TEIL II: ANALYSEN
»Streitet Dresden voran?«
Die Avantgarde-Funktion der Stadt für
gesamtgesellschaftliche Debatten seit 19891
Joachim Fischer
Zusammenfassung
Die soziologische Distanzbeobachtung rückt das PEGIDA-Ereignis in eine Kette von drei anderen, nicht aufeinander rückführbaren Debatten seit 1989, in denen die Dresdner Stadtgesellschaft offensichtlich Stellvertreterdebatten für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt übernommen hat: (1) Die umstrittene Dresdner Drehung der Revolution in Richtung Wiedervereinigung 1989; (2) der umstrittene Wiederaufbau der Frauenkirche als nachhaltiger Impuls für den bundesweiten stadtarchitektonischen »Rekonstruktivismus«; (3) der Dresdner Zank um das angemessene Gedenken am 13. Februar 1945 als Stellvertreterdiskurs und -ritual für alle zerstörten deutschen (und europäischen) Städte; (4) die PEGIDA- und NO-PEGIDA-Bewegungen als offener Streit um Fragen der kollektiven Identität von Gesellschaften angesichts weltgesellschaftlicher Mobilitäten. Ist Dresden eine Avantgarde der Civil Society?
Abstract
Sociology in this paper observes the PEGIDA-Phenomenon within a row of three other irreducible Dresden debates since 1989 in which the civil society of the city apparently has performed representative debates for the federal republic of Germany as a whole. (1) The controversal Dresden turn of the revolution in the former GDR 1989 towards reunification; (2) the controversial reconstruction of the Dresden »Frauenkirche« as lasting impact on recent historical reconstructivism in German modern cities like Berlin, Potsdam and Frankfurt; (3) the Dresden quarrel about the appropriate memory of the destruction of the city on 13th of February by allied bomb attacks – rethinking German victims and German offenders of the Nazi-regime in Dresden in a new way; (4) the social movements of »PEGIDA« and »NO-PEGIDA« since 2014 as an open quarrel about questions of modern collective identity in view of global migration. Does the city of Dresden have the status of an avantgarde for German Civil Society as a whole?
THESEN
Soziologie ist Distanzbeobachtung. Die erscheint im Fall Dresden besonders geboten. Im panischen Erschrecken angesichts des PEGIDA-Phänomens ist es zu einer denkwürdigen Pathologisierung, Psychiatrisierung und Pädagogisierung einer großen Stadt gekommen, lokal und medial. Wenn »PEGIDA« eine »Schande für Deutschland« ist, dann fällt auf Dresden ein tiefer Schatten stadtgesellschaftlichen Versagens. In der Folge der Stigmatisierung unterliegt Dresden im öffentlichen Urteil einer Pathologisierung (›hässliches Gesicht‹, ›schmutzige Seite der Zivilgesellschaft‹, ›Stadt des Ressentiments und des Hasses‹), Psychiatrisierung (›Selbstverkapselung‹ = Autismus; ›zu schöne Stadt‹ bzw. Selbstverliebtheit = Narzissmus; ›süße Krankheit gestern‹ = Nostalgie) und Pädagogisierung (permanent öffentlich ausgeflaggte Bekenntnistafeln zu den Menschenrechten auf dem Platz vor der Semperoper). In die öffentliche und intellektuelle Abscheu mischt sich ein Schuss Schadenfreude, dass das ›schöne Dresden‹ vom hohen Ross gefallen zu sein scheint, mit der erneut bestätigten Westerwartung einer steckengebliebenen Mental-Provinzialität Ostdeutschlands. Selbst ihre prominenten Stadtsänger rechnen nun endgültig mit der Stadt ab (Durs Grünbein). Hockt die Dresdner Stadtgesellschaft nach wie vor im sprichwörtlichen »Tal der Ahnungslosen«, bar jeder kognitiv-emotionalen Weitung für die Realität und für das selbstverständliche Ethos einer Weltgesellschaft?
Demgegenüber könnte die Soziologie das Angebot machen, eine stadt- und gesellschaftsgeschichtliche Distanz zu gewinnen. Die These ist: Bereits vor dieser plötzlichen, dann wiederkehrenden Dresdner Demonstrations-Emergenz seit 2014, die sich »PEGIDA« nennt, ist Dresden seit 1989 mehrfach Initiativpunkt von erregten Debatten gewesen, von nicht aufeinander rückführbaren, erbitterten Debatten, die die Stadtgesellschaft gespalten, durchgeschüttelt haben. Es ist nämlich durchaus nicht das erste Mal, dass Dresden in den letzten 25 Jahren auf irritierende Weise für einen unerwarteten, unabsehbaren Eklat und Elan in der deutschen Öffentlichkeit sorgt. Die Dresdner Streite sind – und das erscheint einer soziologischen Aufklärung bemerkenswert – jeweils ein gesamtgesellschaftlich je tief irritierender und zugleich äußerst relevanter und folgenreicher Zank in und für Deutschland gewesen, die jeweiligen Dresdner Debatten haben eine gesamtdeutsche, ja vielleicht eine europäische Funktion übernommen.
Die neuere und neueste Funktion Dresdens für gesamtgesellschaftliche Debatten beginnt Dezember 1989, als tausende von niemandem bestellte Dresdner den westdeutschen Bundeskanzler Kohl und seine Mannschaft bereits am Flughafen und dann abends bei seiner Rede mit Deutschlandfahnen und Rufen »Deutschland, einig Vaterland« begrüßen. Es geht hier nicht um die Rede eines führenden Politikers, der die differenten Erwartungen der Dresdner, der DDR-Verantwortlichen, der europäischen Nachbarn, der Weltöffentlichkeit zu balancieren versucht, sondern um den unerwarteten Effekt des unorganisierten Auflaufs Dresdner Bürger auf ihn und andere Entscheider der weiteren Entwicklung. Eine sorgfältige Vorbereitung und sogar Inszenierung des Kohl-Auftritts einschließlich der Rede seitens des Kanzleramts ist wahrscheinlich (Driftmann 2009), aber seitens der beteiligten Dresdner selbst handelte es sich um eine spontane, von nirgendwo her von langer Hand organisierte Bürgerinitiative – einen kollektiven Akteur, der sich selbst überraschte. Diese spontane Dresdner Bürgerinitiative hat den revolutionären Umbruch in der DDR mit einem Ruck Richtung Wiedervereinigung verschoben.
Das hat einen erbitterten Streit in der Dresdner Stadtgesellschaft ausgelöst: Hinsichtlich des revolutionären Umbruchs der DDR 1989 war Dresden nur ein Ort unter vielen, alles in allem wahrscheinlich nicht der wichtigste. Wichtig allerdings zunächst für die ›Friedlichkeit‹, weil am 8. Oktober 1989, einen Tag vor der alles entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration, nach einer Gewalteskalation am Dresdner Bahnhof die Bürgerkriegs-deeskalierende Dresdner Losung kam: »Man kann miteinander sprechen« (Dieckmann 2009). Entscheidend aber für alles Weitere: Die Initiative in Richtung Wiedervereinigung kam aus der Dresdner Stadtgesellschaft (und wurde dann auf den Leipziger Montagsdemonstrationen 89/90 in der Verwandlung des Rufes »Wir sind das Volk« zu »Wir sind ein Volk« zu einem sich verstärkenden Echo) – damit ist nicht gemeint, dass diese Option etwa die einhellige Meinung der Dresdner war. Ein solches Votum für die nationale Einheit war in der Stadtgesellschaft selbst heftigst umkämpft. Für die SED-Eliten, aber auch für die Bürgerbewegungen, die auf einen erneuerten Sozialismus oder Dritten Weg setzten, war bereits dieser aus Dresden kommende Impuls eine Schande für die Stadt. »Sie haben dem Bundeskanzler die Stadt überlassen«, schrieb der Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher peinlich berührt einen Tag später vom Ausnahmeabend des 18. Dezember zuvor in sein Tagebuch: »Von diesem Tag an hört die DDR auf zu existieren« (Rosenlöcher 1990, »19.12.«). Noch in einer unmittelbar vor dem westdeutschen Besuch bekannt gewordenen (westdeutschen) Umfrage hatten 70 % der befragten DDR-Bürger für die DDR als einen eigenen deutschen Teilstaat plädiert.
Wichtig ist die gesamtgesellschaftliche Funktion. Dresden hat mit dieser zivilgesellschaftlichen Initiative Ende 1989 und dem erbitterten Zank darüber eine gesamtdeutsche, ja europäische Funktion übernommen – stellvertretend für die damalige DDR und für die alte Bundesrepublik die Debatte über Möglichkeiten und Folgen der Einheit ausgelöst. Die streitende Dresdner Stadtgesellschaft war der gesamtdeutschen Debatte ein ausschlagendes Stück voraus. Die Blitzaktion dieser Bürgerinitiative für die nationale Option verriegelte nicht nur die Perspektive eines tief erneuerten sozialistischen Projektes auf dem Territorium der DDR, sondern setzte vor allem Westdeutschland unter einen erheblichen Druck. Ausgelöst von der Dresden-Schockwirkung war die bundesrepublikanische Gesellschaft auch unter ihren Intellektuellen (Walser vs. Grass) über die plötzlich neue, diskursiv längst verabschiedete Einheitsfrage tief zerrissen – das ist bekannt; auch dass es innergesellschaftlich zu einer Generationenbruchlinie zwischen den 68ern und den 89ern kam. Im Endeffekt war es nichts weiter als eine zivilgesellschaftliche Weichenstellung aus der Dresdner Stadtgesellschaft mit weltöffentlicher Ausstrahlung: »Die begeisterte Teilnahme der Bevölkerung [Dresdens] führte aller Welt den Einheitswillen der Ostdeutschen vor Augen«, erinnerte sich Condoleezza Rice, die Sowjetexpertin und Politikberaterin im Stab des damaligen Präsidenten der USA (Zelikow/Rice 1997: 214).
Eine ganz anders gelagerte Debatte hat Dresden mit der Initiative 1990 zum Wiederaufbau der Frauenkirche und eines ganzen innerstädtischen Stadtviertels ausgelöst, mitten in der sozialistischen Stadtmoderne, einer konsequenten Bauhausmoderne (Prager Straße, Fischer 2005), die Dresden bis 1989 durchaus eindrucksvoll verkörperte. Wieder eine spontane, nicht von oben organisierte Bürgerbewegung, der »Ruf aus Dresden«, samt einer Vereinsgründung, der Überlieferung nach die erste Vereinsgründung der neuen Civil Society. Es handelte sich ja nicht nur um die Rekonstruktion eines einzelnen (Kirchen-)Gebäudes, sondern der Schub der Initiative führte davon abgehoben zum nunmehr lange verhandelten, immer erneut konterkarierten Vorhaben, eine Vielzahl von Quartieren um den Kirchenbau in einem historisch informierten Stil wieder zu errichten, alte Straßenführungen wieder aufleben zu lassen. Anders als der Wiederaufbau der Frauenkirchenruine war dieses Rekonstruktions-Projekt noch riskanter, handelte es sich doch um leere Flächen mitten in der Stadt, die Raum für verschiedenste modernste Architekturvisionen boten.
Diese Wiederaufbau-Initiative der ›europäischen Stadt‹ in Dresden hat die ganzen 1990er Jahre ebenfalls zu einem erbitterten Streit in der Stadtgesellschaft geführt, in endlosen Bürgerversammlungen und Leserbrief-Debatten, hat Familien gespalten zwischen den Anhängern eines architektonischen Rekonstruktivismus und denen der Bauhausmoderne. Das war eine Fortsetzung einer schwelenden zivilgesellschaftlichen Debatte bereits zu DDR-Zeiten, die nirgends so verbissen wie in Dresden geführt wurde – zwischen den engagierten Bewahrern des bürgerlichen »Alten Dresdens« (Fritz Löffler), also der in Konturen erkennbar europäischen Stadt, und den energischen Befürwortern der sozialistischen Bauhausmoderne à la Le Corbusier (Prager Straße): »Das sozialistische Dresden braucht weder Kirchen noch Barockfassaden« (SED-Oberbürgermeister Weidauer, in Lühr 1991).
Soziologisch wichtig ist, zu erkennen, dass auch mit dieser strittigen Wiederaufbauinitiative die Dresdner Stadtgesellschaft eine Stellvertretungsdebatte für die Gesamtgesellschaft geführt hat: Über die architektonische Stadtgestalt in der modernen Gesellschaft, das Gesicht der Städte, ihre Ausdrucksgestalt. Sicher hat es bereits nach 1945 in deutschen Städten Weggabelungen entweder zur ›Rekonstruktion‹ (Münster) oder zur modernen Großstadt (Hannover) gegeben, auch in den 1980er Jahren in kleineren Städten (Hildesheim) neue historische Rekonstruktionen unter Beseitigung von modernen Bauten. Aber das mitten in großen Städten Bauten der Moderne abgerissen wurden, um zentrale Teile historischer Ensembles zu rekonstruieren, hat erst nach 1989 eingesetzt – eben mit Dresden, und zwar gegen erheblichen, gerade auch westdeutschen Widerstand gegen solches bürgerschaftliches Engagement zugunsten der okzidentalen Stadtgestalt.2 Dieser seit nun zwei Jahrzehnten sich hinziehende Dresdner Stadtrekonstruktionsprozess im Zentrum ist es, der deutschland- und europaweit die Aufmerksamkeit der in die Stadt strömenden Gäste gefunden hat – und Nachahmer bundesweit. Die Bewegung zum Wiederaufbau de...