1Einleitung
Die Mitteilung gegenüber Anderen ist ebenso wie das Verständnis anderer Individuen und Kulturen eine zentrale Bedingung menschlichen Lebens; gleichzeitig ist sie dessen größte Herausforderung. Problemlose Verständigung lässt sich – wenn überhaupt – nur unter ganz bestimmten Bedingungen denken. Zwei Passagen aus dem Reinfried von Braunschweig und dem Apollonius von Tyrland veranschaulichen das besonders eindrücklich. Die Darstellungen eines mediationslosen kommunikativen Austauschs sprechen den Kern der Thematik an, die die beiden spätmittelalterlichen Texte vielfach, variantenreich und mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Blick nehmen und die im Zentrum dieser Arbeit steht: das Bemühen um möglichst authentische und irritationsfreie Ver- und Übermittlung von Informationen über physische Distanzen, Zeiträume und Sphärengrenzen durch einen notwendigerweise übertragenden, selektierenden, reduzierenden und transformierenden Prozess.
In einer spannungsgeladenen und für mehrere Figuren schicksalshaften Situation kommt es im Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt1 zu einem folgenschweren Blickwechsel. Milgot, ein wundersames Wesen, dem der Protagonist Apollonius auf einer einsamen Insel begegnet, wird vom Schwarzmagier Albedacus gefangen und überwältigt. Jener möchte sich gewaltsam des Herzens des Tieres bemächtigen, da diesem eine besondere Kraft innewohnt (vgl. AvT, V. 6939–6998).2 Milgot, hilflos und mit dem Tode bedroht, ist auf Apollonius’ Hilfe angewiesen, eine sprachliche Bitte ist ihm jedoch ebenso wie die Mitteilung über Gesten verwehrt.3 Doch sein Blick vermag dem Helden seine Not sowie die Bitte um Hilfe mitzuteilen. Als Apollonius vor dem bewegungsunfähigen Tier steht, scheint dem Protagonisten, dieses spreche mit seinen Blicken zu ihm:
Das tier sach den kunig an,
Sam es spräch ,werder man,
Löse mir des todes pandt’
(AvT, V. 7041–7043)
Ist Apollonius’ Reflexion über seine Loyalität gegenüber Milgot auch bereits zuvor angestoßen (vgl. AvT, V. 7035–7040), so legt doch der direkte Anschluss seiner Befreiungstat an die dem Blick unterstellte Bitte – Apollonius zehant/Nam im den brieff ab (AvT, V. 7044f.) – eine direkte, unvermittelte Verständigung von Milgot und Apollonius über den Blick nahe.4
Der in dieser Szene kurz angedeutete unvermittelte Austausch zwischen zwei Figuren, welcher ein besonderes Verhältnis der Kommunikationspartner zum Ausdruck bringt, wird im Reinfried von Braunschweig5 in derselben Funktion umfang- und nuancenreicher geschildert. Der Sächsische Fürst Reinfried hat sich bei einem Turnier als bester Ritter erwiesen (vgl. RvB, V. 2050–2053) und von der Dänischen Prinzessin Yrkâne einen Kuss als Preis erhalten (vgl. RvB, V. 2349–2353). Im Rahmen der daraufhin befeuerten Minne stellt der Text einen ähnlich direkten Austausch zwischen den Verliebten dar; ihnen ist es nämlich möglich, einander in die Herzen zu schauen:
ir ougen zemen swungen,
daz sich die blicke drungen
dur in ir herze arke.
diu junge ûz Tenemarke
lie hin ir ougen flücken,
und kund daz blicken lücken
im ûz dem herzen sinne.
(RvB, V. 2881–2887)
Was sie dort sehen, lässt der Text offen. Darstellenswert ist nicht, was durch diese Kommunikation der Herzen geteilt wird, sondern dass durch gegenseitige Zuneigung eine unmittelbare Kommunikation möglich ist6 – und das nicht nur einmalig: Auf dem Fest am Folgetag des Turniers sehnen Yrkâne und Reinfried sich nach dem jeweils anderen, können jedoch in dem gegebenen Kontext dem Bedürfnis nach physischer Nähe nicht nachkommen (vgl. RvB, V. 2896–2898, 2931–2935). Es gelingt allerdings, ein privates Treffen in einer Hütte zu organisieren (vgl. RvB, V. 3000f.),7 bei dem sie ungestört eine sprachbasierte Kommunikation führen könnten. Doch dazu kommt es zunächst nicht. Beide sind – wie die Erzählinstanz erläutert – gar nicht fähig, sich sprachlich auszudrücken (vgl. RvB, V. 3002–3007). So bleibt der Austausch zunächst unvermittelt wie zuvor. Sie schauen sich minneclîchen an (RvB, V. 3009) und versinken in Gedanken, die darauf hinweisen, dass die Kommunikation der bereits in Liebe verbundenen Herzen sich nicht ohne Weiteres in sprachlichen Ausdruck umwandeln lässt.8 Beide sind so überwältigt, dass eine Überführung der Empfindungen in konventionelle Zeichen nicht gelingen kann. Erst die Worte der anwesenden Gehilfin Yrkânes bewegen Reinfried zu einer sprachlichen Äußerung (vgl. RvB, V. 3114–3123), welche allerdings mit der Behauptung einsetzt, nicht sprechen zu können (‚Waz sol ich sprechen? ich enkan./mîn zunge ist mir worden lan, RvB, V. 3131f.). Auch wenn sich anschließend die Kommunikation in konventionelle Bahnen begibt, betont der Text doch vor Auflösung der Zusammenkunft die Überlegenheit der direkten Verbindung, die zwischen den Herzen der Verliebten besteht. Die Gedanken fließen über den Blick in das Herz des jeweils anderen; Gefühle des Gegenübers sind dabei unmittelbar mitfühlbar:
sî hâte sîne sinne
in ir herz beslozzen.
von ir ist geflozzen
ir sin zuo sînem herzen.
sî leit sînen smerzen
und truog er iren kummer.
(RvB, V. 3774–3779)9
Eine sprachliche Vermittlung scheint vollkommen überflüssig und angesichts der vorherigen Schwierigkeiten auch defizitär. So verabschieden sich Reinfried und Yrkâne dann auch nicht mit Liebesschwüren, sondern mit Blicken.10
Für intensiv miteinander verbundene Figuren, die sich gegenüberstehen, erwägen beide Texte die Möglichkeit einer direkten Mitteilung über den Blick. Die zuletzt beschriebenen Szenen heben mit der Darstellung verlustfreier und unvermittelter Kommunikation zwischen Reinfried und Yrkâne aber nicht nur besonders deutlich die exzeptionelle Qualität der emotionalen Verbindung der Protagonisten hervor. Sie exponieren auch zwei essenzielle Aspekte, die der Apollonius in seiner Präsentation des Blickgesprächs – ebenso Darstellungsform einer besonderen Beziehung – stillschweigend voraussetzt. Dass eine gegenseitige Versicherung der Zuneigung über sprachliche Ausdrucksformen zumindest von der dritten anwesenden Figur als notwendig empfunden wird, zeigt, dass rein innerliche Verständigung ohne Überführung in ein konventionelles Format nicht ausreicht, um Gewissheit herzustellen.11 Jene Überführung erweist sich jedoch als äußerst schwierig. Die geforderte lautliche Konkretisierung von Gedanken und Empfindungen ist eine unbewältigbare Aufgabe – sogar im direkten Angesicht des Gegenübers. Selbst in diesen dezidierten Ausnahmeerscheinungen zeigt sich, was andere Kontexte von Verständigung umso mehr betrifft. Jegliche Mitteilung, die außerhalb eines Verhältnisses exzeptioneller Verbundenheit getätigt werden soll, benötigt eine sinnlich fassbare Formgebung, eine vollkommene Abbildung des originären Ausdruckswunsches ist in dieser jedoch nicht möglich. Die Szenen veranschaulichen sowohl die Notwendigkeit der Überführung als auch die Schwierigkeit einer adäquaten Umsetzung. Indem die jeweiligen Erzählinstanzen die TextrezipientInnen sprachlich an den (für die Figuren nicht zu versprachlichenden) Empfindungen und Wahrnehmungen teilhaben lassen, bringen die Passagen darüber hinaus zum Ausdruck, dass auch der Vorgang des literarischen Erzählens ein Mediationsvorgang ist, der sich angesichts der Unmöglichkeit unmittelbarer Erfahrung im Medium der Sprache einer Unmittelbarkeit erzeugenden Darstellung stets nur annähern kann.
Menschen besitzen das Bedürfnis, Informationen12 zu erlangen, zu teilen, zu fixieren, verfügbar und erfahrbar zu machen. Wie anschaulich geworden ist, ist dazu Äußerung nötig, welche an eine bestimmte Aufbereitung gebunden ist. Nur in der kommunikativen, äußerlich wahrnehmbaren und bedeutungsgeladenen Formatierung kann ein semantischer Gehalt als Informationseinheit generiert und wahrgenommen werden und nicht nur über die Grenze des menschlichen Körpers hinaus fassbar werden, sondern auch größere Kommunikationshindernisse überwinden, „über institutionelle, soziale, politische oder auch geographische Grenzen hinweg[…]gleiten“.13 Nur durch die Überwindung räumlicher Distanzen können wichtige Beziehungen gepflegt werden und Kulturtransfers, die neue Impulse hervorbringen, zwischen entlegenen Gebieten stattfinden. Nur das, was jedeR Einzelne fähig ist, präsent zu halten, prägt die Identität und nur diejenigen Einfälle und Ereignisse, die über längere Zeiträume hinweg fixiert werden, können als Wissensbestände und Erinnerungen Teil ,kollektiver Identität‘ werden. Daher werden stets neue Techniken und Strategien der Mitteilung entwickelt,14 mithilfe derer die Grenzen, die die Kommunikation behindern, überwunden werden. Produkte dieser Strategien bezeichnet man alltagssprachlich als ,Medien‘. Als Mittel der eigenen Äußerung und Zugang zu externalisierten Informationen spielen sie eine elementare Rolle für die Übermittlung wichtiger Informationen und die Ausbildung kultureller Güter und kulturtheoretischer Diskurse einer Gesellschaft.
Bemühungen um Ver- und Übermittlung sind in unterschiedlicher Hinsicht aussagekräftig. Zum einen weisen mediale Vorgänge ihre Inhalte aus: Alles, was kommuniziert und übermittelt wird, besitzt qua Vermittlung Relevanz, ist mitteilungswürdig. Die Techniken der Mitteilung zwingen dabei zu einer Schwerpunktsetzung, die von Relevanzhierarchien innerhalb der jeweils verhandelten Themenbereiche zeugt. Es zeigt sich, welche Diskurse im Rahmen menschlicher Bemühungen um Vermittlung eine Rolle spielen und welchen Beitrag wiederum die Produkte dieser Bemühungen zu den jeweiligen Diskursen leisten bzw. welche Standpunkte sie vertreten. Indem die Grenzen des menschlichen Interaktionsrahmens mittels technologischer Innovationen hinterfragt und verschoben werden, regelmäßig aufs Neue getestet wird, was jeweils vermittelbar und erfahrbar ist und was verborgen bleibt, sich endgültig entzieht und welcher Grad an Unmittelbarkeit erreicht werden kann,15 weisen die Herausforderungen medialer Vorgänge immer auch auf elementare epistemologische Fragen hin. Diese Aussagekraft wird eher bei äußerlich wahrnehmbaren kommunikativen Herausforderungen, also bei räumlich oder zeitlich zerdehnten Prozessen, sichtbar.
Ist realen medialen Vorgängen ein solches diskursives Potenzial auch stets inhärent, so bleiben ihre gemeinschaftsstiftenden und kulturbildenden Funktionen sowie die Aussagekraft ihrer Produkte im Alltag meist unreflektiert.16 Künstlerische Darstellung und Ästhetisierung können diese Aspekte ins Bewusstsein rufen und somit zum Medium kommunikativer Bemühungen und medialer Strategien werden. Über die Darstellung kommunikativer Prozesse ist etwas über die Vorstellungen dieser Prozesse selbst, über die suggerierten Ableitungskompetenzen, die vorausgesetzten Wissensbestände und medialen Konventionen, zu erfahren. Darüber hinaus sind sie selbst mit den Möglichkeiten und Grenzen des Vermittelns konfrontiert und besitzen daher eine gewisse Prädestination, zugleich über das eigene Funktionieren / Wirken und mediale Techniken zu reflektieren. So ist den in Literatur dargestellten Prozessen, welche Repräsentationen realweltlicher Möglichkeiten darstellen, diese aber zusätzlich kommentieren und im Raum des Imaginären17 expandieren, ein umso höheres diskursives Potenzial zuzuschreiben und so verspricht eine Beschäftigung mit literarischer Darstellung von Medieneinsatz – insbesondere von exzeptionellen, wirklichkeitsfremden Phänomenen18 – umso aufschlussreicher zu sein. Daher widmet sich diese Arbeit genau solchen, im Bereich der literarischen Darstellung angesiedelten Prozessen. Sie konzentriert sich auf Schilderungen, die die Hindernisse, die Kommunikation innewohnen, auf Handlungsebene ausdehnen, auf Konstellationen, in denen Kommunikationspartner im physischen Sinne voneinander getrennt sind. Dabei – so die grundlegende Annahme – finden vermittelnde Instanzen und Vermittlungsprozesse augenfällige Entfaltung und rücken deren Funktionsmechanismen in den Blick. An ihnen sollen die Funktionsweisen, Potenziale und Herausforderungen erzählter medialer Transgression inklusive der darüber sichtbar werdenden Diskurse,19 der durch sie eröffneten Darstellungsräume und poetologischen Reflexionen betrachtet werden.
Im Fokus der Arbeit sollen die bereits eingangs zitierten Texte, der auf das späte dreizehnte oder frühe vierzehnte Jahrhundert datierte Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt und der anonym überlieferte, vermutlich etwas ältere Reinfried von Braunschweig,20 stehen. Sie gleichen sich nicht nur in inhaltlich-thematischer Vielfalt und Ausrichtung, in Umfang, editorischer Aufarbeitung und im Ausmaß ihrer mediävistischen Erforschung. Die Vielzahl an Passagen in beiden Texten, die Bemühungen um grenzüberschreitende Kommunikation darstellen, bezeugt das für die gemeinsame Betrachtung in dieser Arbeit ausschlaggebende, jeweils auffällig stark ausgeprägte Interesse an Möglichkeiten, kommunikative Hindernisse zu überwinden. Es werden Briefe geschrieben, Boten gesandt, Informationen schriftlich fixiert, Erinnerungszeichen gesetzt, Lieder erdichtet, Grabmale entworfen und Ehrenmale errichtet; durch den Austausch mit Mittlern und Propheten, den Umgang mit wunderbaren Objekten, durch Träume und den Blick in die Sterne und in Zauberspiegel kommt es zu Grenzüberschreitungen ungewöhnlicher Qualität, bei denen die medialen Möglichkeiten ausgereizt und die Grenzen des Vermittelbaren sichtbar werden. Dieses Darstellungsinteresse verweist nicht nur auf eine Beschäftigung der Texte mit medialen und – ob der literarischer Darstellung inhärenten Vermittlungsherausforderungen – auch poetologischen Fragen, sondern legt – besonders vor dem Hintergrund der betrachteten Textbeispiele – auch eine hohe narrative Attraktivität medialer Textelemente nahe.
Die medien...