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Der Tod der Natur
Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. Mit einer Einführung von Christine Bauhardt
- 368 Seiten
- German
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- Über iOS und Android verfügbar
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Der Tod der Natur
Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. Mit einer Einführung von Christine Bauhardt
Über dieses Buch
Über Jahrtausende galt die Natur als etwas Organisches, Heiliges. Nach naturwissenschaftlicher Revolution und Aufklärung aber begriff sie der Mensch nur noch als eine Produktions- und Reproduktionsmaschine, die ihm zu dienen habe – vor allem jedoch dem Mann. Denn mit der Abwertung der Natur ging die Abwertung der Frau als naturverhaftet und irrational einher.
Carolyn Merchant zeigt in ihrem bahnbrechenden Werk, wie sich dieses Weltbild durchsetzte, nimmt aber auch Gegenbewegungen in den Blick, die uns bei der Suche nach einer neuen Ethik der Partnerschaft zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur helfen können. Ein Meilenstein für Ökofeminismus und Wissenschaftsgeschichte.
Die Bibliothek der Nachhaltigkeit präsentiert Autorinnen und Autoren, die als Pioniere und Vordenkerinnen ihrer Zeit voraus waren und ungewöhnliche Wege des Denkens eröffnet haben. Ihre Texte liefern auch heute noch wichtige Impulse für die Diskussion und Praxis der Nachhaltigkeit, Transformation und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
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Information
Der Tod der Natur
Einleitung
Frauen und Ökologie
Seit jeher besteht eine Beziehung zwischen den Frauen und der Natur – ein Zusammenhang, der quer durch jede menschliche Kultur, Sprache und Geschichte nachzuweisen ist. Diese Verflechtung wird heute durch das Nebeneinander von zwei neuen gesellschaftlichen Bewegungen unterstrichen: der Frauenbefreiung, symbolisiert durch Betty Friedans Buch »Der Weiblichkeitswahn« (1963), und der Ökologiebewegung, die während der 1960er-Jahre entstand und am »Tag der Erde« (Earth Day) 1970 überall in den USA Beachtung fand. Beiden Bewegungen gemeinsam ist ihre egalitäre Ausrichtung.
Die Frauen ringen um Befreiung von den kulturellen und wirtschaftlichen Fesseln, die die Männer ihnen angelegt haben. Die Umweltschützer, die uns vor den nicht wiedergutzumachenden Folgen einer fortgesetzten Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen warnen, entwickeln eine ökologische Ethik, die das Aufeinanderangewiesensein von Mensch und Natur hervorhebt. Ein Vergleich zwischen den Zielen dieser beiden Bewegungen, die fast gleichzeitig entstanden sind, lässt neue Wertvorstellungen und gesellschaftliche Strukturen erkennen, die nicht mehr auf der Ausbeutung der Frau und der Natur beruhen, sondern auf der uneingeschränkten Entfaltung männlicher wie weiblicher Anlagen und auf der Bewahrung einer unversehrten Umwelt.
Neue gesellschaftliche Probleme führen zu neuen geistigen und historischen Fragestellungen. Umgekehrt lässt die neuartige Interpretation der Vergangenheit die Gegenwart in neuer Beleuchtung erscheinen und verleiht Kraft zur Veränderung. Mit unserem heutigen feministischen und ökologischen Bewusstsein können wir versuchen, jene historischen Wechselbeziehungen zwischen Frau und Natur zu ergründen, die mit dem Aufgang der modernen wissenschaftlichen und ökonomischen Welt im 16. und 17. Jahrhundert entstanden. Damals vollzog sich jene Transformation, die die heutigen Wertvorstellungen und Wahrnehmungen geprägt hat und noch immer durchdringt.
Feministische Geschichtsschreibung im weitesten Sinne fordert von uns, Geschichte mit egalitären Augen zu betrachten und neu zu sehen – nicht nur vom Standpunkt der Frau aus, sondern auch aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher und rassischer Untergruppen und unserer natürlichen Umwelt. Die Frauen und die Natur sind Ressourcen, die die westliche Kultur und ihren Fortschritt ermöglicht haben, als eine solche Basis der Entwicklung aber bisher übersehen worden sind. Geschichte aus feministischer Perspektive schreiben heißt, sie vom Kopf auf die Füße stellen – die gesellschaftliche Struktur von unten her betrachten und gängige Wertvorstellungen umkehren. Eine egalitäre Perspektive gibt Frauen wie Männern ihren Platz in der Geschichte und umreißt ihre Ideenwelt und ihre Rollen. Besonders für die ideologischen Konsequenzen von Geschlechtsunterschieden und sexistischer Sprache in einer Kultur wird die neue Geschichtsschreibung hellhörig sein.
Durch die alte Gleichsetzung der Natur mit einer Nahrung spendenden Mutter berührt sich die Geschichte der Frauen mit der Geschichte der Umwelt und des ökologischen Wandels. Die weibliche Erde bildet den Mittelpunkt jener organischen Kosmologie, die im frühneuzeitlichen Europa der wissenschaftlichen Revolution und dem Aufstieg einer marktorientierten Kultur zum Opfer gefallen ist. Die Ökologiebewegung hat wieder das Interesse an jenen Wertvorstellungen und Begriffen geweckt, die historisch mit der vormodernen, organischen Welt verknüpft sind. Das ökologische Modell und die damit verbundene Ethik ermöglichen eine neuartige Deutung der modernen Naturwissenschaft zu jenem kritischen Zeitpunkt, als man unseren Kosmos nicht länger als Organismus betrachtete, sondern aus ihm eine Maschine machte.
Die Frauenbewegung wie die Ökologiebewegung protestieren mit aller Schärfe gegen die Kosten, die uns aus dem Konkurrenzprinzip, dem Aggressions- und Dominanzstreben des marktwirtschaftlichen Operierens in Natur und Gesellschaft erwachsen. Die Ökologie ist eine subversive Wissenschaft; sie übt Kritik an den Folgen jenes unkontrollierten Wachstums, das mit Kapitalismus, Technologie und Fortschritt verbunden ist – Konzepte, die in den letzten zweihundert Jahren in der westlichen Kultur in höchstem Ansehen standen. Was der Ökologiebewegung vorschwebt, ist die Wiederherstellung des durch Industrialisierung und Übervölkerung gestörten Gleichgewichts der Natur. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, im Einklang mit den Zyklen der Natur zu leben und Abschied zu nehmen von der ausbeuterischen, linearen Mentalität einer stur nach vorne blickenden Fortschrittsgläubigkeit. Sie lenkt unser Augenmerk auf die Kosten des Fortschritts, die Grenzen des Wachstums, die Defizite technologischen Entscheidungshandelns und die Dringlichkeit der Bewahrung und Wiederverwendung unserer natürlichen Ressourcen. In ähnlicher Weise enthüllt die Frauenbewegung den Preis, den wir alle zu zahlen haben für den Konkurrenzdruck am Markt, den Verlust einer sinnvollen produktiven Wirtschaftstätigkeit der Frau in der frühkapitalistischen Gesellschaft und die Auffassung, dass die Frau, wie die Natur, psychologisches Naherholungsgebiet für den vom Beruf gestressten Ehemann ist.
Es ist nicht die Absicht dieser Untersuchung, die Natur wieder in die Rolle der Mutter der Menschheit einzusetzen oder dafür einzutreten, dass die Frauen wieder die ihnen zudiktierte Rolle der Nährerin spielen. Frauen und Umwelt müssen von den anthropomorphen und stereotypen Etiketten befreit werden, die von den ernsthaften, tieferen Problemen ablenken. Der Meteorologe vom Wetteramt, der uns verrät, was Mutter Natur am Wochenende für uns bereithält, und ein Rechtssystem, das die weibliche Sexualität zum Eigentum des Mannes macht: beides dient der Perpetuierung eines Systems, das die Natur wie die Frauen unterdrückt. Ich behaupte auch nicht das Vorhandensein spezifisch weiblicher Wahrnehmungs- oder Empfindungsweisen. Meine Absicht ist vielmehr, die Wertvorstellungen zu prüfen, die im Zusammenhang mit der Entstehung unserer modernen Welt mit dem Bild von der Frau beziehungsweise von der Natur verbunden waren.
Wenn wir den Wurzeln des gegenwärtigen Umweltdilemmas und seinen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Hintergründen nachgehen, müssen wir die Herausbildung einer Weltanschauung und Wissenschaft prüfen, die die Wirklichkeit nicht mehr als lebendigen Organismus, sondern als Maschine auffasste und dadurch die Herrschaft über die Natur wie über die Frauen legitimierte. Es kommt darauf an, die Leistung solcher Gründer-»Väter« der modernen Naturwissenschaft wie Francis Bacon, William Harvey, René Descartes, Thomas Hobbes und Isaac Newton neu zu hinterfragen. Kritisch zu würdigen ist, welches Schicksal anderen Entscheidungsmöglichkeiten, alternativen Philosophien und solchen gesellschaftlichen Gruppen beschieden war, die an der organischen Weltanschauung festhielten und sich der zunehmenden Ausbeutungsmentalität versagten. Um verstehen zu können, warum dieser Weg und nicht ein anderer eingeschlagen worden ist, bedarf es eines umfassenden Überblicks über das natürliche und kulturelle Umfeld der westlichen Gesellschaft an diesem historischen Wendepunkt. Das vorliegende Buch entwirft eine ökologische Perspektive, die jene Entwicklungen aufzuhellen sucht, deren Resultat der Tod der Natur als eines belebten Wesens und die Beschleunigung der Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen im Namen von Kultur und Fortschritt gewesen sind.
Die zentrale Themenstellung des Buches entspringt den Sorgen der Gegenwart. Trotzdem ist die Darstellung nicht von heutigen Perspektiven diktiert. Diese helfen uns nur, Fragen zu formulieren und Aspekte der wissenschaftlichen Revolution aufzudecken, die uns andernfalls vielleicht entgangen wären und die für die Geschichte jener Epoche bedeutsam sind. In den einzelnen Naturwissenschaften des 16. und 17. Jahrhunderts vollzogen sich mancherlei Revolutionen, und ich unternehme nicht den Versuch, zu einer umfassenden Synthese zu gelangen. Aber in derselben Epoche, in der die viel gerühmte Kopernikanische Wende das Bild des Menschen von den Himmeln über ihm transformierte, veränderte eine subtilere, aber nicht weniger durchgreifende Wende seine Vorstellung von der Erde unter ihm – dem altehrwürdigen Mittelpunkt des organischen Kosmos.
Wenn ich im Folgenden den Prozess untersuche, in dessen Verlauf statt des »Organismus« die »Maschine« zur leitenden Metapher wurde, die Kosmos, Gesellschaft und Ich zu einer einheitlichen kulturellen Wirklichkeit – einer Weltanschauung – verschmolz, so lege ich weniger Gewicht darauf, den inneren Gehalt der Naturwissenschaften herauszuarbeiten, als vielmehr darauf, die an der Transformation beteiligten gesellschaftlichen und geistigen Faktoren sichtbar zu machen. Natürlich bestimmen solche veränderten äußeren Faktoren die Intellektuellen nicht dazu, bewusst eine Wissenschaft oder eine Metaphysik zu ersinnen, die dem neuen gesellschaftlichen Kontext entspräche. Vielmehr ist in jedem Zeitalter eine Vielzahl von Ideen verfügbar. Einige davon erscheinen – aus unausgesprochenen oder sogar unbewussten Gründen – einzelnen Menschen oder ganzen gesellschaftlichen Gruppen plausibel, andere hingegen nicht. Manche Ideen finden Verbreitung, andere gehen zeitweilig unter. Aber Richtung und kumulativer Effekt der gesellschaftlichen Veränderungen sorgen dafür, dass sich bestimmte Alternativen aus dem Spektrum des Möglichen herauskristallisieren, sodass gewisse Ideen in den Mittelpunkt rücken, während andere an den Rand gedrängt werden. Aus dieser besonderen Attraktivität der Ideen, die unter bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten am plausibelsten erscheinen, entwickeln sich allmählich kulturelle Transformationen. Ebenso wenig wird der spezifische Inhalt der Wissenschaft durch äußere Faktoren bestimmt. Stattdessen müssen gesellschaftliche Belange – wiederum bewusst oder unbewusst – dazu herhalten, ein bestimmtes Forschungsprogramm zu rechtfertigen oder einer sich entwickelnden Wissenschaft Aufgaben zu stellen. Kulturelle Normen und gesellschaftliche Ideologien bilden, zusammen mit religiösen und philosophischen Annahmen, eine weniger sichtbare, aber gleichwohl wichtige Komponente des begrifflichen Rahmenwerks, das die Wissenschaft bei der Untersuchung eines Problems zugrunde legt. In dialektischer Wechselwirkung entwickeln sich Wissenschaft und Kultur als ein organisches Ganzes, das sich aufgrund gesellschaftlicher und geistiger Spannungen und Tendenzen auflöst und wieder neu zusammensetzt.
Zwischen 1500 und 1700 begann die westliche Welt, Züge anzunehmen, die sie nach derzeit herrschender Vorstellung »modern« und »progressiv« gestalten sollten. Heute beginnen Ökologie- und Frauenbewegung, diese Wertvorstellungen zu hinterfragen. Indem wir die Geschichte aus dieser Perspektive neu überprüfen, können wir vielleicht beginnen, Wertvorstellungen zu finden, die auf die vormoderne Welt zurückweisen und die vielleicht, in veränderter Form, die Gesellschaft von heute und von morgen bereichern können.
Hinweis zur Terminologie
Das Wort »Natur« hatte in antiker und in frühmoderner Zeit eine ganze Reihe von miteinander zusammenhängenden Bedeutungen. Auf Einzelwesen bezogen, meinte es die Eigenschaften, inneren Merkmale und vitalen Kräfte von Personen, Tieren oder Dingen oder, allgemeiner, überhaupt die menschliche Natur. Es bedeutete auch den inneren Anstoß zum Sichregen und Wirken; umgekehrt bedeutete »gegen die Natur handeln«, diesen angeborenen Antrieb zu missachten. Auf die materielle Welt bezogen, meinte »Natur« ein dynamisches, schöpferisches und regulatives Prinzip als Ursache der Erscheinungen, ihres Wandels und ihrer Fortentwicklung. Gewöhnlich unterschied man zwischen natura naturans, Natur in schöpferischer Tätigkeit, und natura naturata, geschaffener Natur.
Den Gegensatz zur Natur bildeten Kunst (techné) und künstlich geschaffene Dinge. Wurde die Natur als Person gedacht, dann als weibliches Wesen, zum Beispiel als Dame Natur; sie war auch weise Frau, Kaiserin, Mutter und so weiter. Der Gang der Natur und die Naturgesetze waren die Aktualisierung ihrer Potenz. Der Naturzustand war der Zustand der Menschheit vor ihrer gesellschaftlichen Organisation und vor dem Stand der Gnade. Gegenstände der Natur dachte man sich bewohnt oder erfüllt von Naturgeistern, Naturgottheiten, jungfräulichen Nymphen und Elementargewalten.
In westlichen wie in nicht-westlichen Kulturen war die Natur von jeher weiblich. Im Lateinischen und in den romanischen Sprachen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas war »Natur« ein weibliches Substantiv und wurde daher, wie auch die Tugenden (Mäßigkeit, Klugheit und so weiter), durch eine Frau personifiziert. (Lateinisch natura, -ae; deutsch: die Natur; französisch: la nature; italienisch: la natura; spanisch: la natura.) Das griechische Wort physis war ebenfalls weiblich.
In der frühen Neuzeit bezog sich der Ausdruck »organisch« für gewöhnlich auf die körperlichen Organe und Strukturen und auf die Organisation von Lebewesen, während »Organizismus« eine Lehre bezeichnete, die die organische Struktur als Resultat einer inneren, adaptiven Eigenschaft der Materie auffasste. Doch wurde das Wort »organisch« manchmal auch für eine Maschine oder ein Gerät benutzt. So nannte man mitunter eine Uhr einen »organischen Körper«, während man von manchen Maschinen sagte, sie funktionierten »organisch« und nicht »mechanisch«, wenn sie zu ihrem Betrieb der Hand des Menschen bedurften.
Die Weiblichkeit der Natur
Die Welt, die wir verloren haben, war organisch. Seit den im Dunklen liegenden Ursprüngen der menschlichen Spezies haben Menschen, um ihr Auskommen zu finden, in täglichem, unmittelbarem, organischem Bezug zur natürlichen Ordnung gelebt. Um 1500 vollzog sich für die meisten Europäer wie für andere Völker der tägliche Verkehr mit der Natur noch immer im Rahmen enger, kooperativer, organischer Gemeinschaften. So ist es nicht verwunderlich, dass im 16. Jahrhundert die Europäer den Zusammenhang von Ich, Gesellschaft und Kosmos im Bild des Organismus sahen. Als Projektion der Art und Weise, wie die Menschen ihr tägliches Leben erfuhren, unterstrich die Organismustheorie die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Körperteile voneinander, die Unterordnung des einzelnen unter die gemeinschaftlichen Ziele in Familie, Gemeinschaft und Staat und endlich die Lebenskraft, die den ganzen Kosmos, bis hinab zum geringsten Stein, durchflutete.
Die Vorstellung von der Natur als einem lebendigen Organismus hatte philosophische Vorbilder in antiken Denksystemen, die in abgewandelter Form bis ins 16. Jahrhundert vorherrschend blieben. Die Organismusmetapher war jedoch ungemein flexibel und anpassungsfähig, je nachdem, welche ihrer verschiedenen Prämissen in den Vordergrund gerückt wurden. Es gab ein ganzes Spektrum von philosophischen und politischen Alternativen, die man alle unter der Rubrik »organisch« zusammenfassen konnte.
Die Natur als Nährerin:
Die leitende Metaphorik
Im Mittelpunkt der organischen Theorie stand die Gleichsetzung der Natur, zumal der Erde, mit einer nahrungspendenden Mutter. Sie war ein freundlich-wohltätiges weibliches Wesen, das in einem planvoll geordneten Universum für die Bedürfnisse der Menschheit sorgte. Aber noch ein anderes Bild der als weiblich gedachten Natur war weit verbreitet: die wilde, unbezähmbare Natur, die...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Impressum
- Bibliothek der Nachhaltigkeit
- Inhalt
- Einführung
- Der Tod der Natur
- Zu Leben und Werk