Geschichte der Krim
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Geschichte der Krim

Iphigenie und Putin auf Tauris

  1. 404 Seiten
  2. German
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Geschichte der Krim

Iphigenie und Putin auf Tauris

Über dieses Buch

Die Ende Februar 2014 beginnende sog. Krim-Krise endete mit der Annexion der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Halbinsel durch die RusslĂ€ndische Föderation. Dieses Ereignis machte nicht zuletzt der deutschsprachigen Öffentlichkeit deutlich, dass die Halbinsel Krim mehr oder weniger immer noch eine terra incognita fĂŒr sie ist, ĂŒber deren Vergangenheit selbst historisch Interessierte nur wenig wissen. Mit großem Erstaunen wird seitdem u.a. gefragt, warum die Krim fĂŒr Russland eine so große Bedeutung hat, dass sie bereit ist, die Ächtung der Weltgemeinschaft und wirtschaftliche Sanktionen auf sich zunehmen. TatsĂ€chlich ist die 1783 annektierte Krim fĂŒr die ĂŒberwiegende Zahl der Russen ein hoch emotionalisierter, unverĂ€ußerlicher Teil Russlands. Deren Geschichte ist aber sehr viel Ă€lter – und ĂŒber die lĂ€ngste Zeit spielten Russen dort keine Rolle. Griechische Kolonisten, eurasische Reitervölker, Krimtataren und andere gestalteten vielmehr ihr Schicksal. In diesem Buch von Kerstin S. Jobst, die eine international anerkannte Expertin der Krim-Geschichte ist, wird diese in ihrer KomplexitĂ€t erzĂ€hlt.

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1 Einleitung

„Versuche beim Generalstab die GrĂŒnde fĂŒr die Invasion in Erfahrung zu bringen.“ „Das ist keine Invasion“, entgegnete Tschernok lĂ€chelnd. „Was dann?“ schrie Sabaschnikow, den der Humor im Stich ließ. „Schalt mal den Moskauer Kanal ein“, sagte Tschernok [
]: „Wie bekannt
(wieso bekannt, wenn der Bevölkerung diesbezĂŒglich nichts mitgeteilt wurde)
haben breite Bevölkerungsschichten des urrussischen Territoriums (
) der Östlichen Mittelmeerzone
 (selbst in einer solchen Mitteilung wĂ€re es zuviel, das verwunschene Wort ‚Krim‘ zu benutzen)
sich an den Obersten Sowjet der Sozialistischen Sowjetrepubliken gewandt mit der Bitte, in die Union aufgenommen zu werden
(wieder eine LĂŒge, wieder eine gemeine Unterstellung – nicht so ist es gewesen, nicht so hatte die Bitte geklungen.) Auf der gestrigen Sitzung des PrĂ€sidiums des Obersten Sowjets der UdSSR wurde dieser Bitte im Prinzip entsprochen. Sie bedarf jetzt nur noch der BestĂ€tigung durch die Deputierten auf der nĂ€chsten Tagung des obersten Sowjets.“1
Bei einer flĂŒchtigen LektĂŒre der obigen Zeilen und bei Ausblendung der (anachronistischen) Bezeichnungen wie „Oberster Sowjet der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, welcher bekanntlich mitsamt der UdSSR 1991 aufhörte zu existieren, könnte man meinen, es handele sich um einen Dialog im Zusammenhang mit der sich zwischen Ende Februar und Ende MĂ€rz 2014 vollziehenden MachtĂŒbernahme der RusslĂ€ndischen Föderation in der zur Ukraine gehörenden Autonomen Republik Krim. In dieser Phase wurden nach den monatelangen Protesten des „Euromaidans“ und dem RĂŒcktritt der ukrainischen Regierung Ende Januar 2014 bekanntlich aus Kreisen des Kremls vermehrt Verlautbarungen ĂŒber das zukĂŒnftige Schicksal der Krim laut. Deren staatsrechtliche Zugehörigkeit zur Ukraine war von der Mehrheit der Bevölkerung der RusslĂ€ndischen Föderation und ihren politischen Vertretern stets als Stachel im Fleisch empfunden worden. Russische MilitĂ€rs auf der Halbinsel versuchten, dortige Politiker zur Zusammenarbeit mit den russlĂ€ndischen Vertretern zu ĂŒberzeugen; gleichzeitig begannen auf der Halbinsel stationierte Föderationstruppen, mehr oder minder verdeckt, strategisch wichtige Punkte einzunehmen. Zugleich erklĂ€rte der PrĂ€sident der RusslĂ€ndischen Föderation Vladimir V. Putin (*1952) am 23. Februar, dass Vorbereitungen zur „RĂŒckholung der Krim zu Russland“ getroffen werden mĂŒssten, „um den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, ĂŒber ihr eigenes Schicksal zu entscheiden.“2 Nach gewalttĂ€tigen Auseinandersetzungen zwischen krimtatarischen und prorussischen DemonstrantInnen in Simferopol’ (russ./ukr.; krimtat. Aqmescit) und dem vermehrten Auftreten prorussischer, aber nicht gekennzeichneter KombattantInnen sprach sich das Krim-Parlament am 6. MĂ€rz fĂŒr einen „Wiederanschluss“ an Russland aus. Zehn Tage spĂ€ter folgte eine (nach ukrainischem Recht illegale) Volksabstimmung, in der sich nach veröffentlichten, aber stark anzuzweifelnden Zahlen 96,77 Prozent der Wahlberechtigten fĂŒr den Anschluss der Krim an die RusslĂ€ndische Föderation aussprachen. Einen Tag spĂ€ter wurde ein Beitrittsantrag an Moskau gestellt, der am 21. MĂ€rz 2014 durch den russlĂ€ndischen Föderationsrat ratifiziert wurde.
Soweit also die RealitĂ€ten des Jahres 2014, die der russisch-sowjetische Schriftsteller Vasilij P. AksĂ«nov (1932‒2009) in seinem Anfang der 1980er Jahre erschienenen Roman „Die Insel Krim“, einem „hellsichtigen Krim-Roman“, wie es der Journalist Reinhard Veser 2015 zu Recht bemerkte,3 vorwegnahm. Der Autor ging von der Vorstellung aus,
„[w]as wĂ€re, wenn die Krim wirklich eine Insel wĂ€re? Was wĂ€re, wenn die Weiße Armee 1920 wirklich die Krim vor den Roten zu verteidigen gewußt hĂ€tte? Was wĂ€re, wenn die Krim eine zwar russische, aber doch immerhin westliche Demokratie neben dem totalitĂ€ren Kontinent entwickelt hĂ€tte?“4
Die Krim – nicht als reale Halbinsel, sondern als fiktive Insel – ist in dem Werk eine Art hypermoderne slavische Variante Taiwans; eine zwar nicht prosowjetische, aber prorussische Vereinigung mit dem Namen „Union des Gemeinsamen Schicksals“ unter der Ägide des als eine Art russischen James Bond stilisierten Journalisten Andrej Lučnikov. Dieser hofft auf die Wiedervereinigung mit dem Mutterland und die daraus erwachsende Demokratisierung der Sowjetunion. Er und seine AnhĂ€nger werden getĂ€uscht, denn statt einer friedlichen Verschmelzung „beschloß das Komitee fĂŒr Körperkultur und Sport beim Ministerrat der UdSSR gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium der UdSSR [
], im Schwarzmeersektor einen Feiertag des MilitĂ€rsports unter der allgemeinen Bezeichnung ‚FrĂŒhling‘ durchzufĂŒhren.“5 Und dieser „FrĂŒhling“ war nichts anderes als die Krim-Invasion.
Im Roman beendet der sowjetische Einmarsch die Entwicklung einer ĂŒbernationalen Krim-IdentitĂ€t. Deren AnhĂ€nger slavischer, tatarischer und sonstiger Herkunft nennen sich „Yaki“, was eine Verballhornung des turksprachigen Wortes yahßi („gut“) darstellt. In diesem satirischen Science-Fiction-Roman reprĂ€sentieren diese letztlich ein wenig erfolgreiches Konzept, da sie denjenigen unterliegen, die fĂŒr den Anschluss an die Sowjetunion und damit fĂŒr das Primat des Russischen plĂ€dieren.
GegenwĂ€rtig und in der sogenannten RealitĂ€t kann nicht abschließend beurteilt werden, wie zufrieden die BewohnerInnen der Krim mit der neuen „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“, wie es zumeist heißt, sind. Nach neueren Umfragen ist zumindest bei der großen Mehrheit keine deutliche Identifikation mit der RusslĂ€ndischen Föderation feststellbar, bezeichnen doch 63 Prozent „den Ort, an dem ich lebe“ als ihre Heimat – und das ist die Krim, nicht Russland.6
Heimat – das war die Krim ĂŒber die Jahrtausende fĂŒr viele Völkerschaften: Die am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres gelegene Halbinsel Krim löste, so heißt es treffend bei dem britischen Journalisten Neal Ascherson (*1932), zu allen Zeiten ein „fast sexuelles Besitzverlangen“ aus7, also nicht nur im Jahr 2014 bei RussInnen. Sie war das klassische, mit der hellenistischen Sagenwelt auf das Engste verbundene Taurien sowie griechische und römische Kolonie. Sie wurde seit jeher von zahllosen Völkerschaften durchzogen, erobert und besiedelt: Frauen und MĂ€nner der Kimmerier, Skythen, Griechen, Ostgoten, Chasaren, Genuesen, Venezianern, Turko-Tataren und BewohnerInnen der Kiewer Rus’ bewohnten und beherrschten sie genauso wie RussInnen und UkrainerInnen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Sie alle und viele weitere prĂ€gten die Krim nachhaltig kulturell und in ihrer jeweiligen Zeit hĂ€ufig auch politisch. Nicht zuletzt der seit Ă€ltesten Zeiten multikonfessionelle und ‐kulturelle Charakter der Halbinsel zwischen dem Schwarzen und dem Azovschen Meer macht sie bis heute zu einem faszinierenden Gebiet nicht nur fĂŒr WissenschaftlerInnen, sondern auch fĂŒr Reisende, Kulturinteressierte und PolitikerInnen.
Die Krim entzieht sich auch heute noch jedem exklusiven nationalen Besitzanspruch. Daran konnten auch die ethnischen SĂ€uberungen des 20. Jahrhunderts nichts Ă€ndern, weder der von den Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1944 auf der Halbinsel verĂŒbte Völkermord an großen Teilen der jĂŒdischen Bevölkerung noch die von Josef Stalin (d.i. Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili; 1878‒1953) verfĂŒgten Deportationen der Krimdeutschen (1941) oder die der KrimtatarInnen, BulgarInnen und GriechInnen im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg.
Seit FrĂŒhjahr 2014 ist die Krim de facto Teil der RusslĂ€ndischen Föderation, völkerrechtlich aber immer noch der Ukraine zugehörig. Ungeachtet der ĂŒber die ZeitlĂ€ufte wechselnden Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Akteuren und Imperien war und ist sie national heterogen. Dies liegt nicht zuletzt an der seit den 1990er Jahren aus dem zentralasiatischen Exil zurĂŒckströmenden krimtatarischen Bevölkerung, die ihren Anteil daran hat, dass die Halbinsel aus nördlicher (russischer und westeuropĂ€ischer) Perspektive als eine exotische, orientalische Gegend erscheint.8 Seit der zweiten russischen Annexion von 2014 – die erste war bekanntlich die 1783 von Katharina II. (1729‒1796) verfĂŒgte – mussten viele von ihnen der erst kĂŒrzlich wiedererlangten Heimat allerdings wieder den RĂŒcken kehren.
Zur gefĂŒhlten Exotik der Krim trĂ€gt ohne Zweifel auch das im Vergleich zu den zentralrussischen und ‐ukrainischen Gebieten mediterrane Klima in der Bergregion und der touristisch bereits seit dem 19. Jahrhundert erschlossenen SĂŒdkĂŒste bei. Der Zarin Katharina II. (und in der Folge den BewohnerInnen sowohl des zarischen als auch des „roten“ Imperiums) galt dieses landschaftlich reizvolle Gebiet gar als die „Perle des Imperiums.“9
Mit ihren diversen kulturellen Schichten, den Hymnen zahlloser LiteratInnen ĂŒber sie und ihrer wechselvollen Geschichte – immer auch im Zusammenhang mit Imperien stehend und als ewiger Transitraum – zog und zieht die Halbinsel eine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Sie birgt aber auch heutzutage eine besondere politische Brisanz: Durch die von JuristInnen mehrheitlich als völkerrechtswidrig eingeschĂ€tzte Einnahme der Krim durch die RusslĂ€ndische Föderation im MĂ€rz 2014 wurde sie ein innereuropĂ€isches Krisengebiet, auch wenn glĂŒcklicherweise die russische MachtĂŒbernahme dort weit weniger Menschenleben gekostet hat als die immer noch andauernden Konflikte in der Ostukraine mit einem Blutzoll von mittlerweile (d. h. im Februar 2019) mehr als 12.000 Menschenleben. In jedem Fall liegt die AktualitĂ€t des Themas „Krim“ auf der Hand10; dies zumal hier ein bislang nicht gelöster und vermutlich fĂŒr lange Zeit existierender Frozen Conflict – so steht zu befĂŒrchten – im östlichen Europa entstanden ist, welcher auch im Kontext globaler Krisen relevant ist, muss die RusslĂ€ndische Föderation doch von vielen AkteurInnen auf den Feldern globaler Sicherheit/Politik als wesentlicher, aber schwieriger Partner gesehen werden. Das seit einigen Jahren vermehrte Interesse an der Schwarzmeerregion im Allgemeinen und der Halbinsel Krim im Besonderen in Medien, Politik und Öffentlichkeit kann bislang nicht mit wissenschaftlich fundierter und zugleich lesbarer Literatur befriedigt werden. Hier setzt das vorliegende Buch an. Trotz wertvoller Einzelstudien11 liegt nĂ€mlich bislang in keiner Sprache eine Synthese der Geschichte der Krim seit den ‚mythischen Zeiten‘ bis in die Gegenwart vor.12
FĂŒr ein deutschsprachiges Publikum erschließt sich die Relevanz einer Überblicksdarstellung zur „Geschichte der Halbinsel Krim“ leicht: Nicht nur ehemalige BĂŒrgerInnen der DDR haben schon einmal den berĂŒhmten Krymskoe, den Krimsekt13, genossen oder zumindest von diesem gehört. Goethes und Glucks Umsetzungen des „Iphigenie auf Tauris“-Themas gehören zum deutschsprachigen Kanon und sind somit Vielen noch aus der Schule bekannt. Das von zahlreichen deutschsprachigen Reisenden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert weithin popularisierte AufspĂŒren einer mittelalterlichen „deutschen Krim“ mit Bezug auf die ehemals dort ansĂ€ssigen Krimgoten ist Vielen ebenfalls ein Begriff. Bekannter noch sind Adolf Hitlers (1889‒1945) auch daraus resultierenden Versuche der Umsetzung seiner bizarren „Gotenland“-Phantasien im Rahmen des verbrecherischen Ostfeldzugs im Zweiten Weltkrieg.14 Als nach dem Zerfall der Sowjetunion die Tourismusindustrie des ehemaligen „Allunions-Sanatoriums“ – eine Bezeichnung fĂŒr die Krim, die auf Lenin selbst zurĂŒckgehen soll – eingebrochen war, verzeichnete man seit der Jahrtausendwende wieder einen ansteigenden Besucherstrom. Auch aus dem deutschsprachigen Raum kamen TouristInnen, wobei die seit 2005 EU-BĂŒrgerInnen einseitig von Kiew gewĂ€hrte Visumsfreiheit hilfreich war; ĂŒbrigens folgte erst im Jahr 2017 nach langen Verhandlungen ein vergleichbares Entgegenkommen durch die EuropĂ€ische Union gegenĂŒber der Ukraine. Die Halbinsel war in den sog. Nuller-Jahren eine Destination kommerzieller Reiseanbieter geworden und wurde nicht mehr nur von Spezialveranstaltern fĂŒr Bildungsreisen angesteuert. Sowohl BĂŒrgerInnen der ehemaligen DDR als auch die große Zahl deutschstĂ€mmiger ehemaliger sowjetischer StaatsbĂŒrgerInnen hatten und haben eine ganz besondere Bindung an die Krim, war es doch das Traumziel von Millionen Menschen des Ostblocks. Viele von ihnen haben die Halbinsel z. B. im internationalen Pionierlager „Artek“ nahe des an der malerischen SĂŒdkĂŒste gelegenen StĂ€dtchens Gurzuf (ukr.: Hurzuf) bereits als jugendliche Pioniere kennen- und lieben gelernt.
Wenn man ĂŒber die Faszination nachdenkt, welche die Krim im deutschsprachigen Raum geweckt hat, ist ein Name nicht zu vergessen: Joseph Beuys (1921‒1986), ein deutscher KĂŒnstler von Weltgeltung. Dieser erzĂ€hlte gern, dass er 1944 als deutscher Soldat auf der Halbinsel in seinem Stuka von einer feindlichen Flakstellung abgeschossen und von Krimtataren gerettet worden sei, die seine Wunden mit Filz, Fett und Honig geheilt hĂ€tten; Materialien, die in seinem spĂ€teren Werk eine große Rolle spielen sollten.15 Der auch im deutschsprachigen Raum beachtliche buchhĂ€ndlerische Erfolg des auf der Krim spielenden Romans „Medea und ihre Kinder“ von Ljudmila Ulickaja (*1943) oder die sich 2007/2008 als Publikumsmagnet erweisende Skythen-Ausstellung (Berlin, MĂŒnchen, Hamburg) sind weitere Indikatoren fĂŒr das Interesse an der Geschichte dieser Region. All dies (und weitere ungenannte) sind VersatzstĂŒcke, die mit dem Begriff „Krim“ assoziiert werden, sich aber vielfach nicht in einen grĂ¶ĂŸeren Kontext einordnen lassen. Diese – ausdrĂŒcklich auch wissenschaftlichen AnsprĂŒchen genĂŒgende und mit einem Anmerkungsapparat versehene – Monographie zum Thema soll die bislang existierende eklatante LĂŒcke schließen. Auch von Seiten der Wissenschaften ist das Interesse an der Schwarzmeerregion und damit an der Krim mittlerweile ausgeprĂ€gt, wird doch vermehrt nach einer spezifischen Geschichtsregion „Schwarzmeerraum“ gefragt.16 In Analogie zu Fernand Braudels Konzeption einer Mittelmeerregion mit eigenen, in dieser Kombination einzigartigen Merkmalen ist auch in Zukunft eine verstĂ€rkte universitĂ€re und wissenschaftliche Befassung mit der Region zu erwarten. Es versteht sich somit von selbst, dass die Krim nicht unabhĂ€ngig von ihren BezĂŒgen zum Schwarzen Meer und dem Hinterland zu verstehen und zu beschreiben ist.
Die auf den ukrainischen „Euromaidan“ ab November 2013 folgende Besetzung der Krim durch Russland und die sich daran anschließende Annexion im MĂ€rz 2014 wurde von ExpertInnen (die Verfasserin dieser Zeilen nimmt sich davon nicht aus) nicht vorhergesehen. Auch wenn Zukunftsprognosen glĂŒcklicherweise nicht zum Berufsbild der professionalisierten Geschichtswissenschaft gehören, so wurde nun doch deutlich, wie groß der Bedarf an fundierten Aussagen zur Geschichte der Krim und der Region ist.
Der Bogen dieser Überblicksdarstellung ist weit zu spannen. Sie geht im Wesentlichen, jedoch nicht strikt, chronologisch vor: Sie beginnt mit der Krim als Mythenraum, beschrĂ€nkt sich dabei aber nicht auf die antike Sagenwelt, denn die Krim regte – und dafĂŒr ist Josef Beuys nur ein Beispiel – zu allen Zeiten die Phantasie ihrer Besucherinnen und Besucher an; die Krim als mythischer locus spielt selbst in kollektiven Narrationen von NationalitĂ€ten eine Rolle, die man nicht unbedingt mit der Halbinsel assoziiert.
Ungeachtet ihres großen mythischen Potentials war die Krim zu allen Zeiten aus der Perspektive der jeweiligen Machtzentren Peripherie: Dies bereits im Altertum, in dem uns Herodot eine der ersten Beschreibungen der Tauris und der von ihm Skythen genannten Bevölkerung ĂŒberlieferte. Die BewohnerInnen griechischer Kolonien an der KĂŒste lebten in einer mal friedlichen, mal gewaltsamen Wechselseitigkeit mit (halb‐)mobilen Großgruppen, die aus dem nördlichen eurasischen Raum auf die Krim vordrangen. Der Kontakt zwischen diesen und den hellenistischen Kolonien bzw. Rom/Byzanz beförderte die sehr lange wirkungsmĂ€chtige Vorstellung ĂŒber die Krim als ein Randgebiet, als Überlappungszone zwischen Zivilisation (oder der Oikumene, wie in der griechisch-römischen Antike die gesamte bewohnte bekannte Welt bezeichnet wurde) und Barbarei – ein Begriffspaar, welches selbstredend mit entsprechender Distanz zu verwenden ist, aber im Krim-Diskurs zeitĂŒbergreifend eine große Rolle gespielt hat. Die periphere Lage schloss nicht aus, dass auf der Krim nicht auch schon vor dem Krimkrieg (1853‒1856) oder der Konferenz von Jalta (1945) Weltgeschichte entschieden worden ist: Im letzten vorchristlichen Jahrhundert etwa geriet Mithridates VI., König von Pontus, durch seine Ambitionen, seinen Einflussbereich auf kleinasiatische Gebiete auszuweiten, in Konflikte mit Rom. Dieses wollte seine Macht am nördlichen Schwarzen Meer nicht aufgeben, was zu den sog. Mithridatischen Kriegen (89‒63. v. Chr.) fĂŒhrte. Dem byzantinischen Einfluss ist es schließlich zu verdanken, dass die Krim in spĂ€terer Zeit ein Ort des FrĂŒhchristentums wurde. FĂŒr Goten und Hunnen und viele weitere Völkerschaften, fĂŒr die die Wissenschaft keine oder nur wenig prĂ€zise Namen gefunden hat, wurde sie Durchzugsgebiet oder (temporĂ€re) Heimat. Seit dem 7. Jahrhundert schließlich wurden die Chasaren zu einer regionalen Ordnungsmacht, ehe im 10. Jahrhundert ein neuer Akteur immer wieder an die Ufer des Schwarzen Meeres und auch auf die Krim vorstieß, ohne sich allerdings dauerhaft festsetzen zu können: die Kiewer Rus’. Im 13. Jahrhundert etablierten die Seerepubliken Venedig und Genua entlang der KĂŒste Handelskolonien, zwei Jahrhunderte spĂ€ter entstand das...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Karten
  5. 0 EinfĂŒhrung. Zur Terminologie und Schreibweise
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Die Krim als Mythen- und Legendenraum
  8. 3 Von Griechen, Skythen und anderen
  9. 4 Neue Akteure: Sarmaten und andere
  10. 5 Die Mithridatischen Kriege. Die Krim unter der Herrschaft Roms
  11. 6 Über Goten, Hunnen, die sog. „Völkerwanderung“ und ihre Folgen fĂŒr die Krim
  12. 7 Die Krim als Ort des FrĂŒhchristentums
  13. 8 Die Krim zwischen Ostrom, Krim-Gotthia und dem Chasarenreich
  14. 9 Die Krim zwischen der Kiewer Rus’, Byzanz und seminomadischen Gruppen aus dem eurasischen Raum
  15. 10 Von Kumanen, Polowzern und Kiptschaken
  16. 11 Der vierte Kreuzzug (1202‒1204) und seine Folgen fĂŒr die Krim
  17. 12 Pax Mongolica, Handel, Sklaverei und der „Schwarze Tod“
  18. 13 Das FĂŒrstentum Theodoro und ein litauisches Intermezzo
  19. 14 Das Krim-Chanat. Die AnfĂ€nge
  20. 15 Die Etablierung des Krim-Chanats
  21. 16 Das Krim-Chanat. Osmanische SuzerĂ€nitĂ€t und osteuropĂ€isches Gleichgewicht
  22. 17 Sklaverei und der Topos des krimtatarischen Kriegers
  23. 18 Nogaier als Faktor der frĂŒhneuzeitlichen Krim-Geschichte
  24. 19 Kosaken als Faktor der frĂŒhneuzeitlichen Krim-Geschichte
  25. 20 Innere VerhĂ€ltnisse im Chanat der Krim
  26. 21 Im Vorfeld der Annexion. Das Erstarken des RusslĂ€ndischen Reiches, der „Griechische Plan“ und der Vertrag von KĂŒĂ§ĂŒk Kaynarca von 1774
  27. 22 „UnabhĂ€ngiges“ Krim-Chanat und russische Annexion (1774‒1783)
  28. 23 Die ersten Jahrzehnte russischer Herrschaft ĂŒber die Krim
  29. 24 Die multiethnische und multireligiöse Krim unter zarischer Herrschaft: Die tatarische Bevölkerung – GeschlechterverhĂ€ltnisse
  30. 25 Die multiethnische und multireligiöse Krim unter zarischer Herrschaft: ‚Alte‘ und ‚neue‘ BewohnerInnen – die wirtschaftliche Entwicklung
  31. 26 Der Krimkrieg: Ein ‚moderner‘ Krieg?
  32. 27 Der Krimkrieg: Die Ereignisse auf der Halbinsel
  33. 28 Nach dem Krieg: Die Krim zwischen 1856 und 1905
  34. 29 Die krimtatarische Bevölkerung nach dem Krimkrieg
  35. 30 Die Revolution 1905 und ihre Folgen auf der Krim
  36. 31 Der Erste Weltkrieg und die Revolution in der Peripherie. Die Halbinsel Krim 1917‒1920
  37. 32 Die Halbinsel Krim 1920‒1941
  38. 33 Die Krim im Zweiten Weltkrieg
  39. 34 Die Deportationen 1944/45 und ihre HintergrĂŒnde
  40. 35 Die Krim nach dem Zweiten Weltkrieg
  41. 36 Nach der Auflösung der Sowjetunion. Die Krim als Teil der unabhĂ€ngigen Ukraine
  42. 37 Wieder russisch?! Die Krim nach der zweiten Annexion von 2014
  43. AbkĂŒrzungsverzeichnis
  44. Abbildungsverzeichnis
  45. Quellen- und Literaturverzeichnis
  46. Personenregister
  47. Ortsregister