Jonathan Franzen als Symptom
Internet-Ressentiment
Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen.
Karl Kraus
Wer denkt, ist nicht wütend.
Theodor W. Adorno
Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen ist dafür bekannt, »an allem mürrisch herumzukritisieren, vom Aussehen klassischer Schriftstellerinnen bis zum Internet als Ganzem.« In seinen Übersetzungen von Karl Kraus für zeitgenössische Leser scheut dieser Spengler des 21. Jahrhunderts nicht davor zurück, die Unbeständigkeit von Windows Vista mit dem Wien vor dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen: Der Untergang des Reiches steht fest. Das Kraus-Projekt von 2013 besteht aus drei größeren Essays des österreichischen Dramatikers, Poeten, Sozialkritikers und »satirischen Genies«, die Franzen übersetzt und um Anmerkungen von ihm selbst und zwei weiteren literarischen Kritikern ergänzt hat. Faszinierenderweise fand sich in den Ankündigungen zu dem Buch kein Hinweis darauf, dass ein Großteil seiner Fußnoten zu Kraus’ Text eine exzentrische Medienkritik des 21. Jahrhunderts enthalten würde. Der Romancier buchstabiert ganze Textpassagen nach, um ganz andere Aussagen darüber zu treffen, was Kraus’ (oder Franzens) Meinung zu beispielsweise Macs und PCs, Twitters umstrittenem politischen Beitrag zum arabischen Frühling oder dem Einfluss der Medien auf die westlichen Demokratien sein könnte.
Das Kraus-Buch ist nicht Franzens erster – oder gar bekanntester – Versuch eines medienkritischen Kommentars. Dem Widerwillen gegen die Medientechnologien begegnet man in seinem ganzen Werk. Für die MIT Technology Review schrieb er einmal über Mobiltelefone, Gefühl und den Niedergang des öffentlichen Raums. Bedeutungsschwer fummelte er sich nach einer Einladung in Oprah Winfreys TV-Buchclub seinen Weg durch eine Serie von Interviews – selbst ein Medienereignis, das es ihm erlaubte, als anti-kommerzieller Rebell gegen eine ganze Palette zeitgenössischer Phänomene anzutreten, mit Ausnahme natürlich seiner eigenen Anteile an der Buchindustrie. Anfang 2012 machte Franzen mit Attacken auf E-Books und Amazon erneut von sich reden, wobei er im Wesentlichen seine frühere Abneigung gegenüber der kommerziellen TV-Buchkultur bestätigte, um sie noch um einige jüngere Medienentwicklungen zu ergänzen. »Der Unterschied zwischen Shakespeare auf einem Blackberry und Shakespeare in der Arden-Ausgabe ist wie der Unterschied zwischen einem Schwur in einem Schuhgeschäft und einem Schwur in einer Kathedrale.« Er ist der Ansicht, dass E-Books der Gesellschaft schaden, und bekennt:
»Fetischisiere ich Tinte und Papier? Klar, und ich fetischisiere auch Wahrheit und Integrität.« – »Ich denke, dass für ernsthafte Leser das Gefühl von Dauerhaftigkeit immer ein wesentlicher Teil ihrer Erfahrung war. Alles andere im Leben ist flüchtig, aber hier steht dieser Text und verändert sich nicht. Der Große Gatsby ist das letzte Mal 1924 überarbeitet worden. Er muss nicht für uns aktualisiert werden, oder?«
Mit einem antikapitalistischen Seitenhieb bemerkt er:
»Die Technologie, die mir gefällt, ist die amerikanische Taschenbuchausgabe von Freedom. Ich kann Wasser drüberschütten, und es wird immer noch funktionieren! Also eine ziemlich gute Technologie. Und außerdem wird es auch in zehn Jahren noch gut funktionieren. Also kein Wunder, dass die Kapitalisten es hassen. Es ist ein schlechtes Geschäftsmodell.«
Franzen spricht wiederholt vom Internet als einer verhängnisvollen Organisation der Dummheit. Diese Warnungen vor der Online-Kultur bringen natürlich Schwärme von twitternden Hipstern in Rage. Auch für die reiferen Babyboomer-Medienkolumnisten – fest angestellte Kommentatoren mit vermutlich anti-elitären Ansichten – ist dieser berüchtigte Social-Media-Verweigerer ein leichtes Ziel, ein undankbarer Besserwisser, der in den modernen alten Zeiten hängengeblieben ist, die sie selbst überwunden haben. Wer glaubt er, wer er ist, dass er mit seinen Feindbildern so viel Raum in der öffentlichen Meinung beanspruchen kann? Der Romancier wettert gegen die neuesten digitalen Gadgets und zielt frontal gegen die großen Technologie-Monopole. Ihn beunruhigen die vom Internet ausgehenden Gefährdungen für Leute, die ernsthafte Erzählliteratur schreiben – übrigens auch für Sloterdijk eine der berechtigten praktischen Sorgen.
»Ich kenne Schriftsteller, die eine gewisse Computersoftware – ich glaube, sie heißt Freedom – benutzen, die ihnen während ihrer Arbeit den Zugang zum Internet verwehrt. Ich benutze schalldichte Kopfhörer, wenn es in meinem Büro zu laut wird, und E-Mails und Anrufbeantworter sind für mich unverzichtbare Werkzeuge, um die von der modernen Technologie entfesselte Kommunikationsflut einzudämmen und zu bewältigen.«
Er ist natürlich kein Maschinenstürmer. Aber obwohl es ihm nicht gelingt, Computer, Tablet und Telefon abzuschalten, dramatisiert er seine Angst sehr deutlich, wenn er sich auf seine (widersprüchliche) Autonomie und seine hohe Moral stürzt: »an meinem neuen Lenovo Ultrabook begeistert mich außer dem Namen alles. An einem Gerät zu arbeiten, das IdeaPad heißt, führt dazu, dass ich mich weigern möchte, Ideen zu haben. Ich habe nichts gegen Technologie, die mir dient. Aber ich habe etwas gegen sie, wenn sie mich beherrscht.« Er wendet sich auch klar dagegen, als Technikfeind abgestempelt zu werden: »Als ich jedoch kürzlich unbeherrscht genug war, Twitter öffentlich ›blöd‹ zu nennen, wurde ich von Twitter-Süchtigen als ›Luddit‹ bezeichnet. Ätsch! Es war, als hätte ich gesagt, es sei ›blöd‹, Zigaretten zu rauchen, nur dass ich in diesem Fall keine medizinischen Belege für meinen Standpunkt hatte.«
Franzen ist mit Sicherheit kein Netzkritiker. Aber im Moment ist er einer der wenigen, die sich in der angloamerikanischen Öffentlichkeit über das Internet äußern und dabei ein Massenpublikum erreichen. Die Philosophen bleiben fast alle stumm; kaum jemand, der sich sichtbar engagiert, geschweige denn zu den Debatten über seine gegenwärtige Verwaltung, Funktionsweisen und Zukunft Stellung bezieht. Diejenigen, die differenzierter über seinen kulturellen Einfluss schreiben, sind meist Europäer, und dann in Europa auch noch marginal. Für Franzen haben die Autoren im kontinentalen Europa noch Einfluss auf das öffentliche kulturelle Bewusstsein – zumindest denkt er das, während sich die Krise des Finanzkapitals auch schon auf dem Kontinent entfaltet und auf die geheiligten zivilisatorischen ›Zentren‹ durchschlägt. Aber geistige Autorität ist ja nie wirklich technologisiert worden – nirgendwo.
Das Internet ist einfach kein Großes Thema dieses Zeitalters, nicht einmal indirekt. Für mich steht es im Vordergrund, aber ich bin natürlich kein Literaturkritiker. Auch gehört Kraus, den Franzen heranzieht, um seine Anti-Netzkritiken zu schreiben, nicht zu meinen Lieblingsschriftstellern des 20. Jahrhunderts. Er hat sich nie mit Technologie oder den Medien seiner Zeit auf demselben Niveau auseinandergesetzt wie zum Beispiel Benjamin. Was mich aber interessiert, ist, wie etwas, das nach Kritik aussieht, mit Medientechnologiekenntnissen vermischt wird und sich im Schreiben dieses Autors zu einer (allerdings veralteten) gebieterischen Kritik des voll technologisierten 21. Jahrhunderts ausweitet. Weitere Nahrung erhielt meine Neugier auf sein Werk und das begleitende Online-Gerede, als ich nach der Lektüre seiner Texte über Netzkultur herausfand, dass er nicht einmal zwei Wochen älter ist als ich selbst. Wir gehören beide einer Post-Punk-Zwischengeneration an, geprägt in einer Zeit der Stagnation und Depression, weder Hippies noch Yuppies, und ich entdeckte einen bestimmten gemeinsamen Generationswillen – einen eigenen Weg zu finden, nach Autonomie zu streben, und das auf eine Art, die an die Verschrobenheit eines Einzelgängers grenzt. Aufgewachsen mit der Schreibmaschine, tauchte der Personal Computer in Franzens und meinen frühen Zwanzigern auf – und während wir ihn vorsichtig vereinnahmten, blieben wir beide immer noch bereit, uns jeglichen inneren bösen Absichten der Maschine entgegenzustellen. Dass er manchmal mit seinen vielgelesenen (und ebenso oft zurückgewiesenen) Analysen in die falsche Richtung geht oder komplett danebenliegt, und wenn schon? Es ist leicht für mich, ihm die Fakten entgegenzuhalten – und genauso irrelevant. Das haben die Geeks schon erledigt, und es findet sich alles online. Auch kritisiere oder würdige ich nicht seine Romane. Ob ein nächster großer amerikanischer Roman über das Internet der kommenden Zeit geschrieben werden kann oder nicht, ist für mich nicht so wichtig. Genauso wenig wie die Frage, ob die Internet-Industrie und die publizistischen Elite nicht genügend gemeinsame Interessen haben. Hauptsächlich interessiert mich, warum und wie die Rage eines Kulturproduzenten gegen die Internet-Maschine durch eine spezifische eingebaute kulturelle Logik heraussticht. In diesem Sinne ist Franzen lediglich eine Figur, um über die allgemein stattfindende Ablehnung und das Verschwinden von Netzkultur und -kritik in unserem mediatisierten Alltagsleben nachzudenken.
Was aus meiner Sicht als Netzkritiker in Zeiten von Franzens Massenverbreitung am meisten auffällt, ist die immer ›sekundäre‹ Natur seiner Klagen über das Internet. Twitter oder Amazon sind nie zentraler Gegenstand eines seiner Essays gewesen. Mit Blick auf seine Arbeit fragte ich mich, woher dieses offenkundige Tabu in unserer Medienkultur (und -erziehung) kommt, das Internet-Thema direkt zu adressieren. Man darf zwar indirekte Bemerkungen zum Internet anbringen, aber muss sich so weit wie möglich einer Einordnung als ›Internet-Autor‹ (oder Internet-Künstler, -Theoretiker, -Kritiker) entziehen. Franzens Äußerungen zur Medientechnologie sind oft implizit, was ein offensichtliches Zeichen für eine unterdrückte Abneigung gegen das Digitale ist. Würde es seiner Karriere schaden, wenn seine Kritik der neuen Medientechnologien die Dinge mehr beim Namen nennen würde? Er ist ein großer, weißer, amerikanischer Romanautor, eine wirklich gefährdete und geliebte Spezies. Also nein, überhaupt nicht! Es ist genau diese undeutliche Art von ›Netz-Ressentiment‹ (vgl. Netzkritik), in die sich Franzen einfädelt – auf der einen Seite die berechtigte Wahrnehmung einer negativen Stimmung hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands der Ökonomie des Inter...