1 Lasst Patienten mithelfen
von Dave deBronkart (ePatient Dave)
1.1 Einleitung
»Da ist etwas in Ihrer Lunge.« Mit diesen Worten, die Dr. Danny Sands am 3. Januar 2007 gegen 9.02 Uhr zu mir sprach, hat sich mein Leben verändert. Am Tag zuvor unterzog ich mich einer routinemäßigen Röntgenuntersuchung der Schulter und sie stießen »zufällig«, wie sie sich in der Medizin ausdrücken, auf etwas anderes, auf einen Fleck auf meiner Lunge, der nicht da sein dürfte. Der Radiologe Dr. Sands wusste, was er sah.
Der Fleck stellte sich als Nierenkrebs heraus, der sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, mit Metastasen überall, von meinem Oberschenkelknochen über die Zunge bis zum Schädel. Ich bin fast gestorben, wurde aber von großartigen Ärzten im Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston gerettet. Ich erhielt eine Behandlung, die in der Regel nicht erfolgreich ist, aber bei mir war sie es, und am 23. Juli – nur 6½ Monate später – war meine Behandlung abgeschlossen und mir ging es wieder besser. Die ganze Geschichte kann man in meinem ersten Buch »Laugh, Sing, and Eat Like a Pig« nachlesen. Sie können sich auch die Aufzeichnung einer meiner Reden auf meiner Website ePatientDave.com unter Videos ansehen.
In dieser Zeit wurde ich von großartigen Chirurgen, Onkologen, Krankenschwestern und Krankenpflegern behandelt. Ich selber tat alles nur denkbar Mögliche. So schloss ich mich z.B. online mit anderen Patienten zusammen, um mehr über meine Behandlung zu erfahren und mich darauf vorzubereiten. Mein Onkologe sagt heute, er wisse nicht, ob ich überlebt hätte, wenn ich mich nicht so stark engagiert hätte.
Nach meiner Krankheit wurde mir erst bewusst, dass ich wie Alice im Wunderland den Kaninchenbau hinabgestürzt war, zum »ePatienten Dave« wurde, darüber bloggte, plötzlich über meine Geschichte in Washington sprach und heute weltweit Reden darüber halte, wie mündige, engagierte, aktivierte ePatienten die Möglichkeiten der Medizin und des Gesundheitswesens verändern.
Aber ich habe auch herausgefunden, dass es ein Problem gibt, ein großes Problem sogar, und darum geht es in diesem Beitrag. Das Problem ist, dass man in unserer Kultur davon ausgeht, dass Ärzte alles wissen und Patienten nichts Brauchbares beitragen können. Es sind aber nicht nur Ärzte, die das denken, die meisten Patienten tun dies auch.
Aufgrund dieser kulturellen Vorgabe machen die meisten Patienten den Mund nicht auf. Und wenn engagierte Patienten es tun, werden sie oft belächelt oder mit einem höflichen »bleiben Sie vom Internet weg« abgewiesen. Das ist natürlich nicht überall der Fall. Wenn Sie eine solche Zurechtweisung, wenn auch auf freundliche Art und Weise, als Patient nicht selber erfahren haben, so fragen Sie Ihre Freunde und Nachbarn. Meiner Erfahrung nach muss man nicht lange suchen, um jemanden zu finden, der respektlos behandelt wurde.
Ein Hauptproblem besteht darin, dass Personen, die eine jahrelange harte Ausbildung absolviert haben und über jahrzehntelange Erfahrung verfügen, natürlich Grund haben, sich zu fragen, was denn Leute ohne diesen Hintergrund beitragen könnten. Die Antwort lautet schlicht und einfach: eine ganze Menge. Aber es durchzusetzen, bedeutet harte Arbeit. Und es stellt sich die Frage, wie sie etwas beitragen können. Meine Antwort darauf, die erfreulicherweise breite Zustimmung findet, ist gleichzeitig der Titel dieses Beitrags: Lasst Patienten mithelfen (Let Patients help!).
1.2 Grundlagen
1.2.1 Die Anfänge der Bewegung
In der Medizin hängt die Fähigkeit, einen wertvollen Beitrag zu leisten, sehr stark davon ab, wie viel man weiß. Nur wenige Menschen verstehen dies so gut wie »Doc Tom« Ferguson, der Gründer der ePatienten-Bewegung.
Im Jahre 1978 promovierte Tom Ferguson an der Yale Medical School. Er hat nie eine eigene Praxis betrieben, sondern war publizistisch tätig und konzentrierte sich bei dieser Arbeit darauf, sein Wissen an Patienten weiterzugeben, um diese zu befähigen, so viel wie möglich für sich selbst und ihre Familien zu tun.
Er wurde medizinischer Redakteur des »Whole Earth Catalog« und veröffentlichte die Zeitschrift »Medical Self-Care« sowie ein Buch mit dem gleichen Titel. Er trat in den populären TV-Sendungen »Today« und »60 Minutes« auf und wurde sogar in John Naisbitts bahnbrechendem Buch »Megatrends« aus dem Jahre 1982 erwähnt.
Ferguson wusste, dass wir selber eine Menge für uns und unsere Familien tun können, aber er wusste auch, dass unsere Fähigkeiten durch den begrenzten Zugang zu Informationen eingeschränkt sind. Als aber das Internet aufkam, veränderte sich das schlagartig. Er beobachtete, was Leute plötzlich im Netz tun konnten, und überlegte sich, wie er diese neue Art von vernetzten Patienten bezeichnen sollte. Er entschied sich schließlich für den Begriff »ePatient«.
Zunächst stand das »e« von ePatient für elektronisch. Im Laufe der Zeit kamen auch andere Bedeutungen hinzu: ermächtigt (empowered im Sinne von mündig), engagiert (engaged), ausgestattet (equipped im Sinne von ausgerüstet), befähigt (enabled im Sinne von Kompetenzen). Heute fügen einige gebildet (educated), erfahren (expert) und weitere Begriffe, die mit dem Buchstaben »e« beginnen, hinzu.
Doc Tom litt an einem multiplen Myelom und starb unerwartet im Jahr 2006 während einer ziemlich routinemäßigen Behandlung im Krankenhaus. Er war gerade mit der Recherche und dem Verfassen eines Artikels für das »Pioneer Portfolio« der Robert Wood Johnson Foundation beschäftigt, in dem die Grenzbereiche des Gesundheitswesens untersucht werden sollten, um besser zu verstehen, was die Zukunft bringen könnte.
Inhaltlich ging es um diese neue Art von Patienten und der Artikel trug den Titel »E-Patients: How they can help us heal healthcare«. Nach seinem Tod wurde der Artikel von seinen Kollegen fertiggestellt und man kann ihn kostenlos auf Englisch oder Spanisch von e-patients.net, dem Blog, den Tom Ferguson startete, herunterladen.
2009 beschlossen einige von Tom Fergusons Anhängern, dass es an der Zeit sei, die Arbeit zu formalisieren, und gründeten die Society for Participatory Medicine, die heute auf ParticipatoryMedicine.org zu finden ist. In Anerkennung der Bedeutung des Vernetzungsaspektes der Vision von Tom Ferguson und der neuen Art von Partnerschaft, die er sich vorgestellt hat, definierten sie partizipative Medizin als eine Bewegung, in der vernetzte Patienten sich von bloßen »Passagieren« zu verantwortungsbewussten »Fahrern« für ihre Gesundheit entwickeln und in der Gesundheitsdienstleister sie als vollwertige Partner adressieren und schätzen.
Zu Tom Fergusons Anhängern gehörte Dr. Danny Sands, der zur Zeit meiner Krebserkrankung mein Hausarzt war. Die Society for Participatory Medicine ließ ihren Worten Taten folgen und meinte, dass diese Vereinigung, da es ja um Partnerschaft ginge, nicht von einem Arzt allein geleitet werden könne. So wählten sie Dr. Sands und mich als Kovorsitzende für die ersten paar Jahre. Ein Patient als Kovorsitzender einer medizinischen Gesellschaft – wie verrückt ist das denn? Oder vielleicht doch nicht? Können Patienten vielleicht dazu beitragen, das Gesundheitssystem zu verbessern?
1.2.2 Ein kurzes Glossar
Die Kultur der Medizin und des Gesundheitswesens ist im Wandel begriffen, da unsere Überzeugungen darüber, wer was tun sollte und wer was tun kann, sich gerade ändern. Und wenn die Kultur sich ändert, verärgert das manchmal Leute, weil Person A etwas aus der neuen Perspektive heraus sagt, Person B es aber aus der alten Perspektive heraus versteht oder umgekehrt. Und wenn man nicht erkennt, dass sich Bedeutungen ändern, kann jeweils einer der Betroffenen der Ansicht sein, der andere lüge, sei einfach nur beleidigend oder ein Idiot. Es hilft, sich über Bedeutungen von Wörtern im Klaren zu sein. Im Folgenden deshalb einige Definitionen von Insiderbegriffen, die durchaus sinnvoll sind, für manche aber sonderbar klingen.
Empowered (befähigt): Eine befähigte Person weiß, was sie will, und meldet sich zu Wort. Eine nicht befähigte Person, die mit einer Herausforderung konfrontiert ist, wird sagen: »Es gibt nichts, das ich tun kann.« Das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Angesichts der gleichen Herausforderung denkt eine befähigte Person: »Was kann ich tun?« … egal, wie die Aussicht auf Erfolg ist.
Engagiert: Engagiert sein heißt, sich zu beteiligen, aktiv zu sein, zu reagieren. Ein engagierter Patient hört zu, antwortet, stellt Fragen, denkt für sich selbst und handelt. Ein nicht engagierter Patient sieht das Gesundheitswesen als Autowaschanlage: Er kurbelt die Fenster hoch, lehnt sich zurück und lässt sich berieseln.
Patientenengagement: In diesem Beitrag geht es darum, was die Branche als Patientenengagement bezeichnet. Die Verwendung des Begriffs ist sehr unterschiedlich und das verursacht Missverständnisse. Für manche geht es beim Begriff »Patientenengagement« einfach darum, dass Patienten ihre Tabletten einnehmen und mehr davon kaufen. Aber wie ich bereits sagte: Engagierte Patienten beteiligen sich aktiv an allen Aspekten ihrer medizinischen Betreuung und auch an der Ausgestaltung von Pflege an sich.
ePatient: Dieser Begriff bezeichnet einen Patienten, der mündig, engagiert, ausgestattet, befähigt ist (vgl. Kap. 1.2.1).
Medizinische Fachpersonen: Das sind geschulte medizinische Fachkräfte, die in Praxen, Krankenhäusern usw. arbeiten, in erster Linie Ärzte sowie Pflegefachpersonen.
Leistungserbringer: Damit sind Personen und Unternehmen gemeint, die medizinische Dienstleistungen anbieten.
Kostenträger: Das ist ein Begriff, der mich verrückt macht, denn dabei dreht sich alles um den Geldbeutel des Leistungserbringers. Die meisten Krankenhäuser bekommen die Rechnungen von Versicherungen bezahlt. Diese sind daher diejenigen, die als Kostenträger bezeichnet werden. Das ist ironisch, denn in den meisten Fällen erhalten die Versicherer ihr Geld von uns Versicherten. Wir sind diejenigen, die bezahlen, um Leistungen zu erhalten.
Patient: In diesem Beitrag bezeichnet »Patient« die Person, die aufgrund eines Problems oder einer Untersuchung medizinische Leistungen erhält. Oft schließt dies auch die Angehörigen als Betreuende des P...