»Es gibt schon ein richtiges Leben im falschen.«
Konvivialismus – zum Hintergrund einer Debatte
von Frank Adloff
Im Jahr 1972 erschien der Bericht an den Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums«, den das Exekutivkomitee des Club of Rome wie folgt kommentierte: »Wir sind überzeugt, dass eine klare Vorstellung über die quantitativen Grenzen unseres Lebensraums und die tragischen Konsequenzen eines Überschießens seiner Belastbarkeit dafür wesentlich ist, neue Denkgewohnheiten zu entwickeln, die zu einer grundsätzlichen Änderung menschlichen Verhaltens und damit auch der Gesamtstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft führen.« (Meadows et al. 1972) Diese Einschätzung und implizite Warnung hat nichts an Aktualität verloren – im Gegenteil. Der Klimawandel wird in seinen ökologischen und sozialen Auswirkungen immer konkreter und rückt in fassbare Nähe, die Endlichkeit fossiler Ressourcen ist keine abstrakte Größe mehr, das Artensterben schreitet voran, ökologisch motivierte Bewegungen und Parteien sind in einer Vielzahl von Ländern über die letzten Jahrzehnte gegründet worden, und die Menschheit scheint allmählich zu begreifen, dass großer Handlungsbedarf besteht. Doch zu wenig geschieht bisher auf globaler Ebene. Die dringend gebotene globale Kooperation der Staatengemeinschaft, die es bräuchte, um dem Klimawandel entschlossen gegenüberzutreten, stagniert seit Jahren. Hinzu kommen weitere massive Bedrohungen eines friedlichen und gerechten menschlichen Zusammenlebens: Große Teile Afrikas werden von Kriegen, korrupten Regierungen, Hunger und Vertreibung zerrüttet; die sozialen Ungleichheiten wachsen in vielen Ländern dramatisch, und die Wirtschafts-, Staatsverschuldungs- und Finanzkrise ist längst nicht überwunden. Das Projekt Demokratie ist vielerorts auf entkernte formale Prozeduren reduziert, und wir sind auch weiterhin Zeugen von Terrorismus, Bürger- und ethnischen Kriegen.
In dieser Situation hat eine Gruppe von hauptsächlich französischen Wissenschaftlern und Intellektuellen ein Manifest herausgegeben, das von Umkehr und einer positiven Vision des Zusammenlebens spricht: das konvivialistische Manifest. Nur eine weitere wohlfeile Kritik der Gesellschaft und ein gut gemeinter Appell zum Wandel? Was bewirkt schon der Aufruf einiger Philosophen und Sozialwissenschaftler, wird man fragen wollen und müssen.
Die Besonderheit des vorliegenden Manifests besteht darin, dass sich eine große Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ganz unterschiedlicher politischer Überzeugungen auf einen Text einigen konnte, der in groben Zügen benennt, welche Fehlentwicklungen zeitgenössische Gesellschaften durchlaufen. Hier identifiziert das Manifest zwei Hauptursachen: den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolutierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums. Zum anderen wird diesen Entwicklungen eine positive Vision des guten Lebens entgegengestellt: Es gehe zuallererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Beziehung zur Natur zu achten. Dazu wird der Begriff des Konvivialismus (con-vivere, lat.: zusammenleben) herangezogen. Der Begriff soll anzeigen, dass es darauf ankomme, eine neue Philosophie und praktische Formen des friedlichen Miteinanders zu entwickeln. Das Manifest will deutlich machen, dass eine andere Welt möglich – denn es gibt schon viele Formen konvivialen Zusammenlebens –, aber auch angesichts oben genannter Krisenszenarien absolut notwendig ist (wie eindringlich auf der Website der Konvivialisten herausgestellt wird, siehe www.lesconvivialistes.fr).
Der vorliegende Text ist das Ergebnis von Diskussionen, die anderthalb Jahre zwischen etwa 40 französischsprachigen Personen geführt wurden, so dass der Text nicht als das geistige Eigentum Einzelner gelten kann. Wie in der Einleitung des Manifests betont wird, besteht die große Leistung zunächst darin, dass man tatsächlich eine Einigung erzielen konnte, obwohl die Autoren und Autorinnen ansonsten bei einer großen Zahl von Themen ganz unterschiedlicher Auffassung sind. Dabei haben auch international bekannte Wissenschaftler und Intellektuelle wie Chantal Mouffe, Edgar Morin, Serge Latouche, Eva Illouz und Ève Chiapello mitgewirkt und das Manifest erstunterzeichnet. Politisch reicht das Spektrum vom Linkskatholizismus, über sozialistische und alternativ-ökonomische Perspektiven zu Mitgliedern von Attac hin zu Intellektuellen aus dem Umfeld des Poststrukturalismus. Auch international einflussreiche öffentliche Intellektuelle wie Jeffrey Alexander, Robert Bellah, Luc Boltanski, Axel Honneth und Hans Joas zählen mittlerweile zu den Unterzeichnern. Darüber hinaus, und dies scheint mir für die Frage nach einer politischen Wirkung des Texts besonders relevant zu sein, wurde das Manifest auch von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen in Frankreich unterzeichnet.
Die Initiative zu dem Manifest geht auf ein Kolloquium in Japan aus dem Jahr 2010 zurück. Unter dem Titel »De la convivialité. Dialogues sur la societé conviviale à venir« erschienen dazu 2011 die Kolloquiumsbeiträge von Alain Caillé, Marc Humbert, Serge Latouche und Patrick Viveret. Zusammen mit Alain Caillés kleinem Band »Pour un manifeste du convivialisme« (ebenfalls 2011 erschienen) gaben die Beiträge den Anstoß zur Debatte um den Konvivialismus.
Auf dem Kolloquium in Tokio wurden die Begriffe Konvivialität und Konvivialismus unter starker Bezugnahme auf die Schriften von Ivan Illich diskutiert. Der österreichisch-amerikanische Philosoph und Autor (1926-2002) war ein radikaler Technik- und Wachstumskritiker und führte 1975 in seinem Buch »Selbstbegrenzung« (im Orig.: »Tools for Conviviality«) eben diesen Begriff ein. Das Buch fand eine große internationale Resonanz und wurde in Frankreich von André Gorz bekannt gemacht. Ähnlich wie dem mit Illich befreundeten Erich Fromm ging es Illich um die technik- und kapitalismuskritische Wiederherstellung des Primats des ›Seins‹ vor dem ›Haben‹. Illich führt den Begriff »konvivial« ein, um eine Gesellschaft zu bezeichnen, die ihren Werkzeugen (dies können Techniken, aber auch Institutionen sein) vernünftige Wachstumsbegrenzungen auferlegt. Wird einer Technik keine Wachstumsbeschränkung auferlegt, zeigt sie nach Illich die Tendenz, dass ihre Leistungen sich ins Gegenteil verkehren. So sind Wissenschaft und Technik heute nicht mehr allein Problemlöser, sondern auch Produzenten von Problemen, worauf dann mit noch mehr Technik geantwortet wird. Auf diese Weise überschreiten gesellschaftliche Werkzeuge eine Schwelle und beschneiden individuelle Freiheit. Wenn bspw. in amerikanischen Städten wie Los Angeles das Auto zur einzigen Fortbewegungsmöglichkeit geworden ist, da man weder Fahrrad und Bus fahren noch zu Fuß gehen kann, dann hat sich innerhalb der Verkehrsinfrastruktur ein radikales Monopol von Automobilen herausgebildet, dem man sich nicht mehr entziehen kann und das die individuelle Freiheit unterminiert. Die Kontrolle über die gesellschaftlichen Werkzeuge sollte nach Illich nicht in den Händen von solchen Infrastrukturen und Expertensystemen liegen, sondern in denen der Allgemeinheit; nur so ist Konvivialität erreichbar. Dazu bedarf es aber einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Institutionen nach konvivialen Kriterien.
Eine zweite, viel ältere Wurzel des Begriffs der Konvivialität findet sich an einer ganz anderen Stelle: Der Wachstumskritiker Serge Latouche (2011: 66) weist darauf hin, dass der Begriff zuerst im frühen 19. Jahrhundert von dem Gastronomen und Philosophen Jean Anthèlme Brillat-Savarin erfunden und geprägt wurde. Brillat-Savarin benennt in seinem Buch »La physiologie du goût, ou Méditations de gastronomie transcendante« (1825) damit die Freude des Beisammenseins, der guten und freundschaftlichen Kommunikation im Rahmen einer Tischgesellschaft. Konvivialität beschreibt also den freundlichen Umgang, den Menschen untereinander pflegen können, sowie ein freiheitliches Verhältnis, das sie zu den »Dingen« (seien es Gegenstände, Infrastrukturen, Institutionen oder Techniken) haben können (vgl. Humbert 2011). Im Alltagsgebrauch der französischen Sprache ist der Ausdruck »convivial« ebenfalls fest etabliert.
Dem Band »De la convivialité« lassen sich zwei weitere Diskursstränge entnehmen, die in die Formulierung der konvivialistischen Vision einflossen. Zum einen das anti-utilitaristische Denken von Alain Caillé (und Marcel Mauss), zum anderen die Wachstums- und Ökonomiekritik von Patrick Viveret und Serge Latouche. Der Philosoph Viveret (geb. 1948) arbeitet seit geraumer Zeit an einer Neudefinition von Reichtum und Wohlstand und verfasste schon mehrere Berichte für die französische Regierung. Für ihn besteht die Wurzel der gegenwärtigen Krise in der strukturell...