Konkrete Utopien
Wer stellt den Impfstoff als Gemeingut bereit? Die WHO könnte Wegbegleiter für innovative Forschungs- und Finanzierungsmodelle sein, über die zivilgesellschaftliche Organisationen und private Unternehmen kooperieren. — Silke Helfrich
Zukünftige Politik müsste sich stärker öffnen für die Gestaltungskraft der in der dezentralen DIY-Community miteinander vernetzten und die infizierte Welt »reparieren« wollenden Menschen. — Andrea Baier/Christa Müller
Selbst in einer Pandemie, in der die Rettung menschlichen Lebens im Vordergrund steht, führen große Teile der Care-Arbeit weiter ein Schattendasein. Im Zentrum stehen stattdessen Unternehmen, die profitorientiert für den Markt produzieren. — Gabriele Winker
COVID-19-Feminismus ist Care-Feminismus. In-Sorge-Bleiben bedeutet, aus dem Bewusstsein zu handeln, dass die Krisenreaktion immer nur so gut ist wie die schlechteste Antwort für die Allerschwächsten. — Elke Krasny
Keine andere Naturkatastrophe bedroht uns Einzelne so direkt wie COVID-19. Dadurch stiftet uns das Virus eine Ethik der Gemeinsamkeit. Und diese Gemeinschaft ist größer als das menschliche Kollektiv allein. Sie umfasst die ganze Erde. — Andreas Weber
Commons statt MarktStaat
Mit der Pandemie alte Denkmuster überwinden
Silke Helfrich
Wäre dieser Beitrag eine Sonate, dann mit folgendem Grundton: aus Unterscheidung und Verbindung entsteht ein gutes Stück, aus Trennung und Isolation wird Katzenmusik.
In Corona-Zeiten wird das am vielzitierten Social Distancing deutlich. Wir sollen ›sozialen Abstand nehmen‹, heißt es. Dabei brauchen wir während einer Pandemie körperlichen Abstand & soziale Nähe, um physisch und mental gesund zu bleiben. Wenn das Augenmerk nur auf dem Abstand und nicht zugleich auf der Nähe liegt – auf der Pflege der vielfältigen Beziehungen, die uns tragen – geraten nicht nur wichtige Handlungsoptionen, sondern auch entscheidende Akteure aus dem Blick. Philosophisch gesehen zeigt sich im Trennen und isolierten Betrachten von Phänomenen – als Modus des Verstehens und Seins –, dass etwas Elementares nicht verstanden wurde: In realweltlichen sozialen Prozessen geschieht alles aus Beziehungen heraus und durch Beziehungen hindurch, meist aus gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen, den Interdependenzen. Natürlich können wir das eine vom anderen, das Ich vom Du unterscheiden, und doch ist es irreführend, das Ich ohne das Du zu denken, so als sei beides voneinander getrennt. Es ist irreführend, weil wir voneinander abhängig sind, weil wir an-einander und durch-einander zu dem werden, was wir als Ich erleben und verstehen. Uns Menschen entspricht es nicht, ›vereinzelte Einzelne‹ zu sein. Dies gilt für unser Selbstverständnis genauso wie für unsere Beziehungen zur belebten und unbelebten Welt.
MarktStaat by design
Dass Unterscheidung wichtig ist, Trennung jedoch naiv, zeigt sich auch an der allgegenwärtigen Denkfigur von Markt versus Staat. Sie werden als zwei verschiedene Entitäten angesehen, die miteinander ringen und bestenfalls – wie auf einer Wippe – ein ›Gleichgewicht‹ suchen. Dabei wiegt je nach politischem System, Wirtschaftsmodell oder augenblicklicher Lage mal ›der Staat‹ schwerer und mal ›der Markt‹. Während der Corona-Krise hat der Staat in fast allen Ländern der Erde schlagartig und mächtig an Gewicht zugelegt. Diese Krise zeige, wie viele Krisen zuvor, dass »jede Gesellschaft einen handlungsfähigen und kompetenten Staat braucht«, schreibt der keynesianische Ökonom und ehemalige Chef-Volkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD), Heiner Flassbeck (2020). Tatsächlich wird es nach den wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Jahres 2020 schwieriger sein, dieser Erkenntnis entgegenzutreten, doch auch in diesem Statement gelingt kein Absprung von der Fixierung auf zwei mächtige Institutionen: Markt und Staat. Im Frühjahr 2020 ließ der (deutsche) Staat ›den Markt‹ einen als überdehnt empfundenen Moment am oberen Ende der Wippe in der Schwebe, was sogleich zu großer Nervosität führte, obwohl der Schwebezustand nur kurz anhielt. Bereits eine Woche nach dem Lockdown, am 24. März 2020, äußerte sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zu den historisch beispiellosen Hilfspaketen von fast eineinhalb Billionen Euro zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen. Er begründete die eilige Verabschiedung unter anderem damit, dass »viele Unternehmen schon nächste Woche Löhne zahlen müssen«. Daher »drängt die Zeit«, so Altmaier in der Pressekonferenz dieses Tages. Die Inhaberin eines kleinen Ladens für allerlei Nützliches in meiner Heimatstadt meinte indes zum selben Zeitpunkt, dass das Geld in einem Unternehmen doch zwei Monate reichen müsse, sonst sei das Problem vielleicht nicht nur Folge der Krise. Ein Grund für Altmaiers Eile liegt in der engen Verknüpfung zwischen Staat und Markt. Sie ist der Schlüssel zum Verständnis vieler Phänomene, die wir mit und ohne Corona-Krise erleben: Unser Staatswesen und die Staatsmacht sind nicht nur vom Wohl und Wehe der Marktwirtschaft abhängig. Sie sind ihr ausgeliefert.
Dabei geht die allgegenwärtige Rahmung der Diskussion als ›Markt oder Staat‹ (die einen plädieren gebetsmühlenartig für mehr Markt, die anderen routiniert für mehr Staat) an der Tatsache vorbei, dass es sich um einen Markt-Staat by design handelt. Nicht nur der Staat ist vom Markt, auch der Markt1 ist existentiell vom Staat abhängig. Die Krise trifft daher sowohl das ökonomische als auch das politische System ins Mark. Dieser Umstand macht es so schwer, über Markt und Staat hinauszudenken, obwohl gerade das in der Krise beider Systeme Not tut. Natürlich sind Markt und Staat nicht einfach über einen Kamm zu scheren. So haben staatliche Institutionen die Möglichkeit, sich über Konkurrenz- und Gewinnmaximierungsprinzipien hinwegzusetzen. Auch das zeigt die Krise. Doch die Grundmuster (national-)staatlichen Handelns sind seit Jahrzehnten beinahe weltweit unschwer als marktbasiert und marktdominant identifizierbar, ganz gleich, ob Anreize für das Verhalten von Bürger*innen gesetzt oder Institutionen aufgebaut, ausgestattet und verwaltet werden. In Krisenzeiten tritt dies nur deutlicher ins öffentliche Bewusstsein. Beispielsweise erwiesen sich die Gesundheitssysteme in Ländern, wo sie marktwirtschaftlich funktionierten (USA) oder in diese Richtung umgebaut wurden (Italien) als geradezu tödlich krisenuntauglich. Der Corona-Krisenalltag führte uns im Zeitraffer vor, in welches Dilemma das Markt-Staats-Denken führt: Die Wirtschaft wird ›heruntergefahren‹ (die Natur bekommt eine Atempause). Wir brauchen weniger Geld (worüber bemerkenswerterweise keine öffentliche Diskussion stattfindet), wir fliegen weniger, wir brauchen weniger Benzin und kaufen weniger ein. Und eben dieses Kein-Geld-Brauchen, nicht mehr fliegen und weniger einkaufen, tritt uns umgehend als Katastrophe gegenüber, die es zu bekämpfen, zu überbrücken, zu vermeiden gilt. Erneut hat man über Abwrackprämien für noch funktionstüchtige Autos nachgedacht. Alles wird darauf ausgerichtet, den Konsum – respektive die Konjunktur – anzukurbeln. Kaum fragen wir uns im heruntergefahrenen Modus »Brauch ich das wirklich?«2, erweist sich die Überlegung als »systemgefährdend«.3 Selbst Bündnis90/Die Grünen forderte 250-Euro-Einkaufsgutscheine für alle.
Das Problem ist also ein Doppeltes: Zum einen ist unser Wirtschaftssystem so beschaffen, dass trotz üppiger gesamtwirtschaftlicher Ausstattung Katastrophe und Kollaps imaginiert werden, sobald wir nur zwei bis drei Monate die Energie drosseln, ausruhen, Pause machen, durchatmen, nichts tun, von Vorräten leben, teilen und abspecken; und das in einer der reichsten Industrienationen der Welt, in der die Bedürfnisse der meisten Menschen erfüllt sind oder durch Umverteilung rasch erfüllt werden können. Nach wenigen Monaten Corona-Krise ist vom Wiederaufbau die Rede, als hätten wir gerade einen Krieg überlebt. Zum anderen ist unser Staatswesen so aufgebaut, dass alles, was wir als Staatsaufgabe betrachten, davon abhängt – Gehälter, Steuereinnahmen, Sozialkassen –, dass gerade in der Güterproduktion niemand ausruht, Pause macht, durchatmet und für eine Weile nichts tut, selbst wenn Verstand und Zustand der Umwelt dies gebieten.
Daher gerät zur Staatsaufgabe, entweder den Konsum anzukurbeln, damit die Konjunktur wieder anspringt, oder die Konjunktur anzukurbeln, damit der Konsum wieder anspringt. Dreht sich das Rad nicht weiter, droht Systemkollaps. Ein mehr als kurzfristiges Runterregeln scheint undenkbar und genau da liegt ein Fehler im Design. Neu ist er nicht, nur offensichtlicher angesichts der Tatsache, dass die nächste Pandemie ganz sicher kommt. Ähnlich wie in der Geschichte vom Ulmer Spatz, in der die Ulmer von einem Vogel lernen müssen, den Balken längs statt quer durchs Stadttor zu tragen, ist diesem Designfehler nur durch Outside-the-box-Denken zu begegnen, jenseits von Markt und Staat, jenseits eingeschliffener Konzepte klassischer und neoklassischer Ökonomie sowie jenseits »imperialer Lebensweisen« (Brand/Wissen 2017). Hier kommen Commons ins Spiel, also das, was Menschen miteinander selbstbestimmt, selbstorganisiert, bedürfnisorientiert und ohne Vermarktungsinteresse tun und zu tun in der Lage sind.
Von Commons zu Commoning
Wer Commons mit Caritas verwechselt, auf reinen Altruismus, sporadische Nachbarschaftshilfe oder bedingungsloses Geben verkürzt, übersieht die in ihnen steckende transformatorische Kraft. Wer sie vorwiegend oder fast ausschließlich als historische Rechtsform, als Projekt, Initiative oder Gemeinschaft denkt, wird kaum erfassen, dass in diesem Konzept ein Schlüssel zum Umgang mit Krisen und den Designfehlern des Markt-Staats-Denkens liegt.
In der jüngeren Commons-Literatur wird der dem US-amerikanischen Historiker Peter Linebaugh zugeschriebene Satz »There is no commons without commoning«4 häufig zitiert. Er drückt aus, dass es nicht um Commons (ein Substantiv) geht, sondern um ein Tun, commoning (ein Verb). Es geht demnach um Praktiken, die das Gemeinsame herstellen und deren Handlungsmuster sich von jenen unterscheiden, die wir im MarktStaat für selbstverständlich halten. Praktiken des Gemeinsamen sind fast überall auf der Welt lebens- und in Krisenzeiten sogar überlebenswichtig, wie die Kulturhistorikerin Rebecca Solnit in A Paradise Built in Hell (2009) eindrücklich beschreibt. Sie sind nicht nur älter als die kapitalistische Marktwirtschaft, sie werden auch die moderne Nationalstaatlichkeit überdauern. Trotzdem finden diese Praktiken des Gemeinsamen weder Eingang in die mediale Berichterstattung – wenn doch, dann im Ton der Barmherzigkeit, im Modus der Nachbarschaftshilfe oder als nette Story am Rande – noch erkennen Entscheidungsträger*innen, dass sich damit eine Tür öffnet, die es erlaubt, aus der Umklammerung des MarktStaats herauszutreten. Es ist eine Art Lockdown des Denkens, der Commons samt der Akteure, die sie ins Werk setzen, aus der Wahrnehmung schiebt. Infolgedessen wird die Kraft der Selbstorganisation weder thematisiert noch systematisch gefördert. Das zeigt sich beim Blick auf die globale Wissensallmende.
Wissen ist Macht, Freies Wissen ist mächtiger
Freies Wissen ist im Sinne des Gemeinwohls mächtiger als jenes Wissen, das zur Ware gemacht wird. Nur wenn Wissen großzügig weitergegeben wird, lässt sich das Beste für alle zu den bestmöglichen Bedingungen schöpfen. Wissen weiterzugeben oder ›intellektuelle Eigentumsrechte‹ (wie bei freier Software oder in der Wikipedia) so auszurichten, dass die Wissensallmende geschützt bleibt, gehört zu den wiederkehrenden Motiven in vielen Bereichen. Auch quelloffene Hardware löst Probleme, die die Logik des Marktes erst schafft. Sie könnte die Last der COVID-19-Pandemie auf das globale Gesundheitswesen lindern, argumentieren Forscher*innen eines internationalen Projekts, das von der University of Sussex koordiniert wird (Chagas et al. 2020). In Kombination mit 3D-Druck könne frei verfügbares Design, etwa für Mikroskope und Beatmungsgeräte, der flächendeckenden Gesundheitsversorgung unmittelbar zu Gute kommen. »Gemeinproduktion statt Massenproduktion« sei »das Gebot de...