auf die Einheit des Untersuchungsgegenstandes verwiesen oder aber auf die Einheitlichkeit der Einstellung. Wissenschaften, deren SelbstverstĂ€ndnis auf einer inhaltlichen Bestimmung beruht, sollen âthematischâ heiĂen, Wissenschaften, die sich auf einen Gesichtspunkt berufen, âaspektuellâ.
Mein Ausgangspunkt liegt in alltĂ€glichen Wendungen wie âdies ist mein Gegenstandâ oder âaus Sicht der Neurobiologie erscheintâ. Die Wahl der Begriffe âThemaâ und âAspektâ liegt zum einen in der GelĂ€ufigkeit dieser und Ă€hnlicher Wendungen in unserer wissenschaftlichen Praxis begrĂŒndet, mag diese in gewissen FĂ€llen auch noch so unreflektiert sein. Die Notwendigkeit aber, unser Handeln zumindest zu benennen, Ă€uĂert sich geradezu symptomatisch in der Malaise, die uns ankommt, sobald wir uns in der Pflicht sehen, das eigene wissenschaftliche Tun als eigenes zu begrĂŒnden. Wir alle kennen die Bezeichnungsnot, die einem bei der Verwendung von AusdrĂŒcken wie âThemaâ oder âAspektâ einholt, insbesondere wenn wir uns anschicken, diese mit AusdrĂŒcken wie âEbeneâ, âDimensionâ, âBereichâ, âSphĂ€reâ, âFeldâ, âMethodeâ, âDiskursâ, âDispositivâ u. a. m. zu verbinden; vor lauter Bezeichnen-Wollen von Bereichen, Teilen und Elementen, von Absichten, Vorgehensweisen, Instrumentarien und Gesichtspunkten sowie schlieĂlich von ZusammenhĂ€ngen, Strukturen und den so beliebten Interaktionen verlieren wir uns gerne in eine Begrifflichkeit, die zu durchschauen und widerspruchsfrei zu kombinieren oft mehr Aufwand zu bescheren scheint als das Forschungsvorhaben selbst.
Das Begriffspaar âThema/Aspektâ nun scheint mir den Chiasmus gut wiederzugeben, der bei der Bildung von Einheitsvorstellungen vorausgesetzt wird: Thematische Wissenschaften setzen die Existenz eines Gegenstandes voraus, den es zu erforschen gilt, wĂ€hrend aspektuelle Wissenschaften sich auf eine vorgĂ€ngige Einstellung berufen, aus welcher heraus GegenstĂ€nde erfors...