Improvisation ist die Kunst den Augenblick, den Moment anzunehmen und ihn zu genießen und, davon ausgehend, alles weitere zu gestalten.
Eine größere Bank beauftragte mich, den Change-Prozess im kommenden halben Jahr mit einigen verdienstvollen Mitarbeitern und Führungskräften für die Belegschaft in einer Kick-off-Veranstaltung im Unternehmen auf der Bühne sichtbar zu machen.
In diesem Zusammenhang fragten sie mich, ob es möglich wäre, zusätzlich die zweite Führungsebene zu coachen.
Es ging darum, sie zu unterstützen, die trockenen Texte und Charts über Fakten und Zahlen des Rechenschaftsberichtes etwas lockerer zu gestalten und der Belegschaft unterhaltsam zu präsentieren.
Es waren vier Führungskräfte und wir fanden einen Weg, wie wir die trockenen Themen zum Rechenschaftsbericht interaktiv gestalten konnten. Meine Ideen fanden großes Interesse.
Leider blieb uns sehr wenig Zeit, um die Übergänge zwischen den einzelnen Rednern nicht nur anzudeuten, sondern sie wirkungsvoll zu inszenieren.
Alle Beteiligten wussten, worum es ging. Bei dieser Veranstaltung sitzen wir alle im selben Boot, gerade weil wir auf der Bühne den Mitarbeitern und Führungskräften unsere Inhalte wirkungsvoll vermitteln wollen.
Den Termin dieser Kick-off-Veranstaltung konnten wir auch nicht verschieben, bloß, weil wir noch nicht alles in trockenen Tüchern hatten. Das war allen klar.
Da sagte einer der vier Herren der zweiten Führungsebene: »Gut, dann improvisieren wir eben!«
Das war das erste Mal, das ich den Begriff des Improvisierens positiv erfahren habe.
Im deutschen Sprachgebrauch ist dieser Begriff eher negativ besetzt. Wenn etwas nicht da ist, etwas fehlt, ein Mangel herrscht, dann wird improvisiert.
Was tun wir aber, wenn wir improvisieren?
Wir werden kreativ.
Wir nutzen das, was da ist, machen eine Bestandsaufnahme, sagen »Ja« zu dem, was ist.
Dabei entdecken wir unsere Ressourcen und nutzen sie. Aus dem vermeintlichen Mangel wird ein Pool an unentdeckten Möglichkeiten.
Das gilt auch im Privaten.
Stellen Sie sich vor, Sie wollen für Ihre Tochter oder Ihren Sohn einen Kuchen backen. Es gibt morgen in der Schule einen Kuchenbasar und die Kinder wollen damit ihre Klassenfahrt finanzieren. Sie als Eltern sind also gefragt.
Sie haben es versprochen, nicht nur ihrem Kind, auch den anderen Eltern und der Lehrerin.
Jetzt haben Sie auf Arbeit viel zu tun, Ihr Projekt erfordert Überstunden, Sie kommen erschöpft und später als erwartet nach Hause, bereiten das Abendbrot vor. Ihr Kind erinnert Sie, dass doch morgen Kuchenbasar ist und es unbedingt einen Kirschkuchen braucht.
»Oh, das habe ich fast vergessen.«
Und Ihr Kind sagt: »Mama oder auch Papa, du hast es mir versprochen.« Und es will schon enttäuscht in sein Zimmer gehen.
Sie sagen: »Warte! Kein Problem, was ich versprochen habe, das halte ich auch. Ja, morgen ist Kuchenbasar! Klar, das mache ich noch.«
Als Sie in den Schrank schauen, trifft Sie fast der Schlag.
Es ist kein Mehl mehr da und als Sie auf die Uhr schauen, stellen Sie fest, dass der letzte Laden gerade zugemacht hat.
Jetzt ist guter Rat teuer.
Was können Sie machen? Sie könnten bei den Nachbarn klingeln, aber es ist schon nach 20.00 Uhr. Außerdem haben Sie kein gutes Verhältnis zu ihnen und der Schrank ist ja nicht total leer.
Kirschen sind da, das Wichtigste ist also vorhanden und noch einige andere Dinge, wie Schlagsahne, Mandeln, Eier, etwas Milch. So lautet das Ergebnis der ersten Bestandsaufnahme.
Jetzt haben Sie die Gelegenheit etwas zu tun, was Sie noch nie gemacht haben.
Sie kreieren einen Kuchen ohne Mehl.
Wie soll das gehen?
Sie sagen: »Oh, da müssen wir wohl improvisieren.«
Ihr Kind entdeckt sofort das Abenteuer dabei.
Sie sagen: »Wenn wir die Mandeln mahlen, dann haben wir Pulver, das können wir wie Mehl verwenden.«
Sie erinnern sich an Pippi Langstrumpf, die sagte: »Oh, das habe ich noch nie gemacht, das wird sicher gut.«
Und diese kindliche Abenteuerlust ist schon in Ihnen erweckt.
Sie packen alles aus dem Schrank, was Sie finden.
Sie wollen gerade googeln »Backen ohne Mehl«.
Da sehen Sie ein Kinderbuch mit dem Titel Petterson und Findus vor sich liegen und schlagen es auf. In dieser Geschichte möchte Patterson für seinen Kater Findus eine Pfannkuchentorte backen. Auch Ihm fehlt das Mehl und das Abenteuer, wie er zu seinem Mehl kommt, beginnt.1
Sie müssen lächeln. Was für eine Inspiration!
Sahne ist im Kühlschrank, die Kirschen und Eier sind auch da.
Mit Freude backen Sie mit Ihrem Kind eine Pfannkuchen-Torte aus selbst gemahlenem Mandelmehl mit Sahne und Kirschen.
Ihr Kind ist glücklich, Sie sind glücklich.
Am nächsten Tag kommt Ihr Kind zu Ihnen und sagt, dass die Pfannkuchen-Torte der große Renner war.
Alle dachten dabei sofort an Petterson und Findus und im Nu war sie alle – die Torte.
Alle werden sich noch Jahre später daran erinnern.
Sie haben eine tolle Erfahrung gemacht, weil Sie die Situation ernst genommen haben, Sie haben nämlich »Ja« gesagt, zu dem, was ist und Sie haben nicht aufgegeben.
Was haben Sie da konkret gemacht?
Sie haben »Ja« gesagt zu der Situation, wie sie gerade ist.
Ja, Sie hatten kein Mehl.
Sie haben eine Bestandsaufnahme der Ressourcen gemacht.
Dabei haben Sie schon Querverbindungen geschaffen. Aus Mandeln kann man Mehl machen.
Der kreative Prozess hat bereits begonnen.
Er beginnt in dem Augenblick, als Sie »Ja« sagen zu der Situation wie sie ist. Wir Menschen sind kreativ und unser Gehirn baut sofort Vernetzungen auf. Möglichkeiten werden sichtbar, die es im nächsten Schritt zu prüfen gilt.
Hier herrscht auch das Prinzip von »trial and error«, Versuch und Fehler. Erstmal machen und sehen, wie es weitergehen kann.
Sie haben improvisiert, haben Möglichkeiten entdeckt und es ist etwas ungewollt Positives entstanden. Sie durften eine nachhaltige Erfahrung machen.
Sie sind durch die Umstände, dass kein Mehl da war, kreativ geworden. Sie haben nicht aufgegeben. Sie haben die Kraft des Augenblicks genutzt und das Beste daraus gemacht.
Sie wurden reich beschenkt.
Zurück zum Business:
Unsere vier Führungskräfte kannten sich, kannten die Situation im Unternehmen, wussten, was sie sagen wollten. Sie konnten sich also die Bälle gegenseitig zuspielen und sich gegenseitig unterstützen.
Der Rahmen war bereitet. Es war klar, wer wann drankommt und seinen Beitrag leistet.
Jeder war aufmerksam, führte sein Solo durch und bot Support für seine Mitspieler. Es ist das Konzept von Führen und Führen-lassen. Beides ist ein aktiver Prozess und erfordert Wachheit und den Blick auf das gemeinsame Ganze.
Jetzt passierte auch hier etwas Unvorhergesehenes.
Eine falsche PowerPoint-Folie erschien auf der Großbildleinwand.
Obwohl Herr Katschmarek jetzt dran gewesen wäre, erschien die zweite Folie von Herrn Müller (es handelt sich hier um fiktive Namen).
Herr Müller, aufmerksam, wie er war, übernahm den Part, verzichtete auf die erste Folie und leitete später mit klaren Sätzen, auch für den Techniker verständlich, zu Herrn Katschmareks Vortrag über. Herr Dietrich bemerkte, dass es nun günstig wäre, nach diesen Umständen ein paar positive Worte über das Sommerfest zu sagen, bis der Techniker, der ja gemerkt hatte, dass da was falsch lief, seine Folien und Dateien wieder ordnen konnte.
Anstatt den Techniker runterzumachen, ihn vor versammelter Belegschaft zu blamieren und ihn wahrscheinlich noch mehr zu verunsichern, improvisierten unsere Führungskräfte und nahmen die Situation als gegeben an und reagierten darauf angemessen.
Jeder übernahm Verantwortung für das große Ganze und tat sein Bestes, dass die Inhalte wirkungsvoll beim Adressaten ankamen.
Es gab kaum einen, der den Fehler bemerkte. Nachher sprachen alle von der tollen Präsentation, die diesmal sehr lebendig war.