LiebeLesen
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Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung

  1. 803 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung

Über dieses Buch

Unsere Vorlesung versucht, einem verführerisch vielfältigen und unendlich verwirrenden Thema näher und auf die Schliche zu kommen: der Liebe. Und zugleich einer Tätigkeit und kulturellen Praxis, die Literatur erst zum Leben erweckt: dem Lesen. Was haben Leben und Liebe mit dem Lesen, mit dem Akt der Lektüre zu tun? Es geht beim Lesen immer um die Sehnsucht nach einer Ganzheit von Leben und Liebe, um die Herstellung jener Totalität, die uns Menschen im realen Leben grundlegend entzogen ist. Allein die Literatur erlaubt es uns, über die Totalität eines Lebens mit seinen Anfängen und seinen Enden zu verfügen. Und genau dies gilt auch und gerade für die Liebe und deren Geschichten und Vorgeschichten.

Von der Liebe und dem Abendland (Denis de Rougemont) bis zu den Fragmenten einer Sprache der Liebe (Roland Barthes), den Schreibformen des Marquis de Sade, von Giacomo Casanova oder Italo Calvino über die Liebes- und Lesekristallisationen Prousts bis hin zur Liebe in den Zeiten der Cholera (Gabriel García Márquez), von der Liebe zwischen zwei Dichtern und der Transzendenz ihres Begehrens (Juana Borrero) zu den Liebesgeschichten zwischen den Sprachen und Kulturen (Assia Djebar), hin zu den Theorien der Liebesgeschichten nach der Liebe (Michel Houellebecq), von Tristan und Isolde über Don Juan sowie Romeo und Julia bis zu Sab, Emma Bovary und den Versatzstücken aktueller Massenkommunikation zwischen Lese- und Liebesrevolution soll das Verhältnis von Liebe, Leben und Lesen, von Literatur und Leidenschaft leidenschaftslos analysiert werden.

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Information

Teil III: Drittes Hauptstück zu einer Geschichte von Liebe und Lesen

Guillaume-Thomas Raynal oder Figuren und Funktionen des Lesens in der europäischen Aufklärung

Beginnen wir unsere Reise durch die Geschichte im 18. Jahrhundert. Denn dieses Siècle des Lumières, dieses Jahrhundert der Aufklärung ist zugleich auch ein Jahrhundert der Lektüre und des Lesens. Wie wir schon in unserer theoretischen Annäherung an die Geschichte des Lesens sahen, ereigneten sich umwerfende Umwälzungen des Lesens in einem Jahrhundert, das im Zeichen jener großen politischen Revolution steht, die von Frankreich aus die Welt erhellte. Daran war, um es etwas verkürzt zu sagen, das Lesen nicht unschuldig, oder anders: Ohne die Macht und Kraft der Lektüre wäre die Französische Revolution nicht vorstellbar gewesen.
Wir können aus heutiger Perspektive von einer europäischen Doppelrevolution sprechen, die mit der industriellen Revolution in England und der politischen in Frankreich die entscheidenden Veränderungen brachte, die weit über das 18. und 19. Jahrhundert hinaus ihre Wirkung entfalten sollten. Vergessen wir neben dieser europäischen aber nicht die amerikanische Doppelrevolution, die mit der antikolonialen Unabhängigkeitsrevolution der USA begann und mit der gegen die Sklaverei gerichteten Revolution auf Haiti nach über einem Jahrzehnt erbitterter Kämpfe im Jahre 1804 zu ihrem Abschluss ­gelangte.
In seiner berühmten, 1815 in seinem Zufluchtsort Kingston verfassten Carta de Jamaica verlieh Simón Bolívar seiner Hoffnung auf eine nationale und kontinentale Befreiung vom spanischen Joch Ausdruck, wobei er sich explizit auch auf jenen Autor bezog, dessen Name seit 1780 die Titelseite der erstmals 1770 veröffentlichten Histoire des deux Indes zierte:
Trotz alledem werden die Mexikaner frei sein, denn sie haben die Sache des Vaterlandes ergriffen, entschlossen, ihre Vorfahren zu rächen oder diesen ins Grab zu folgen. So sagen sie bereits mit Raynal: Endlich ist die Zeit gekommen, um den Spaniern Gräueltaten für Gräueltaten heimzuzahlen und diese Rasse von Massenmördern in ihr Blut oder ins Meer zu werfen.1
Abb. 62: Simón Bolívar (Caracas, Neugranada, 1783 – Santa Marta, Großkolumbien, 1830), circa 1823–1825.
Simón Bolívar zitierte in seiner berühmten Carta ganz bewusst Raynal, den Verfasser eines der großen Bestseller des 18. Jahrhunderts und Organisator der ­wichtigsten Kolonialenzyklopädie der Aufklärung, weil dessen Lektüre in jenen Kreisen, die sich für eine Unabhängigkeit, für die Independencia der spanischen Kolonien einsetzten, selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte. In diesem für ein Verständnis des Libertador grundlegenden Text griff der Vertreter der jungen kreolischen Eliten des künftigen Venezuela auf den Namen des französischen Philosophen nicht etwa zurück, um seine politischen und ideologischen Überzeugungen zu begründen, sondern um sich seiner eher als Waffe im Kampf der Texte und Diskurse gegen ein Spanien zu bedienen, dessen zwischenzeitlich verstärkte Truppen in den Kolonien eine Reihe von Siegen über die Aufständischen errungen hatten. Der Rückgriff auf die Lektüre und den Namen Raynals war von bedeutender Schlagkraft im Kampf um die Zukunft der künftigen amerikanischen Republiken.
Gerade in den Kolonien galt Raynal als der führende Vertreter der französischen Aufklärung und als einer jener entscheidenden Köpfe, welche die Französische Revolution in die Wege geleitet hatten. Doch ohne jeden Zweifel handelte es sich bei Bolívars Verweis auf Guillaume-Thomas Raynal um ein eher zweischneidiges Schwert im Kampf um die Unabhängigkeit. Denn der französische philosophe – der bei den aufgeklärten amerikanischen Kreolen noch immer unbestritten als der Verfasser der Histoire des deux Indes galt – war zwar für seine vehementen Ausfälle gegen die Spanier und ihr ebenso ungerechtes wie ineffizientes Kolonialsystem berühmt geworden, doch wussten die Angehörigen der kreolischen Oberschicht nicht weniger um seine Angriffe auf die Dekadenz, die Trägheit und Unfähigkeit der Bewohner des südlichen Amerika.
Dabei schloss der französische Aufklärer sehr wohl die Kreolen in sein negatives Bild mit ein, denen er und andere europäische Autoren des 18. Jahrhunderts vorwarfen, sich nicht selbst regieren und eigene Regierungsformen geben zu können. Raynal war deshalb alles andere als ein Parteigänger dieser Kreolen, die als Trägerschicht der Unabhängigkeitsrevolution die Geschicke der entstehenden Republiken an sich zogen. Derlei Negativbilder und Anschuldigungen hatten den Ruf und das Prestige des französischen Philosophen in den intellektuellen Zirkeln der amerikanischen Kolonien daher auch stark beschädigt.
Nicht umsonst hatten in Neu-Spanien die herausragenden ‚mexikanischen‘ Vordenker wie Francisco Xavier Clavijero oder Fray Servando Teresa de Mier y Guerra eine Polemik gegen europäische Philosophen wie de Pauw, Robertson oder Raynal in Gang gesetzt. Sie hatten sich in den sogenannten Disput um die Neue Welt gegen jene Vertreter der europäischen Geisteswelt eingeschaltet, die versucht hatten, die abwertenden Urteile Montesquieus oder Buffons gegenüber Amerika und seinen Bewohnern weiter zu fassen und zu radikalisieren.2 Auch in der sogenannten Berliner Debatte um die Neue Welt ging es wesentlich um das Bild der Bewohner Amerikas und die vorurteilsbeladenen Ansichten, die von Europa aus im Jahrhundert der Aufklärung über diese verbreitet wurden.3
Wenn die Rezeption des Raynal’schen Werkes in Lateinamerika auch von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet war, so konnte die Histoire des deux Indes – und insbesondere ihre zahlreichen, gegen die spanische Kolonialverwaltung gerichteten Anklagen und Vorwürfe – doch als eine wichtige Waffe für jene, die für eine politische Selbständigkeit der spanischen Kolonien kämpften, von großem Nutzen sein. Denn die Lektüre und die Berufung auf die aufklärerischen Texte, die im Namen Raynals veröffentlicht wurden, konnten sehr wohl die Legitimität und die Herrschaftsbefugnis des spanischen Mutterlandes in seinen überseeischen Kolonien untergraben. Um diese subversive Funktion ging es im Kern. Die angeführte Passage belegt, dass keineswegs nur Simón Bolívar um die subversive Kraft dieses vielgestaltigen und widersprüchlichen Werkes wusste. Auch die spanische Kolonialverwaltung kannte diese Gefahr, so dass man von kolonialspanischer Seite her bald schon versuchte, ein Gegengewicht zur gefähr lichen Wirkung von Raynals Attacken auf die aufgeklärte kreolische Elite zu schaffen. Lesen war im Zeitalter der Aufklärung eben eine subversive Angelegenheit: Es konnte staatsumstürzende, und in diesem Falle die Independencia fördernde Folgen nach sich ziehen: eine hochpolitische Tätigkeit also, mit der wir es hier am Übergang zum 19. Jahrhundert zu tun haben. Leser waren potentiell gefährlich!
Dies mag die dauerhaften Anstrengungen von spanischer Seite erklären, eine offizielle Geschichte des eigenen Kolonialreiches und der heroischen spanischen Conquista vorzulegen.4 Sie beruhte auf einigen der spanischen Krone allein zugänglichen Informationen – und hierzu zählten nicht nur die Kolonialarchive, sondern auch eine Reihe von Berichten spanischer Reisender, die in spanischem Auftrag die Kolonien besuchten. Längst war ein Kampf um die sich im 18. Jahrhundert durch die Leserevolution herausgebildete Öffentlichkeit und die sogenannte ‚öffentliche Meinung‘ entbrannt.
Den Spaniern gelang es freilich außerhalb Spaniens nicht, gegen die so erfolgreiche Geschichte beider Indien vorzugehen und deren Attacken in die Vergessenheit zu drängen. Guillaume-Thomas Raynals Hauptwerk war nicht allein in Frankreich, sondern auch in ganz Europa und weit darüber hinaus ein absoluter Verkaufsschlager, der die öffentliche Meinung ganz wesentlich prägte. Aller Widersprüche und Ambivalenzen zum Trotz, welche die Wirkung der Histoire des deux Indes in den Kreisen der Hispanoamerikaner beeinträchtigten, standen Raynal und sein bekanntestes Werk symbolhaft für eine Befreiung aus kolonialer Unterdrückung, waren doch viele der am Befreiungskampf auf hispanoamerikanischer Seite Beteiligten mit den berühmt gewordenen harangues in dieser Enzyklopädie der europäischen Expansion als Leser bestens vertraut. Auch in der Neuen Welt verfehlte die revolutionäre Rhetorik der Alten Welt ihre Wirkung nicht und fand Eingang in den Diskurs der Libertadores. Und diese ‚Befreier‘ Amerikas waren zuallererst aufmerksame und begeisterte Leser.
Zweifellos ist die in der Carta de Jamaica von Simón Bolívar zu beobachtende Instrumentalisierung und Lesart Raynals nur eine unter unzähligen, die sich zwischen dem letzten Drittel des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in den künftigen Republiken eines erst in Entstehung begriffenen Lateinamerika beobachten lassen. Es handelte sich um eine populäre und in militanten Befreierkreisen sehr verbreitete Lektüreweise. Simón Bolívars bewusst gewählte Lesart ist ein schönes Beispiel für einen ‚interessierten‘ Lektüretyp, der uns freilich oftmals mehr über den Leser als über das Gelesene zu sagen vermag.
Doch gibt es auch andere, vielleicht weniger spektakuläre, aber darum nicht weniger interessante Lektüretypen zu analysieren. Beziehen wir folglich die Wirkung der Geschichte beider Indien auf die sich herausbildende Literatur der künftigen Nationalstaaten mit ein in unseren Blickwinkel. So wäre es – um bei dem von Bolívar erwähnten Raum Neu-Spaniens zu bleiben – leicht zu belegen, wieviel der erste von einem Hispanoamerikaner in Hispanoamerika geschriebene Roman El Periquillo Sarniento von José Joaquín Fernández de Lizardi einer aufmerksamen Lektüre der Histoire des deux Indes verdankt.5 Viele diskursive Elemente aus Raynals Texten wurden gleichsam in die Fiktion aufgenommen und narrativ in Bewegung gesetzt.
Von Simón Bolívar im Norden bis hin zu Domingo Faustino Sarmiento im Süden des südamerikanischen Subkontinents, von den verschiedenen Repräsentanten einer politischen und philosophischen Aufklärung in Mexico bis hin zu Vertretern der Raynal’schen Ideen in Canada: diese Enzyklopädie des europäischen Kolonialismus provozierte auf dem gesamten amerikanischen Kontinent eine Vielfalt verschiedener, aber stets produktiver Lektüren. Raynals Kolonialenzyklopädie war folglich nicht nur in Europa, sondern gerade auch in den Amerikas ein zwar verbotener Geheimtipp, zugleich aber ein Bestseller. Wie ein in Wolfenbüttel veranstaltetes Raynal-Symposium zeigen konnte, war die Wirkung des Raynal’schen Oeuvre ebenso groß und weitverzweigt wie die Divergenz der von ihm ausgelösten Lektüren.6 Dabei ist diese Divergenz der Lektüren Raynals in der Tat beeindruckend. Bevor die Histoire des deux Indes von dem nicht weniger enzyklopädischen Reisewerk Alexander von Humboldts im amerikanistischen Bereich überstrahlt wurde, hat das sicherlich nicht brisanteste, aber wohl doch weitreichendste und einflussreichste Werk des französischen Abbé eine Vielzahl von Lesarten in beiden Welten stimuliert.
Doch Lektüren und Leseweisen sind in der Geschichte beider Indien ubiquitär. Denn mag die Geschichte dieser Lektüren auch bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben, so gilt doch, dass dieser französische Bestseller der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinerseits auf einem weitgespannten Gewebe von Lesevorgängen aufbaute, deren Komplexität bis heute überrascht und beeindruckt. In ihrem Bezug zur Tradition der Reisesammlungen präsentiert sich die Histoire des deux Indes unseren heutigen Augen als eine Fortsetzung und zugleich Radikalisierung der Histoire générale des voyages des Abbé Prévost. Nur dass sie eine wesentlich präziser definierte politische Funktion (und damit eben erhoffte Leseprozesse) bewusst anvisierte.
Neuere Forschungsarbeiten haben detailliert aufgezeigt, in welchem Maße Guillaume-Thomas Raynal, der „Abbé der Neuen Welt“, nicht gezögert hatte, sich der Histoire générale zu bedienen und zahlreiche Passagen dieses wichtigen Bezugstextes dekontextualisierend zu übernehmen. Mit anderen Worten: Er ­befleißigte sich einer plündernden Lektüre. Zwischen den Polen schöpferischer Umsetzung und simplen Plagiats oszillierend, erweist sich die écriture Raynals doch stets als hochdosierte Anverwandlung und Aneignung fremder Texte durch sehr spezifische Leseprozesse. Schreiben und Neuschreiben, Lesen und Neulesen werden zu Vorgängen, die sich nicht mehr voneinander abtrennen lassen und eine Intertextualität produzieren, die durch die beschleunigte Proliferation fremder Textfragmente und verschiedenster Informationsquellen seit der ersten Ausgabe der Histoire des deux Indes im Jahre 1770 zunehmend zentrifugalen Charakter erhielt, und so das in den frühen Rezeptionszeugnissen bereits feststellbare Bedürfnis nach einer das gesamte Werk zentrierenden Autorfigur noch erhöhte. Hierin kann man den Schlüssel für die Dynamik des Raynal’schen Oeuvre ­erkennen.7
Dieses Bedürfnis nach diskursiver Zentralisierung leitete schließlich zu einer wachsenden Autorisierung des über die verschiedenen Ausgaben in ständiger Expansion befindlichen kollektiven Textes über. Das zeitgenössische Lesepublikum verlangte nach einem Urheber, nach einem Gewährsmann für diese Texte. In gewisser Weise benötigte die Histoire des deux Indes nicht so sehr die Figur eines Kompilators, als vielmehr jene eines Garanten, eines Autors im modernen Wortsinn: hier liegt der Grund für die wachsende auteurisation der Histoire. Und zugleich auch die Begründung für ihren stetig wachsenden Erfolg.
Guillaume-Thomas Raynal, der mit allen Wassern der République des Lettres des 18. Jahrhunderts gewaschen war, verlieh seinem Text eine größere Autorisierung und Autorität, indem er von Ausgabe zu Ausgabe der Figur eines Autors schärfere Konturen gestattete und schließlich auch seinen zuvor mehr oder minder geheim gehaltenen (Autor-)Namen preisgab. Diese Strategie erwies sich als überaus wirksam, denn der Abbé aus dem Aveyron wurde bis zu seiner berüchtigten Adresse à l’Assemblée Nationale von 1791 nicht nur als einer der großen ­philosophes, sondern auch als einer der „Väter der Revolution“ verehrt.8 Gleichzeitig handelte es sich um eine Textstrategie von großer Subversivität: In einer früheren, hier aber nicht nochmals zu besprechenden Untersuchung habe ich nachzuweisen versucht, auf welche Weise die Inszenierung des Philosophen in seinem Arbeitszimmer auf dem Frontispiz der dritten Ausgabe von 1780 in vier Quartbänden bei Pellet in Genf eine subtile Dekonstruktion der Autorfunktion, ganz im Sinne Foucaults enthielt.9 Dieses an poetologischen und epistemologischen Aspekten reiche Frontispiz präsentierte einen écrivain-philosophe, der nach den Aussagen der Zeitgenossen in keiner Weise jenem Manne ähnelte, den es zu re-präsentieren doch vorgab: eben Guillaume-Thomas Raynal. Seine Spiele mit der Autorschaft und mit den verschiedensten Lektüreformen und Lektürenormen sind an Komplexität, aber auch an literarischer Pfiffigkeit kaum zu übertreffen.
Auf epistemologischer Ebene ist die Welt der Histoire des deux Indes ein (Text-)Universum, das fast vollständig gegenüber der direkten Erfahrung der außereuropäischen Welt abgekapselt ist. In einer der aus Denis Diderots Feder stammenden Passagen wird dem Leser recht deutlich die epistemologische Grundlage dieser Kolonialenzyklopädie vor Augen geführt, wobei der Vergleich zwischen dem homo contemplativus und dem homme voyageur zu Ungunsten des letzteren ausfällt. Es handelt sich dabei um eine zentrale, für das Verständnis der anzusetzenden Lektüreweisen wichtige Passage, die an dieser Stelle kurz in unsere Vorlesung eingeblendet sei:
Der homo contemplativus ist sesshaft; & der Reisende ist unwissend oder lügnerisch. Wem das Genie zuteil wurde, verachtet die genauen Details der experimentellen Erfahrung; & wer die Experimente macht, dem mangelt es fast immer an Genie.10
Im gesamten Verlauf der Histoire ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Teil I: Erstes Hauptstück: Leben, Lesen und Lieben im Abendland
  5. Teil II: Zweites Hauptstück zur Liebe und einigen ihrer kulturellen Spielarten
  6. Teil III: Drittes Hauptstück zu einer Geschichte von Liebe und Lesen
  7. Teil IV: Epilog: Die Liebe nach der Liebe
  8. Anhang: Die Zitate in der Originalsprache
  9. Personenregister