Äquidistanz
Der Kampf gegen links im Kontext des Extremismusmodells
Maximilian Fuhrmann und Martin Hünemann
Über mehr als ein Jahrzehnt konnte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), von Sicherheitsbehörden weitgehend unbehelligt, in Deutschland morden und leben. Drei Monate nachdem die Mordserie in ihrem Ausmaß und mit ihrem politischen Hintergrund allmählich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt war, veröffentlichte die Konrad Adenauer Stiftung (KAS) einen Artikel mit dem Titel An der Schwelle zum Linksterrorismus?. Darin warnt der Autor den Linksextremismus nicht zu unterschätzen:
»Die Bundesrepublik versteht sich als eine wehrhafte Demokratie. Auch wenn gegenwärtig alle Blicke auf die Verbrechen der Rechtsterroristen gerichtet sind, bedeutet das nicht, dass vom Linksextremismus gegenwärtig und künftig keine Gefahr mehr ausginge. […] Gerade in einer momentan sicherheitspolitisch höchst sensiblen Situation bedarf es erst recht des Blickes auch nach ›links‹, um zu verhindern, dass Entwicklungen erst wahrgenommen werden, wenn das Kind bereits in den berühmten Brunnen gefallen ist.« (Baron 2012: 58)
Es gilt demnach den Linksextremismus nicht trotz, sondern wegen des NSU in den Blick zu nehmen. Mit der heranzitierten wehrhaften Demokratie, die sich gleichermaßen gegen Extremismen von links und rechts verteidigen müsse, bewegt sich der Autor in dem Begriffshorizont und der Logik der Extremismustheorie. Diese Theorie bestimmt Extremismus als Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat, den sie als »erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit« (Backes 2010: 31) apostrophiert. Der Extremismus differenziert sich demzufolge danach, welchen Teil des Verfassungsstaats er abschaffen wolle (vgl. ebd. 22). Die Extremismustheorie leugnet zwar nicht, dass es Unterschiede zwischen links und rechts gebe, aber die Differenz Demokratie/Extremismus übersteige sie: »Daher ist es nicht angängig, unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft zwischen beiden [Rechts- und Linksextremismus] eine Differenzierung vorzunehmen.« (Jesse 2013: 510) Die Begriffe von Demokratie und Extremismus sind in Hinblick auf Staatsschutz konzipiert und damit wird Demokratie auf den Staat in seiner existierenden Form reduziert. Als Gegensatz der Demokratie sind Links- und Rechtsextremismus gleich, Differenzierungen nach der Bedrohung für konkrete Menschen müssen hinter diese Dichotomie zurücktreten.
Mit Übernahme der Regierungsgeschäfte von CDU/CSU und FDP 2009 kamen auf Bundesebene Akteur_innen in Gestaltungsfunktion, die mit verschiedenen Initiativen maßgeblich dazu beitrugen, diesen Ansatz aus seiner politikwissenschaftlichen Nische herauszuholen und ihm gesellschaftliche Relevanz zu verleihen. Dabei geht es vor allem darum, die Grenze des Demokratischen nach links zu schärfen, da die Grenze zum rechten Rand klar bestimmt scheint. Der vorliegende Beitrag soll diese Entwicklung nachzeichnen und dabei herausarbeiten, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung des Linksextremismus darauf abzielen, die unter Linksextremismus gefassten Phänomene klar vom demokratischen Spektrum abgrenzbar und pädagogisch bearbeitbar zu machen und existierende zivilgesellschaftliche Initiativen auf den Staatsschutzgedanken hin zu orientieren.
Die Struktur dieses Beitrags berücksichtigt, dass diese Entwicklung nicht auf die Bundesregierung beschränkt ist. Die Institution, die schon lange vor den aktuellen Entwicklungen die Grenze nach links klar bestimmt hatte, ist der Verfassungsschutz. In seinen jährlich erscheinenden Berichten werden anhand vermeintlich objektiver Maßstäbe die Ränder des demokratischen Spektrums bestimmt und Gruppierungen hinsichtlich ihres Gefährdungspotenzials bewertet (1). Jenseits des Verfassungsschutzes ist ein überschaubarer Kreis von Wissenschaftler_innen damit beschäftigt, mittels Meinungsforschung das Phänomen greifbar zu machen und das Extremismusmodell empirisch zu belegen (2). Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse sollen u.a. die Grundlage für pädagogische Interventionen bilden, wie sie durch die Initiative Demokratie stärken (IDS) gefördert werden. Dass es den Verantwortlichen in erster Linie um Staatsschutz und weniger um menschenverachtende Einstellungen geht, soll schließlich anhand der sogenannten Demokratieerklärung verdeutlicht werden (3).
1. Verfassungsschutz – Die Grenzschützer des Demokratischen
Ob eine Gruppe demokratisch oder extremistisch ist, wird in den Verfassungsschutzberichten der Länder und des Bundes expliziert. Gesellschaftlich wird diese Grenzziehung weitgehend unkritisch anerkannt. Wird eine Gruppe in den Berichten erwähnt, gilt dies als Indiz, in vielen Fällen sogar als Beweis dafür, dass sie verfassungsfeindliche und somit antidemokratische Ziele verfolge. Dabei spielen die Kriterien, anhand derer der Verfassungsschutz Gruppierungen beobachtet, und etwaige Inkonsistenzen bei ihrer Anwendung nur in Ausnahmefällen eine Rolle.
Der Maßstab, mit dem der Verfassungsschutz seine Beobachtungsobjekte beurteilen soll, ist laut seinem Auftrag die Freiheitlich demokratische Grundordnung (FdGO). Sie umfasst sieben Punkte, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil über das Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 bestimmte. Normiert wurde sie im Bundesverfassungsschutzgesetz. Demnach umfasst die FdGO a) die Volkssouveränität durch Gewaltenteilung, b) die Bindung von Exekutive und Judikative an geltendes Recht und der Legislative an die Verfassung, c) das Recht auf parlamentarische Opposition und weiter wörtlich »d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, e) die Unabhängigkeit der Gerichte, f) der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte« (BMI 2012: 433f.).
Die FdGO fixiert die formale staatliche Ordnung als Kernbestand der Verfassung und Rahmen, der als Teil eines Gerichtsurteils nicht aus einer öffentlichen parlamentarischen Debatte hervorgegangen ist und der Aushandlung entzogen bleibt (kritisch hierzu vgl. Liebscher 2012). Die Definitionsmacht über die Grenze des Demokratischen wurde dem Verfassungsschutz überantwortet und damit einer Institution, die sich in Mitteln und Zielen weitgehend einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzieht. Als Teil der Exekutive sind die Verfassungsschutzbehörden an die Vorgaben der Innenministerien gebunden, denen sie auch zuvorderst berichtspflichtig sind (vgl. BMI 2012: 444). Damit sind sie einem politischen Willen unterworfen, was die Inkonsistenzen erklärt, die im Vergleich eines Jahrgangs von Verfassungsschutzberichten zutage treten. Bspw. werden in Bayern alle Mitglieder der Partei DIE LINKE als Extremist_innen gezählt (vgl. STMI Bayern 2012: 208ff.), während der Bundesbericht nur einzelne Gruppierungen als linksextrem einstuft (vgl. BMI 2012: 167ff.), wogegen die Berichte aus Sachsen-Anhalt und Brandenburg die Partei nicht erwähnen (vgl. MI Sachsen-Anhalt 2012, MI Brandenburg 2012).
Ob eine Beobachtung unter Voraussetzung der gesetzlichen Kriterien gerechtfertigt wäre, ist für Außenstehende ohnehin kaum nachzuvollziehen, weil nur in Ausnahmefällen die Beobachtung anhand der Kriterien begründet wird. Der Bundesbericht bezieht sich im Abschnitt zu Linksextremismus zwei Mal auf die freiheitlich demokratische Grundordnung, wenn es zum Aktionsfeld »Antifaschismus« in nahezu identischem Wortlaut heißt:
»Die Aktivitäten richten sich nur vordergründig auf die Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen. Ziel ist vielmehr der Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als ›kapitalistisches System‹, um die angeblich diesem Gesellschaftssystem immanenten Wurzeln des ›Faschismus‹ zu beseitigen.« (BMI 2012: 213)
Belegt wird diese Aussage mit einem Zitat:
»Um diesen [rechtsradikalen] Bewegungen und ihren Ideologien die Grundlage zu entziehen, ist also nicht weniger erforderlich, als die derzeitigen Verhältnisse, das auf Tausch, Konkurrenz und Mehrwert basierende Gesellschaftssystem Kapitalismus zu überwinden.« (Ebd. 213)
Nebenbei sei hier bemerkt, dass die Gleichsetzung der FdGO mit dem Kapitalismus hier vom Verfassungsschutz vorgenommen wird, da keines der genannten Prinzipien (Tausch, Konkurrenz, Mehrwert) Schutzgut der FdGO sind. Von größerer Tragweite ist, dass die Verfassungsschutzberichte aufgrund fehlender Bezüge zu ihren rechtlichen Grundlagen, ihre Aufgabe, Teil der politischen Willensbildung zu sein, gänzlich verfehlen. Da diese Bezüge nicht hergestellt werden, ist es nicht möglich kritisch nachzuvollziehen, warum eine Gruppierung vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Obwohl der Verfassungsschutz seine eigenen Kriterien inkonsistent anwendet und Begründungen schuldig bleibt, gelten seine Berichte als seriöse Quellen. Die dort präsentierten Zahlen werden als Gradmesser für die Integrationsfähigkeit bzw. die Gefährdung der demokratischen Gesellschaft gewertet. Steigen die Zahlen der beobachteten Gruppierungen, ihrer Anhängerschaft oder der politisch motivierten Kriminalität (PMK), die über die Berichte verbreitet werden, steigt die wahrgenommene Bedrohung und repressive oder pädagogische Interventionen werden als notwendig erachtet.
2. Meinungsforschung – Die Behauptung des Linksextremismus
Einflussreich sind der Verfassungsschutz und seine Berichte vor allem, weil sie in Bezug auf den Linksextremismus die einzige Quelle sind, die Zahlen zu dem Phänomen nennen. So kommt der Extremismustheoretiker Armin Pfahl-Traughber in einer Expertise für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) nicht umhin, den Phänomenbereich über Daten aus dem Verfassungsschutzbericht zu bestimmen (vgl. Pfahl-Traughber 2010: 6ff.). In den letzten 30 Jahren hat sich die Extremismusforschung in den Politikwissenschaften vor allem theoretisch ihrem Gegenstand genähert, fordert aber beständig eine intensivere Untersuchung der als Extremismus gefassten Phänomene. Dennoch zeichnet sich die Forschung zu Linksextremismus durch ihre Lückenhafti...