»Der Fisch stinkt vom Kopf.«
Griechisches Sprichwort
Im Jahr 2005 begann ich meine Beratertätigkeit für einen globalen Automobilhersteller mit Hauptsitz in Deutschland, der mehr als 300 000 Mitarbeiter beschäftigte und über eine Marktkapitalisierung von 100 Milliarden Dollar verfügte. Die Marke des Unternehmens – das über starke historische und traditionelle Wurzeln verfügt – besitzt Kultcharakter. Darüber hinaus sind Produktentwicklung und Vertrieb in fast allen Ländern der Welt in ein komplexes System eingebettet. Es handelte sich um einen mächtigen und sehr beeindruckenden Konzern – und das ist er bis heute.
Ein Jahr zuvor waren den US-Behörden jedoch durch einen ehemaligen internen Prüfer Anschuldigungen zu missbräuchlich verwendeten Konten zugetragen worden. Zivil- und strafrechtliche Untersuchungen waren die Folge. Das Unternehmen zog ganze Teams von Anwälten und forensischen Buchhaltern zur Durchführung einer internen Untersuchung hinzu.
Es folgten jahrelange Untersuchungen, aus denen wiederum umfangreiche und kostspielige Sanierungsmaßnahmen resultierten, um das Fehlverhalten zu bereinigen. Schließlich erzielte das Unternehmen mit dem US-Justizministerium ein sogenanntes »Deferred Prosecution Agreement« oder DPA (Aufschub der Strafverfolgung). Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Absprache zwischen Unternehmen und den Strafverfolgungsbehörden, in der mit Genehmigung des Gerichts die Fakten über das angebliche Fehlverhalten, Geldbußen und Strafen vereinbart und dokumentiert werden, um ein Gerichtsverfahren zu vermeiden.
Meine Firma wurde ein Jahr nach Beginn der internen Untersuchungen hinzugezogen. Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, die Bücher zu korrigieren und die internen Kontrollen zu verbessern. Wir mussten die außerbilanziellen Konten wieder in die Bücher aufnehmen, frühere Aktionen, die zu einer schwarzen Kasse geführt hatten, rückgängig machen und Notfallmaßnahmen implementieren, die künftig unzulässige Zahlungen unterbinden sollten. Es handelte sich um einen äußerst komplexen Fall, der eine ganze Reihe buchhalterischer und rechtlicher Herausforderungen mit sich brachte.
Die größte Herausforderung jedoch war der Faktor Mensch.
Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn meines Einsatzes an einer Sitzung teilgenommen hatte und dem Leiter Vertrieb Schwellenländer vorgestellt wurde, dessen Zuständigkeit sich auf über 100 Länder erstreckte. Er hatte eine magnetische Anziehungskraft, mit der er Menschen in seinen Bann ziehen und dazu bringen konnte, sich wegen seiner sanften Stimme und seines Händedrucks wie die wichtigste Person im Raum zu fühlen. Dieser freundliche Mann war eng mit dem scheidenden CEO befreundet. Er war schon lange Jahre als Führungskraft tätig und hatte als solche das Geschäft in den Schwellenländern mit seinem ihm eigenen Unternehmergeist aufgebaut. Er war in der Firma hoch angesehen.
Und er war derjenige, der sich im Epizentrum des Skandals und der Korruption befand; die korrupten Konten waren sein Werk. Glücklicherweise hatte ich all das schon geahnt, bevor ich ihn kennenlernte, anderenfalls hätte er mich vielleicht auch für sich einnehmen können.
Intensive Ermittlungen, Faktensammlung und Rekonstruktionen von Sachverhalten waren nötig, aber schlussendlich wurde dieser leitende Angestellte (zusammen mit seinen Mitarbeitern) abgesetzt, und der neue CEO und der neu ernannte CFO manövrierten das in Schwierigkeiten geratene Unternehmen aus einer lähmenden Krisensituation in eine Phase fieberhafter und produktiver Aktivitäten. Sie bereinigten das Fehlverhalten und implementierten neue interne Kontrollstrukturen. Sie entdeckten einige andere korrupte Unternehmensbereiche und sanierten sie. Nach einigen Jahren Arbeit gingen sie dazu über, sich stärker mit systemischen Geschäftsfragen auseinanderzusetzen. Die Vorgehensweise beim Eintritt in Schlüsselmärkte wurde radikal verändert, die Komplexität des Prozesses reduziert bei gleichzeitiger Steigerung von Transparenz und Aufsicht. Das Unternehmen entschied sich auch für einen neuen Ansatz bei der Auswahl der Top-Führungskräfte und achtete auf deren ethisches Urteilsvermögen – insbesondere bezogen auf die Verwaltung von Unternehmensressourcen. Im Jahr 2006 unterstützten wir die Konzeption und Umsetzung eines neuen Programms zur Einhaltung der Vorschriften gegen Korruption. Die Unternehmensleitung hielt Hunderte von Betriebsversammlungen ab, in denen ethische Fragen offen angesprochen wurden, und nahmen sich der erforderlich gewordenen organisatorischen Veränderungen an.
Business as usual gab es nicht mehr. Innerhalb weniger Jahre war das Unternehmen wiederauferstanden und hatte sich ein neues starkes Fundament erschaffen, das durch eine auf Integrität ausgerichtete Kultur, eine vereinfachte Marktstrategie und stärkere Strukturen zur Einhaltung der Vorschriften, die das Risiko von wiederkehrendem und nicht behandeltem Fehlverhalten senken sollten, gekennzeichnet war. Ein weiterer Teil dieser Veränderungen war die Einführung einer effektiven Behandlung von Anschuldigungen sowie von Verfahren zu deren Untersuchung. So soll künftig sichergestellt werden, dass alle Hinweise auf Fehlverhalten angemessen identifiziert, untersucht und umgehend behoben werden.
Gegen Ende unseres Einsatzes drückte der Geschäftsführer mir gegenüber seine Dankbarkeit für eine neue Vision für den Wandel aus, die sie mit unserer Unterstützung eingeführt hatten. Die eingeleiteten Veränderungen haben weder die Innovationskraft noch die Gewinne oder den Unternehmergeist zunichte gemacht. Das Gegenteil war der Fall: Dieses Unternehmen wurde von der Nummer drei zur Nummer eins in seinem Segment und das viel schneller als erwartet.
Die Erholung von ethischen Krisen entspringt dem Inneren einer Organisation – durch Führungskräfte, die einen Geist von Integrität versprühen und Verantwortung ernst nehmen. Meine Firma fungierte einfach als Vermittler für Veränderungen, indem wir Erfahrung, eine unabhängige Perspektive und unseren einzigartigen Ansatz zur Verbesserung von Entscheidungsprozessen einbrachten.
Im Laufe der Jahre haben wir mit einer Reihe anderer großartiger Unternehmen, die sich in einer Krise befanden, ähnliche Wege beschritten. In diesem Buch habe ich ihre Geschichten gesammelt.
Das Problem
Die Intoleranz gegenüber Fehlverhalten in Unternehmen ist sowohl bei der Öffentlichkeit als auch bei den Behörden in den letzten zwei Jahrzehnten stark gestiegen, denn wir sind Zeugen einiger der größten Unternehmensskandale der Geschichte geworden. Der Enron-Skandal ereignete sich im Jahr 2001, aber die Nachwehen sind noch immer spürbar. Ich erinnere mich sehr gut an die hektischen Aktivitäten im Zusammenhang mit den Anforderungen an interne Kontrollen, die mit der Verabschiedung des Sarbanes-Oxley Acts von 2002 in den USA einhergingen. Die CEOs und CFOs, mit denen ich zusammengearbeitet habe, zögerten und waren unsicher, ob sie die Bestätigungen, die ihren Quartals-Finanzberichten beigefügt waren, unterzeichnen sollten. Die Unterzeichnung von Vollständigkeitserklärungen für die Prüfer lag schon immer in ihrer Verantwortung, aber jetzt lagen die Dinge anders, da sie sich mit einem wesentlich höheren persönlichen Haftungsrisiko für die Finanzen und deren Kontrolle konfrontiert sahen.
Enron wird weithin als abschreckendes Beispiel zitiert, zumal das Unternehmen prominente Vorstandsmitglieder und scheinbar beeindruckende Führungs- und Kontrollstrukturen hatte (ähnlich wie bei Theranosin in 2008). In den Jahren nach dem schockierenden und raschen Abstieg in den Bankrott wurden jedoch Fortschritte bei der Entwicklung von Prinzipien der Unternehmensführung gemacht und die Kontrollen bei der Finanzberichterstattung verstärkt.
Im Jahr 2003 gehörte ich zum Untersuchungs- und Sanierungsteam in einem Fall von Betrug in den Niederlanden, der als »Enron Europas« galt. Der Fall zeigte nichtamerikanischen Unternehmen auf, dass die entstandenen Probleme sich nicht auf die USA beschränkten, sondern dass sie den besten Unternehmen, den Ikonen des Geschäftslebens, überall auf der Welt passieren konnten. Die Menschen vor Ort waren schockiert über das Ausmaß des Fehlverhaltens, das in einem so ehrbaren europäischen Unternehmen festgestellt wurde. Immerhin handelt es sich um ein Unternehmen mit mehr als 100 Jahren Tradition und Geschäftstätigkeiten in den USA, Asien, Lateinamerika und Europa. Wir haben über zwei Jahre lang mit diesem Unternehmen gearbeitet und Verbindungen zu den Behörden geknüpft. Ein leitender Angestellter wurde schließlich zu einer Gefängnisstrafe in den USA verurteilt, andere wurden unter Hausarrest gestellt und mit einer Geld- und/oder einer Bewährungsstrafe belegt.
Wir spulen vor zur Finanzkrise von 2008 – ein massives weltweites Phänomen, das durch Subprime-Kredite und fehlerhafte Kapitalanlagen in den USA ausgelöst wurde. Die Folge waren enorme staatliche Rettungsaktionen für große Finanzinstitute, die zuvor als unfehlbar galten. Die Wellen der Erschütterung waren weltweit zu spüren, und mehrere Kontinente waren von Rettungsaktionen und Programmen zur Verstaatlichung von Finanzinstituten betroffen. Zwar verursachten die Gier der Unternehmen, betrügerische Absprachen und mangelhafte gegenseitige Kontrolle einen solch unglaublichen Schaden, aber es waren öffentliche Gelder, die zur Rettung dieser Institutionen eingesetzt wurden.
Hinter dieser Finanzkrise traten die Steuerhinterziehungs- und Geldwäscheskandale zutage, die den Schleier der Geheimhaltung in der Schweiz und anderen Nationen lüfteten und dann zu einer weltweiten Bewegung ausarteten. Kurz darauf folgte der LIBOR-Skandal, bei dem Bankiers bei der Festlegung von Zinsbenchmarks, die an Marktpositionen in Höhe von Billionen von Dollar gebunden sind, betrügerische Absprachen getroffen hatten.
Die Tatsache, dass die Öffentlichkeit nicht bereit ist, zu vergeben und zu vergessen, wird immer noch ständig in den Nachrichten, sozialen Medien und im Tagesgeschehen deutlich. Die vorherrschende Stimmung wurde in dem populären und von Kritikern hochgelobten Film The Big Short von 2015 eingefangen, einer zynischen Komödie, die die Menschen und Unternehmen, die die große Krise verursacht hatten, verspottet und gleichzeitig deren Auswirkungen beklagt. Heute ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in unsere Unternehmen tief und vielleicht dauerhaft erschüttert.
Das ist aber nicht alles. Jeder, der in einer regulierten Branche tätig ist, weiß, dass Gesetzgeber und Regulierungsbehörden in der ganzen Welt nach diesen Skandalen einen ganz anderen Ton angeschlagen haben – und es gibt einen unaufhaltsamen Marsch in Richtung mehr Regulierung und Compliance.
In den entsprechenden Branchen sind die durch einen Unternehmensskandal verursachten Kosten extrem hoch. Erschwerend kommt hinzu, dass schlechte Nachrichten jetzt auf Knopfdruck auf der ganzen Welt verbreitet werden können, sodass eine Krise einen Schneeballeffekt haben und somit immer schlechter aufgehalten werden kann. Niemand will mit einem von Skandalen geplagten Unternehmen in Verbindung gebracht werden.
Ein Skandal löst eine Krise aus. Fast sofort sinkt die Marktkapitalisierung, und in Zeitungen und Zeitschriften tauchen Fragen zu den Unternehmensspitzen auf. Die Kunden werden nervös, vor allem diejenigen, die komplexe, mehrjährige Projekte betreiben. Die Lieferanten machen sich Sorgen über die Liquiditätskrise und setzen ihre Kreditlinien herab. Die Banken machen sich Sorgen über mögliche Herabsetzungen der Bonität und Sicherheitsanforderungen und wissen, dass das Unternehmen zur Bewältigung der Krise mit erheblichen zusätzlichen Kosten konfrontiert sein wird. Das Management ist aus dem Konzept gebracht und konzentriert sich eher auf das Überleben als auf langfristige Pläne. Die Kapitalbeschaffung auf dem Markt wird schwierig, da zusätzliche Verbindlichkeiten durch neue Enthüllungen oder Verfahren entstehen können. Die Kapitalkosten steigen. Die Mitarbeiter werden nervös. Top-Angestellte suchen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Unternehmen beginnen dann, Mitarbeiter durch die Zahlung von Prämien zu binden, um wenigstens die wenigen Schlüsselpersonen besetzt zu halten. Zu gegebener Zeit wird eine Umstrukturierung angekündigt, um Geld zu sparen. Unter den Mitarbeitern breiten sich allmählich Enttäuschung und Unsicherheit aus, die Motivation sinkt. Mit einem sinkenden Aktienkurs steigt die Gefahr, Ziel einer Übernahme zu werden. Hunderte von Beratern werden für alle möglichen Projekte angeheuert, was lediglich steigende Kosten, Ungewissheit und Chaos verursacht.
Die Botschaft lautet schlicht und ergreifend: Wirtschaftskriminalität führt zu großen Kosten und schmerzvollen Konsequenzen.
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Wenn ein Unternehmen aufgrund von Fehlverhalten in eine Krise gerät, kann man nach der Ursache fragen. Liegt es daran, dass die Führungskräfte des Unternehmens gierig und korrupt waren, wie die Medien es postulieren und wie so viele Menschen gerne glauben wollen? Meine Erfahrung sagt mir, dass das nicht so ist. Ich habe mit zu vielen hochrangigen Wirtschaftsführern gearbeitet, um dieser bequemen, aber allzu simplen Sicht der Dinge Glauben zu schenken. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die diese großen Unternehmen leiten, hat den aufrichtigen Wunsch, das Beste für die Aktionäre, ihre Mitarbeiter und ihre Kunden zu tun.
Was ist dann also der Grund?
Ich bin der Meinung, dass gute Unternehmen mit klugen Führungskräften aufgrund systemischer Geschäftszusammenbrüche – struktureller, strategischer und kultureller Zusammenbrüche, die gleichzeitig im Unternehmen auftreten – sich »plötzlich« auf der falschen Seite des Gesetzes wiederfinden. Diese systemischen Zusammenbrüche von Organisationen sind das Ergebnis schlecht durchdachter (anfangs wohlüberlegter) von Spitzenmanagern getroffenen Entscheidungen; sie sind das Ergebnis von Managemententscheidungen, die auf Fehlurteilen basieren. Denn bereits Jahre vor einem Skandal wurden diese Führungskräfte über Anschuldigungen wegen Fehlverhaltens, in das Schlüsselpersonal und wichtige Marktbereiche einbezogen waren, informiert. In einem gewissen – allerdings unzureichenden – Umfang wurden Fakten zusammengetragen. Um das Schiff nicht ins Wanken zu bringen, entschieden sich diese Führungskräfte dafür, nicht tiefer zu bohren oder die angemessenen Gegenmaßnahmen durchzuführen. Sie ließen zu, dass ihr Urteilsvermögen durch den Wunsch getrübt wurde, den Ruf des Unternehmens und den der Superstars zu schützen, die große Ideen hatten und Großprojekte ablieferten.
Typischerweise haben in Fehlverhalten verwickelte Unternehmensleiter eigentlich nicht vor, sich falsch zu verhalten. Das Gegenteil ist der Fall: Sie streben danach, das Richtige zu tun, und sind davon überzeugt, dass sie und ihr Unternehmen das Richtige tun. Aber sie machen kleine, ganz allmähliche Schritte in die falsche Richtung, begünstigen Fehlverhalten und versäumen es, zu erkennen, wie weit sie auf dem rutschigen Abhang schon gerutscht sind, bis es zu spät ist. Systemische Zusammenbrüche können in den allerbesten Unternehmen auftreten, insbesondere in jenen, in denen hochintelligente, kreative und charismatische Führungskräfte tätig sind. Diese Superstar-Manager tendieren dazu, Fakten zu untergraben. Es fällt ihnen leicht, problematische Handlungen wegzudiskutieren, und sie wissen sehr gut, wie sie ihre Macht und ihren Einflu...