1.1 Einleitung
Diario de un narcotraficante (1967), Coca. Novela (1970), Coca. Novela de la mafia criolla (1977), Narcotráfico, S.A. (1977). 1 Die Geschichte der Narkoprosa beginnt mit diesen Pionierromanen in einer Zeit, in der der Drogenhandel für die Mehrheitsgesellschaften Lateinamerikas noch unbekannt war. Zwei mexikanische, zwei kolumbianische und ein uruguayischer Schriftsteller leiten diese neue literarische Strömung mit Werken ein, die die Droge Kokain (coca), den Drogenhandel (narcotráfico) bzw. die Drogenhändler (narcotraficante) im Titel tragen und ihrer Leserschaft versprechen, Einblicke in den Untergrund der organisierten Drogenkriminalität zu verschaffen. Es handelt sich um Romanveröffentlichungen, die von kleinen regionalen Verlagen nur in erster Auflage publiziert wurden. 2 2013 zählen hierzu weit über 166 Titel, darunter Erfolgsromane wie La virgen de los sicarios, Rosario Tijeras und Delirio. Der narco sowie der narcotráfico sind längst über die Grenzen Lateinamerikas hinaus bekannt, 3 ja fast zu einem Emblem für Länder wie Mexiko und Kolumbien geworden. Viele Romane über den Drogenhandel wurden in hoher Auflage von großen Verlagshäusern veröffentlicht, einige zu Fernsehserien adaptiert.
Die Erfolgsgeschichte der Narkoprosa und ihrer multimedialen Adaptationen ist untrennbar mit der Historie des Drogenhandels in Lateinamerika und weltweit verbunden. Es handelt sich um eine Geschichte, die vom internationalen Drogenverbotsregime und damit einhergehender politischer, geostrategischer und moralischer Interessen, insbesondere den USA, geprägt wurde.
Nicht zufälligerweise fallen insoweit die ersten Veröffentlichungen der Narkoprosa mit der offiziellen Deklaration des war on drugs durch den US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon 1971 im Weißen Haus zusammen: «America’s public enemy number one in the United States is drug abuse. In order to fight and defeat this enemy, it is necessary to wage a new, all-out offensive.» 4 Seit dieser Kriegserklärung wurde der Drogenhandel verschärft zu einem weltweit geächteten Politikum und einem zentralen Konfliktherd der westlichen Hemisphäre. Im Besonderen gilt dies für Lateinamerika, wo ein Jahrzehnte andauernder Drogenkrieg bis in die Gegenwart hinein tiefe Spuren hinterlassen hat und in die Verfasstheit sämtlicher Gesellschaftsschichten eingreift. Ausgelöst werden dadurch mitunter sehr widersprüchliche Entwicklungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Das schließt deren künstlerische Ausdrucksformen ein, die von konkreten Erfahrungen aus dem Krieg und dessen Einfluss auf die menschliche Vorstellungswelt erzählen sowie kritische Gegendiskurse zum war on drugs begründen.
Den literarischen Veröffentlichungen auf diesem Feld geht die vorliegende Arbeit nach, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Verhältnisse in Mexiko und Kolumbien legt und für die wir hier die Bezeichnung Narkoprosa prägen. Wir haben es mit einer innovativen literarischen Strömung zu tun, die ganz unterschiedliche literarische Formate und mindestens zwei Subströmungen hervorgebracht hat. 5
Ein großer Anteil der Werke zeigt eine besondere Hinwendung zu faktual orientierten Erzählformaten im Gefolge der zeitgenössischen Tradition sogenannter Erfahrungs- und Zeugnisliteratur, einschließlich neuerer Ausprägungen der lateinamerikanischen Chronik. Viele der hier als «faktual orientierte Narkoprosa» bezeichneten Werke knüpfen daran an, entwickeln deren Erzählweisen weiter und lassen eine eigene Prägung erkennen, die wesentlich in der «ethnographischen» und «aufklärerisch-investigativen» Zielrichtung dieser Narrative begründet liegt. Sie übernehmen insoweit aufklärerische und ethische Funktionen, indem sie auf der Basis empirischer Erfahrungsbefunde mit der Welt des Drogenhandels und damit einhergehender Phänomene der Gewalt eine narrative Annäherung an diese Lebenswelt ermöglichen, die den traditionellen Medien in Lateinamerika verwehrt ist.
Von der faktual orientierten Narkoprosa sind die stärker fiktional geprägten Werke zu unterscheiden, deren literarische Imaginarien in zuweilen radikaler Weise mit der Normalität und Normativität lateinamerikanischer Mehrheitsgesellschaften, allen voran bestimmter Tabus in den Bereichen von Gewalt, Rausch und Sexualität brechen. Sie schaffen fiktive Kunstwelten, die ihre Leser in unterschiedlicher Hinsicht an die Grenzen der gewöhnlichen Wahrnehmung dieser Phänomene bringen sowie im stummen Wissen vorherrschende Vorstellungen von Identität und Individualität durchbrechen.
Viele dieser Werke treten überdies in einen kritischen Dialog zu der Drogenproblematik in Lateinamerika, indem sie in unterschiedlicher Weise auf die Paradoxien und Außerordentlichkeiten reagieren, die das Phänomen der Droge und des Drogenhandels und damit einhergehende Gewaltszenarien in Lateinamerika prägen. Davon soll einleitend die Rede sein.
Die illegale Drogenökonomie (Produktion und Handel) ist in vielen Regionen Lateinamerikas seit den 1960er Jahren ein zentraler Wirtschaftszweig, gegen den die US-amerikanische Strategie des war on drugs und Eindämmungsversuche nationaler Regierungen in Lateinamerika bislang erfolglos vorgingen. Gleichzeitig bestehen komplexe, mitunter transnationale Verstrickungen zwischen der organisierten Kriminalität und den politischen und ökonomischen Eliten Lateinamerikas, der USA und weltweit, die widersprüchliche Macht- und Gewaltverhältnisse geschaffen haben. Die Kartelle gebärden sich gebietsweise als «die Fäden ziehenden Schattenregierungen» 6 und üben zusammen mit korrupten Eliten «souveräne Funktionen» 7 aus, indem sie Gesetze und Regeln setzen, andere außer Kraft setzen und über den Ausnahmezustand vieler Regionen entscheiden. Laut einer immer noch aktuellen Schätzung des mexikanischen Senats aus dem Jahr 2010 kontrollieren kriminelle Organisationen in Verbindung mit korrupten Regierungsbeamten über 70 % des mexikanischen Staatsgebietes. 8
Der Staat kommt hier nicht nur nicht seinen grundlegenden Primärpflichten eines modernen Staatswesens nach, nämlich für Sicherheit und Ordnung zu sorgen und den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger zu gewährleisten. Vielmehr wird der Staat in den hier betroffenen Ländern Lateinamerikas spätestens seit den 1980er Jahren aufgrund einer institutionalisierten Praxis von Korruption, Drogenhandel und Vetternwirtschaft oft selbst Komplize an der verübten Gewalt und damit Teilnehmer am organisierten Rauschgiftgeschäft und anderer illegaler Praktiken. Der mexikanische Journalist und Romanautor Sergio González Rodríguez spricht von einem «Oszillieren» zwischen legalem und illegalem Handeln der mexikanischen Regierung, die in einer Art Grauzone manövriere, welche er mit den Begriffen desgobierno (Nicht-Regierung) und paralegalidad (Paralegalität) umschreibt. Diese Begriffe charakterisieren im Mexiko des 21. Jahrhunderts Elemente einer «falschen Demokratie», die faktisch den Drogenhandel zu einem konstitutiven Teil des politischen Systems hat werden lassen. 9
Gleichzeitig und parallel dazu wird der ehemals im Untergrund operierende narco spätestens seit den 1970er Jahren als eine eigene Subkultur und Lebensform erkennbar. Darauf deuten bestimmte, öffentlich sichtbare Merkmale und Erscheinungsformen wie ein besonderer Kleidungsstil, bestimmte Prestigeobjekte oder eine besondere Architektur, welche in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff der narcocultura zusammengefasst werden. 10 Dazu gehören ein opulenter, prunkvoller Lebensstil, eine offensive Zurschaustellung von Reichtum und ferner ein martialisches, nicht selten archaisch anmutendes Exponieren von Gewalt. Narcoculturas sind spätestens seit den 1990er Jahren ein transnationales, vorwiegend lateinamerikanisches Phänomen mit einer Vielzahl lokaler und regionaler Eigenheiten. Sie sind nur das auffälligste Symptom einer zunehmenden Durchdringung lateinamerikanischer Gesellschaften durch den Drogenhandel.
Sichtbar wird dies etwa im nordmexikanischen Bundesstaat Sinaloa. Die Ausbreitung des Drogenhandels erfasste hier spätestens seit den 1970er Jahren unterschiedliche Gesellschaftsschichten und entwickelte sich zunehmend zu einem Konzept legitimen Wirtschaftens, welches auf vielfältige Weise die politischen Strukturen der Region beeinflusste und selbst prägend auf die Herausbildung einer regionalen Identität einwirkte. Davon zeugt nicht zuletzt der seitdem antonomasisch gebrauchte Ausdruck gomero (Kautschukbaum/-händler), 11 der nicht nur «Opiumhändler/Mohnbauer» bedeutet, sondern auch zur Bezeichnung der Bürger dieses Staates dient. 12
Insoweit ist der Drogenhandel in verschiedener Hinsicht nicht mehr aus der Realität vieler Regionen Lateinamerikas wegzudenken. Es bestehen komplexe Verstrickungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und dem Drogenmilieu in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Zusammengenommen handelt es sich um sehr heterogene und höchst konfliktträchtige Phänomene der realen und imaginären Wirklichkeit, welche die einschlägigen literarischen Veröffentlichungen zu dieser Thematik in unterschiedlicher Weise aufnehmen, nachzeichnen, konterkarieren oder zum Ausgangspunkt neuer Fiktionen machen, wie die Befunde dieser Arbeit zeigen.
Ihr Untersuchungsgegenstand ist ein 166 Buchtitel zählender Primärkorpus von spanischsprachigen Prosawerken verschiedener Länder Lateinamerikas, welche in der Forschung mit Begriffen wie narconarrativa (narconarratives), narcoficciones (narcofictions), narcoliteratura (narcoliterature), literatura del narco oder narcoepics näher gekennzeichnet werden. Das heterogene Begriffsspektrum zur Einordnung dieser Werke spiegelt die Vielfalt der Narkoprosa – als dem hier eingeführten Sammelbegriff – wider, nicht anders als die daraus folgenden Fragen nach der Definition, Einordnung, Interpretation und Bewertung in der Literaturwissenschaft.
Bislang hat sich weder eine einheitliche Bezeichnung, noch eine Definition, geschweige denn ein Kanon durchgesetzt, der vorgeben würde, welche die dominanten narrativen und sonstigen symbolischen Ausdrucksformen sind, die mit diesen Begriffen umschrieben wer...