1Einleitung
Wie lernte man im Spätmittelalter?1 Eine differenzierte Antwort bietet die Analyse von Schulhandschriften, bei denen der Zweck der überlieferten Texte mit ihrer tatsächlichen Nutzung verglichen wird. Materieller Ausgangspunkt für meine Arbeit ist ein Glücksfall der Überlieferung: zwei Schulhandschriften, die gleichzeitig diktiert wurden. Das sogenannte Engelhusvokabular oder auch vocabularius quadriidiomaticus ist ein mehrsprachiges Wörterbuch, das sich an fortgeschrittene Lateinschüler richtet. Der Verfasser, Dietrich Engelhus, ist als Chronist und Theologe bekannt, aber seine Schulschriften sind noch weitgehend unerforscht, darunter auch sein Vokabular.
Mit meiner Dissertation möchte ich ein neues, differenziertes Bild der spätmittelalterlichen Schulsituation, insbesondere des fortgeschrittenen Lateinunterrichts, entwerfen. Die Fallstudie Engelhus steht am Kreuzungspunkt von (Schul-)Metalexikographie, Paläographie, Kodikologie, Bildungsgeschichte und Digitaler Editorik und kann damit zu einer interdisziplinären Durchdringung spätmittelalterlicher Lexikographie2 führen.
Forschungsfrage
Im Zentrum des Interesses steht die Spannung zwischen dem Zweck des Wörterbuches und der tatsächlichen Nutzung. Der Zweck des Wörterbuches – respektive des jeweiligen Handschriftenexemplars – ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, bei welchen Problemen NutzerInnen es sinnvoll heranziehen können und auf welche Suchanfragen sie mithilfe der gegebenen Daten Antworten bekommen. Zwei Aspekte werden dabei im Verlauf der Arbeit immer wieder kritisch miteinander in Bezug gesetzt: (1) der explizite und (2) der implizite Zweck. Explizit meint, dass der Zweck des Wörterbuches ausdrücklich im Werk angekündigt ist, beispielsweise durch Angaben zu Methoden, Zielsetzung oder Zielgruppe im Prolog. Auf dieser Grundlage können fundierte Annahmen zu dem ursprünglich von Engelhus intendierten Zweck gemacht werden. Implizit meint hingegen, dass der Zweck rückschließend aus einer metalexikographischen Analyse des Aufbaus unter besonderer Berücksichtigung der Benutzerfreundlichkeit ermittelt wird. Dabei steht nicht der intendierte, sondern vielmehr der realistische Zweck im Mittelpunkt. Die Unterscheidung ist wichtig, um beurteilen zu können, ob das Wörterbuch „hält, was es verspricht“. Wenn sich zwischen den vom Autor im Werk angekündigten und den entweder im gesamten Werk oder in einzelnen Handschriften tatsächlich realisierten lexikographischen Services oder Eigenschaften merkliche Diskrepanzen ergeben, bedürfen diese einer Erklärung und Interpretation.
Die tatsächliche Nutzung der Handschriften schließlich wird anhand von Benutzungsspuren und einer Provenienzanalyse rekonstruiert und gibt Antworten auf die Fragen (1) ob, wie und von wem das Wörterbuch genutzt wurde und (2) welche Veränderungen von den NutzerInnen3 vorgenommen wurden, sprich, welche Kritik am Wörterbuchkonzept geübt wurde.
Die Forschungsfrage lautet also: Für welchen Zweck und welche Zielgruppe wurde das Engelhusvokabular konzipiert und wie, wofür und von wem wurde es tatsächlich benutzt?
1.1Forschungsüberblick
Wie lassen sich Konzept, Zielsetzung und Erfolg eines spätmittelalterlichen Wörterbuches angemessen erschließen? Der folgende Forschungsüberblick soll einen Einblick in die Genese des Themas dieser Arbeit geben und zeigen, auf welche Vorarbeiten aufgebaut werden konnte und welche Ansätze sich als weiterführend erwiesen haben.
Den ersten Anstoß gab die Ausstellung „Rosenkränze und Seelengärten – Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern“ an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Für den Katalog hat Kerstin Schnabel einen zweiseitigen Beitrag zum Engelhusvokabular erstellt (Schnabel 2013). Diesem verdanke ich es, dass ich auf die beiden Handschriften aufmerksam wurde und mich, fasziniert von der mutmaßlichen Entstehung im Diktat, entschied, das Engelhusvokabular ins Zentrum meiner Dissertation zu stellen. Der neue kultur- und buchhistorische Zugang, den die Ausstellung bot, inspirierte mich dazu, die metalexikographische Analyse in einen weiteren Kontext zu stellen. Der Forschungsüberblick spiegelt dieses interdisziplinäre Zusammenspiel wider und bringt Untersuchungen aus den Bereichen Bildungs- und Sozialgeschichte, Lexikographie und Metalexikographie, Paläographie und Kodikologie sowie digitale Editorik und niederdeutsche Sprachstudien.
Zu Dietrich Engelhus
Wegweisende Abhandlungen sowohl zu Dietrich Engelhus als Person als auch zu seinen Werken leisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zunächst Karl Grube (1882), der als erster gezielt Werke, Lebensdaten und -zeugnisse des Engelhus zusammenträgt, u. a. indem er eine bis dahin unbekannte zeitgenössische Vita transkribiert, und L. von Heinemann (1888, 1889), der sich vor allem der Chronik annimmt. Im frühen 20. Jahrhundert folgen Paul Lehmann (1927) mit wichtigen Beobachtungen zu den vielfältigen von Engelhus für seine Schultexte herangezogenen Quellen und Herbert Herbst (1935), die als erste Engelhus’ Lehrtätigkeit in den Fokus rücken, sowie Gerhardt Powitz (1963), dem wertvolle dialektale Einordnungen der bis dahin bekannten Handschriften zu verdanken sind.
Im Jahr 1989, zum Gedenken an Engelhus’ 555. Todesjahr, belebt eine Tagung in Einbeck die Forschung und bringt faszinierende Detaileinblicke und neue Erkenntnisse hervor, veröffentlicht im Tagungsband „Dietrich Engelhus. Beiträge zu Leben und Werk“ (Honemann 1991). Darunter sind für die vorliegende Arbeit als besonders relevant zu nennen: Volker Honemann mit einer neuen Transkription und Übersetzung der drei wichtigsten zeitgenössischen Lebensbeschreibungen des Engelhus, Robert Damme zum Vokabular und zur Reihenfolge der drei Fassungen sowie Helge Steenweg zu Lebensstationen des Engelhus, insbesondere seiner Lehrtätigkeit in Göttingen.
Im Jahr 2014 lässt dann Hiram Kümper die Beschäftigung mit Engelhus und seinen Werken erneut wiederaufleben, indem er die 1880 von Karl Lamprecht verfasste, ungedruckte und nur unvollständig überlieferte Habilitation zu Engelhus so weit wie möglich zugänglich macht. Er bedauert, dass es an quellenkundlicher Forschung zu Engelhus mangele und dass seine Schriften aufgrund fehlender Editionen – und ich möchte ergänzen Digitalisate – nur schwer greifbar seien. An ebendieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an.
Zur Wörterbuchlandschaft des Spätmittelalters bietet Peter Müller (2001) mit seiner Habilitation über die „Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts“ den bislang umfassendsten und wohl unangefochten einflussreichsten Überblick in einen Bereich, in dem die Forschungslage sonst sehr schlecht ist. Obgleich der Fokus der Abhandlung auf dem 16. Jahrhundert liegt, bietet sie eine Vielzahl an wertvollen Beobachtungen zum 15. Jahrhundert, anhand derer das Vokabular von der Schulwörterbuch-Konkurrenz abgesetzt und sein Stellenwert beurteilt werden kann. Einen auch für Laien leicht verständlichen Zugang zum Thema Wörterbücher und Lexikographie(geschichte) bietet Ulrike Haß-Zumkehr (2001) in „Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte“.
Ohne die umfassendsten Studien von Robert Damme zu Engelhus’ Vokabular, in denen er entscheidende Entdeckungen zur Überlieferungsgeschichte macht, wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen. So stellt er in seinem Vortragsresümee „Zum ‚Quadriidiomaticus‘ des Dietrich Engelhus“ (1985) als erster die bisherigen Annahmen über die Reihenfolge der Fassungen in Frage und bietet eine auf neuen Erkenntnissen beruhende alternative Abfolgehypothese, welche er in weiteren Publikationen 1991 und 1994 noch untermauert.
Im Rahmen der Einbecker Engelhustagung stellt er zudem die wichtige Vermutung auf, dass Engelhus durch seine Arbeit an der Chronik und seiner Enzyklopädie für den Schulunterricht dazu inspiriert wurde, die erste einschneidende Umarbeitung seines Wörterbuches vorzunehmen. Und nicht zuletzt ist es ihm zu verdanken, dass die mutmaßlich älteste, ehemals in Kärnten befindliche Handschrift StP61, die heute verschollen ist, vollständig auf Film vorhanden und der Forschung somit erhalten geblieben ist. Es ist mir ein großes Anliegen, diese von Damme begonnene Arbeit weiterzuführen und der Forschung möglichst viele Handschriften bereitzustellen, auch wenn aus rechtlichen Gründen bisher leider noch nicht alle Digitalisate und Fotografien online frei zugänglich gemacht werden konnten (vgl. dazu Anm. 7).
Neben den Studien zum Engelhusvokabular richtet sich Dammes Interesse vor allem auf den Vocabularius Theutonicus, der ediert (Damme 2011) und auch digital als Wörterbuch veröffentlicht ist. Diese Arbeiten sind für das vorliegende Projekt eine besonders wichtige Referenz, da der Vocabularius Theutonicus als Teilvokabular in das Engelhusvokabular mit eingeflossen ist und sich auf lexikographischer Ebene signifikante Parallelen und Unterschiede zwischen den Werken erkennen lassen.
Zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund
An bildungsgeschichtlichen Studien, anhand derer der Entstehungskontext beleuchtet werden kann, sind insbesondere die Arbeiten von Martin Kintzinger über „Schule und Schüler in der gegenwärtigen interdisziplinären Mittelalterforschung“ (1996) und zur Institutionengeschichte des Schulwesens (1991) als relevant zu nennen, nicht zuletzt, da er darin den Lehrer Engelhus explizit einbettet. Um den spätmittelalterlichen Schulalltag besser verstehen zu können, sind weiterhin zeitgenössische Schulordnungen eine wertvolle Quelle. Sehr anschauliche Zusammenstellungen mit vielen für diese Arbeit relevanten Regeln z. B. zum Tagesablauf und der Unterrichtssprache finden sich unter den 1885 von Johannes Müller zusammengestellten deutschen und niederländischen Schulordnungen und Schulverträgen von 1296 bis 1505 sowie unter den von Eugen Schoelen ausgewählten pädagogischen Quelltexten zum gesamten Mittelalter (1965).
Lebendige Einblicke in den Schulalltag speziell an der Stadtschule in Hannover und somit dem direkten Umfeld, in dem die Handschriften produziert wurden, bieten darüber hinaus die sehr detaillierten und umfassenden, obgleich mitunter etwas subjektiv wertenden, Ausführungen von Rudolph Hoppe zur „Geschichte der Stadt Hannover“ (1845) sowie die von Heinrich Ahrens weitestgehend unkommentiert zusammengetragenen „Urkunden zur Geschichte des Lyceums zu Hannover von 1267 bis 1533“ (1869).
Ulrike Bodemann schließlich bringt in Zusammenarbeit mit Christoph Dabrowski anhand einer Untersuchung verschiedener Schulhandschriften aus der Ulmer Lateinschule und insbesondere der darin gemachten Schreibervermerke (2000) sowie in Zusammenarbeit mit Beate Kretschmar zu „Textüberlieferung und Handschriftengebrauch in der mittelalterlichen Schule“ (2000) sehr anschauliche Details aus dem spätmittelalterlichen Schulalltag und der Schulbuchproduktion ans Licht, wobei mir methodisch insbesondere ihre Kombination aus sozialhistorischer und paläographischer Studie und ihr detektivisches Vorgehen als Vorbild und Inspiration dienten.
Um im Kontext der Schulbuchproduktion die in der Forschung aufgeworfene Hypothese zur Entstehung der Handschriften im Diktat zu prüfen und mit Belegen zu untermauern, wird in der vorliegenden Arbeit ein Kriterienkatalog entwickelt. Für diesen bieten die Studien von David Parker (2009) und Theodore Skeat (1957) eine gute Orientierung, da sie in ihren Arbeiten Vorschläge zur Überprüfung einer mutmaßlichen Diktatsituation an konkreten Fallbeispielen liefern. Es handelt sich zwar in erster Linie um Beispiele aus der (spät)antiken Buchproduktion, viele Kriterien lassen sich jedoch auch auf die mittelalterliche Situation übertragen.
Aufgrund seiner niederdeutschen Interpretamente stellt das Engelhusvokabular ein besonderes Zeugnis spätmittelalterlicher Schullexikographie dar, das im Spannungsfeld zwischen Latein und Volkssprache sowohl aus metalexikographischer als auch aus bildungshistorischer Perspektive interessant ist. Speziell zur Erforschung des Mittelniederdeutschen sei dafür auf die Veröffentlichungen von Robert Peters verwiesen, allem voran die wegweisende Publikation „Katalog sprachlicher Merkmale zur variablenlinguistischen Erforschung des Mittelniederdeutschen“ (1987, 1988, 1990) sowie den gerade erschienenen „Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete“ (2017), welche es mir ermöglichen, die untersuchten Handschriften anhand markanter Wörter und Phänomene dialektal einzuordnen.
Zur Rezeption
In Hinblick auf die Rezeption wird in der Arbeit die Hypothese aufgestellt, dass sich das Engelhusvokabular neben der ursprünglich anvisierten männlichen Leserschaft auch im gehobenen Lateinunterricht mehrerer norddeutscher Frauenklöster großer Beliebtheit erfreute. Hier bieten sich besonders fruchtbare Anknüpfungspunkte an die Arbeiten von Eva Schlotheuber zum Bildungsstand norddeutscher Nonnen. Zu nennen sind hier vor allem die 2004 erschienene Monographie „Klostereintritt und Bildung“, die ebenfalls 2004 erschienene Untersuchung zur Bildung und Erziehung der Ebstorfer Klosterschülerinnen im 15. Jahrhundert sowie die besonders in Hinblick auf den Verwendungskontext des Engelhusvokabulars im gehobenen Lateinunterricht relevante Arbeit „Sprachkompetenz und Lateinvermittlung. Die intellektuelle Ausbildung der Nonnen im Spätmitte...