1.2.1Rhetorik
Die bereits im Prolog dieser Arbeit beklagte Vernachlässigung der Beschallungsanlage durch die rhetorische Forschung erstaunt besonders, wenn man bedenkt, dass in Überlegungen zur Actio (wie der Vortrag der Rede in der rhetorischen Terminologie bezeichnet wird) bereits seit der Antike immer auch besondere Aufmerksamkeit auf die Stimme und deren Leistungsvermögen gerichtet wurde. So beschreibt bereits Aristoteles, dass nicht nur der Tonfall und der Rhythmus der Stimme, sondern auch deren Lautstärke von entscheidender Bedeutung für einen erfolgreichen Vortrag ist.4 Auch der unbekannte Autor der Rhetorica ad Herennium räumt der Stimmstärke eine wichtige Rolle ein, wenn er zwischen Umfang (magnitudo), Festigkeit (firmitudo vocis) und Geschmeidigkeit (molliutudo) der Stimme unterscheidet.5 Ebenso deutlich hebt auch Quintilian die Stimmleistung hervor, indem er zwischen Klangform (qualitas) und Umfang (quantitas) der Stimme unterscheidet.6 Doch nicht nur die Stimme des Redners wurde in der antiken Rhetoriktheorie beachtet, ebenso wurde auch dem „Sprach- und Klangempfinden [des Hörers] eine wesentliche Rolle“ bei der Stimmungserzeugung zugeschrieben.7 In den folgenden Jahrhunderten – in denen sich Phasen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit abwechselten – wurde die Stimme in Beiträgen zur Actio zumeist nur am Rande erwähnt oder auf die Ausführungen der antiken Rhetorik verwiesen. Immerhin kam im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung zumindest die Forderung nach Reinheit und Klarheit der Stimme auf; die in der Antike formulierten Eigenschaften der Stimme wurden also um die Sprachverständlichkeit ergänzt.8
Der Entwicklung von Beschallungsanlagen ging eine Reihe von weiteren technischen Errungenschaften voraus. So konnte die Stimme bereits Ende des 19. Jahrhunderts zunächst durch den Phonographen und später durch das Grammofon gespeichert und durch das Telefon über weite Strecken übertragen werden. Anders als das etwa im gleichen Zeitraum aufkommende Radio fand die Erfindung von Beschallungsanlagen in den 1920er-Jahren weder in der Rhetorik noch in benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen größere Beachtung. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Einstellung gegenüber der Stimme – deren Stellenwert durch die hohe Verbreitung von Schrifttexten auch zuvor schon deutlich geringer war als etwa noch in der Antike – im 20. Jahrhundert wandelte.9 Dies scheint nicht nur mit der zunehmenden Verbreitung von Telefon und Radio, sondern auch mit der Beschallungsanlage in Verbindung zu stehen. So stellt Hellmut Geißner fest, dass das in den USA spätestens ab den 1970er-Jahren zu beobachtende Fehlen von Publikationen zur Aussprache mit der „Entwicklung der elektronischen Übertragungstechniken“ zusammenhängt, wobei er die „Ausstattung vieler Räume mit Mikrofonen und Lautsprechern“ ausdrücklich erwähnt.10 Man nahm also offensichtlich zur Kenntnis, dass die Stimme nicht mehr dieselbe Beachtung benötigt wie in früheren Zeiten. Ebenso erkannte man generell an, dass das neben dem Radio für diese Entwicklung verantwortliche Medium – die Beschallungsanlage – darüber hinaus auch die Stimme des Redners verändert. Bereits 1937 beschreibt Emil Dovifat in seinem klar erkennbar von nationalsozialistischen Ideen beeinflussten Buch Rede und Redner eine Auswirkung von Mikrofon und Lautsprecher wie folgt:
Durch den Rundfunk, ja schon durch die Anwendung des Lautsprechers in den modernen Riesenversammlungen erleben wir stimmlich größte Überraschungen. Das Mikrophon – unscheinbar klein und eigentlich nur ein Mittel, von dem wir glauben, daß es uns technisch gehorsam ist – zeigt sich selbstständig in der Wiedergabe der Stimme, eigensinnig selbstständig sogar. Es bevorzugt manche Stimmen in besonderer Gunst und verunziert andere, sie sonst auf natürlichem Wege von Ohr zu Ohr bestrickend und erfreuend sind.11
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es offensichtlich versäumt, derartige Überlegungen in den Forschungsdiskurs einzubeziehen. Der daraus resultierenden Lücke in der Forschung nimmt sich erst 1998 Karl-Heinz Göttert an, für dessen Buch zur Geschichte der Stimme es jedoch eines von außen kommenden Impulses bedurfte. So stand am Anfang seiner Untersuchung die Frage eines Journalisten, wie „Redner vor der Erfindung von Mikrophon und Lautsprecher mit ihrer Stimme zurecht kamen.“12 Dementsprechend stellt Göttert die Entwicklung der öffentlichen Rede und anderer stimmbasierter Vortragsformen wie dem Theater von der Antike bis in die Gegenwart dar. Dabei wird deutlich, dass die Möglichkeit, ein größeres Publikum anzusprechen, immer eng mit einer akustisch günstigen Architektur verbunden war. Je nach deren Entwicklung traten im Lauf der Geschichte immer wieder auch vornehmlich visuell geprägte Phasen auf, in denen der Stimme nur geringe Bedeutung zugeschrieben wurde.13 Ebenso beschreibt er die beginnende technische Vermittlung der Stimme beziehungsweise von Texten durch Geräte wie Telegraf, Telefon und Radio, bevor er im abschließenden Kapitel des Buches schließlich auf „den Lautsprecher“ zu sprechen kommt. Darin beschreibt er das Erstaunen über und den anfänglichen Widerstand gegen die Installation der ersten Lautsprecheranlagen, die dadurch ermöglichten Massenveranstaltungen sowie die Vereinnahmung der Beschallungsanlage durch die nationalsozialsozialistische Propaganda.14 Wenngleich dies der Beschallungsanlage eine Tür zum Einzug in den rhetorischen Diskurs öffnet, findet hier aber weder eine theoretischabstrahierte Betrachtung der Nutzung von Mikrofon und Lautsprecher statt, noch wird systematisch untersucht, wie sich durch deren Einsatz die allgemeinen Rahmenbedingungen der Kommunikation verändern. Relativ ausführlich beschreibt Göttert die Auswirkungen der Beschallungsanlage auf die Stimme, etwa indem er das nun unpassend wirkende Geschrei thematisiert, dem sich manche Redner, die das öffentliche Reden noch vor Erfindung der Beschallungsanlage gelernt hatten, weiterhin bedienten.15 Der Einfluss auf den Vortrag und die Wahrnehmung der Rede, und damit auf deren persuasive Wirkung, wird darüber hinausgehend aber nicht beleuchtet.
Allgemeine Rhetoriklehrwerke, die einen grundlegenden Überblick über den aktuellen Wissenstand der Disziplin geben, wie der Grundriß der Rhetorik von Gert Ueding und Bernd Steinbrink16 oder die Einführung in die Rhetorik von Göttert17, erwähnen Beschallungsanlagen nicht. Komplett ignorant gibt sich zunächst auch Heinz Lemmermann in seinem Lehrbuch der Rhetorik von 1962 (Neubearbeitung 1986), indem er heute durch Beschallungsanlagen obsolet gewordene, seit der Antike in der Rhetorik verbreitete Sprech- und Atemtechniken – die es ermöglichen sollen, auch über einen längeren Zeitraum mit einem hohen Pegel zu sprechen – als aktuell darstellt. Auf gleiche Weise beschreibt er auch raumakustische Probleme, die ein ohne Beschallungsanlage sprechender Redner bei seiner Settinganalyse beachten muss.18 Etwas überraschend schließt daran aber einen kurzer Abschnitt mit der Überschrift „Gebrauch des Mikrophons“ an, der wie folgt lautet:
Wenn es irgend geht, soll der Redner ohne Mikrophon auskommen. Das ist bei einem Saal mit 300–400 Plätzen durchaus noch möglich! Das Mikrophon verzerrt leicht den Ton und hemmt die Unmittelbarkeit der Redewirkung. Oft gibt es ein unschönes Echo.
Gebrauchen Sie aber doch einen Lautsprecher, so achten Sie darauf, daß Sie einen einigermaßen gleichbleibenden Abstand vom Mikrophon bewahren. 20–30 cm ist in der Regel die beste Entfernung. Gut ist es, wenn mehrere Mikrophone vorhanden sind, in Abständen voneinander aufgestellt. Man braucht dann nicht wie angenagelt dazustehen.
Ein letztes hierzu: Sprechen Sie nicht zu laut ins Mikrophon. Auch dann nicht, w...