Im Folgenden sollen nun literaturtheoretische AnsĂ€tze besprochen werden, welche sich auf verschiedene Weise dem Problem potenzieller Mehrstimmigkeit2 in ErzĂ€hltexten nĂ€hern. Um den Stimmbegriff Genettes weiterzuentwickeln, stehen hierbei zunĂ€chst die extradiegetische ErzĂ€hlinstanz3 und die Frage im Vordergrund, ob sich der jeweilige theoretische Zugriff auf eine bestimmte, innerhalb der Narratologie bisher vernachlĂ€ssigte Variante der Mehrstimmigkeit anwenden lĂ€sst, die durch ein Nebeneinander zweier (oder mehrerer) âStimmenâ innerhalb einer ErzĂ€hlinstanz konstituiert wird und welche an dieser Stelle als narrative Polyphonie bezeichnet werden soll.
Eine erste hilfreiche ErgĂ€nzung zu dem sehr schematischen Konzept Genettes könnte der Zugriff Michail Bachtins bieten, der sich ĂŒber seine Konzepte der DialogizitĂ€t und des polyphonen Romans der Frage nach Stimme(n) in fiktionalen Texten aus literaturtheoretischer Sicht nĂ€hert. AnschlieĂend wird der Terminus des unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hlers nach Wayne C. Booth diskutiert, welcher die bisher vernachlĂ€ssigte Frage aufwirft, ob sich die narrative Instanz innerhalb eines Textes sowohl zuverlĂ€ssig als auch unzuverlĂ€ssig Ă€uĂern kann, und wenn ja, wie bzw. ob diese Form einer doppelten âStimmeâ mittels einer Analyse der in dem Text angelegten Voraussetzungen4 erschlossen werden kann. Als nĂ€chster Ansatz wird die erlebte Rede in ErzĂ€hltexten beleuchtet und untersucht, ob und inwiefern der Einfluss der Stimme einer Figur auf die ErzĂ€hlerstimme tatsĂ€chlich als ein gleichwertiges âStimmenâ-Pendant auf der Ebene der narrativen Instanz gewertet werden kann. Im Anschluss wird das aus der russischen Literaturtheorie stammende Skaz-Konzept fokussiert, welches â nicht unĂ€hnlich dem Ansatz von Bachtin â von einer zugleich expliziten und impliziten Botschaft der ErzĂ€hlinstanz ausgeht, so dass es zu ĂŒberlegen gilt, ob hier eine Variante von Mehrstimmigkeit innerhalb einer ErzĂ€hlebene vorliegt. AbschlieĂend wird der literaturtheoretische Terminus der IntertextualitĂ€t erlĂ€utert und mit RĂŒckgriff auf das BegriffsverstĂ€ndnis GĂ©rard Genettes fĂŒr eine narratologische Kategorisierung fruchtbar gemacht.
1.1 Die narratologische Kategorie der âStimmeâ in fiktionalen ErzĂ€hltexten
Um die narrative Instanz literarischer Texte erschlieĂen zu können, gibt Genette an, dass diese zunĂ€chst âim Hinblick auf die Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hatâ,5 zu untersuchen sei. Die âProduktionsinstanz des narrativen Diskursesâ6 wird also als auĂertextuell verstanden und Genette schlĂ€gt drei verschiedene Kriterien fĂŒr die âSpurensucheâ nach ihr vor: Die Zeit der Narration, die narrative Ebene und die Kategorie der Person, worunter das VerhĂ€ltnis des ErzĂ€hlers zum ErzĂ€hlten und gegebenenfalls auch die Relation des narrativen Adressaten zur erzĂ€hlten Geschichte fallen.7
Die Zeit der Narration betrifft das VerhĂ€ltnis der narrativen Instanz zur erzĂ€hlten Geschichte. Genette differenziert hier zwischen vier verschiedenen Narrationstypen: Die spĂ€tere Narration, die frĂŒhere Narration, die gleichzeitige Narration und die eingeschobene Narration.8 WĂ€hrend sich die ersten drei Möglichkeiten vergleichsweise unkompliziert gestalten, wird die letztgenannte Variante als die diffizilste Form des ErzĂ€hlens hervorgehoben, âda es sich um eine Narration mit mehreren Instanzen handelt und da sich die Geschichte und die Narration hier dergestalt verwickeln können, dass letztere auf erstere reagiertâ.9 Als Beispiel hierfĂŒr wird nun der Briefroman angefĂŒhrt, dessen besonderer Reiz nach Genette in der Diskrepanz zwischen erlebendem und erzĂ€hlendem Ich besteht, so dass der Sprecher10 zwar durchaus noch von dem Erlebten geprĂ€gt sein kann, zugleich aber das eigene Handeln aus einer gewissen â zumindest zeitlichen â Distanz heraus betrachtet.11
Als nĂ€chste Kategorie fĂŒr eine nĂ€here Bestimmung der narrativen Instanz wird die narrative Ebene genannt. Grundlegender Gedanke hierbei ist, dass innerhalb einer ErzĂ€hlung eine oder mehrere Geschichten erzĂ€hlt werden können, welche dann aber im VerhĂ€ltnis zur Rahmengeschichte auf einer anderen Ebene positioniert sind. Genette definiert hier folgendermaĂen: âJedes Ereignis, von dem in einer ErzĂ€hlung erzĂ€hlt wird, liegt auf der nĂ€chsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser ErzĂ€hlung angesiedelt istâ.12 Entscheidend fĂŒr die Benennung der narrativen Ebene einer (Binnen-)ErzĂ€hlung ist also, dass diese stets in einem relationalen VerhĂ€ltnis zu der narrativen Instanz einer ersten ErzĂ€hlung steht, welche âper definitionem extradiegetisch [ist]â,13 so dass sich fĂŒr eine ErzĂ€hlinstanz zweiter Stufe die Bezeichnungen diegetisch,14 fĂŒr eine ErzĂ€hlinstanz dritter Stufe metadiegetisch, fĂŒr eine ErzĂ€hlinstanz vierter Stufe meta-metadiegetisch usw. ergeben.
Die Möglichkeit eines Wechsels zwischen narrativen Ebenen wird klar definiert:
Der Ăbergang von einer narrativen Ebene zur anderen kann prinzipiell nur von der Narration bewerkstelligt werden, einem Akt, der genau darin besteht, in einer bestimmten Situation erzĂ€hlend â durch einen Diskurs â eine andere Situation zu vergegenwĂ€rtigen. Jede andere Ăbergangsform ist, wenn nicht ĂŒberhaupt unmöglich, so doch zumindest eine Art Transgression. [âŠ] Jedes Eindringen des extradiegetischen ErzĂ€hlers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum (bzw. diegetischer Figuren in ein metadiegetisches Universum usw.) [âŠ] zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist, [âŠ] mal phantastisch. Wir wollen den Ausdruck narrative Metalepse so weit fassen, daĂ er alle diese Transgressionen abdeckt.15
Hieraus ergibt sich, dass die narrative Metalepse nach Genettes Definition aufgrund ihrer âbizzare[n] Wirkungâ (s. o.) niemals unbemerkt bleiben kann, sondern die ErzĂ€hlstruktur des Textes auf irritierende Weise in den Vordergrund gerĂŒckt wird.
FĂŒr die Kategorie der âPersonâ benennt Genette zunĂ€chst zwei Möglichkeiten, die sich dem Verfasser eines Textes fĂŒr die Gestaltung der ErzĂ€hlsituation bieten: âEr kann die Geschichte von einer ihrer âPersonenâ [âŠ] erzĂ€hlen lassen oder von einem ErzĂ€hler, der selbst in dieser Geschichte nicht vorkommtâ.16 Den erstgenannten Typus bezeichnet er als homodiegetisch, den zweiten als heterodiegetisch. Den Sonderfall des homodiegetischen ErzĂ€hlers stellt der autodiegetische ErzĂ€hler dar, der nicht nur Teil der erzĂ€hlten Geschichte ist, sondern auch deren Hauptfigur darstellt. Zugleich definiert Genette den pragmatischen Status der jeweiligen Narrations- bzw. Kommunikationstypen, indem den einzelnen Sprechern auch ein narrativer Adressat zugeordnet wird:
Zum intradiegetischen ErzĂ€hler gehört ein intradiegetischer narrativer Adressat, [âŠ] der extradiegetische ErzĂ€hler hingegen kann nur auf einen extradiegetischen narrativen Adressaten zielen, der hier mit dem virtuellen Leser zusammenfĂ€llt, mit dem sich dann jeder reale Leser identifizieren kann.17
Das von Genette entworfene Analysemodell zur âStimmeâ ist jedoch bekanntermaĂen umstritten und provoziert Widerspruch. Vor allem die eingangs zitierte Kopplung von âStimmeâ und âPersonâ bildet die Grundlage einer Diskussion, in welcher Genette in erster Linie von Vertretern des Poststrukturalismus und der Linguistik18 angegriffen worden ist. Im Vordergrund steht hier die Kritik aus poststrukturalistischer Sicht, zur Personifizierung eines âdominanten Aussagesubjekts im Text beizutragen und so ein zentralistisches TextverstĂ€ndnis zu befördernâ,19 wie Andrew Gibson bemĂ€ngelt:
For Genette, what matters most is the idea of voice as the âfinal instanceâ governing narrative [âŠ]. In Gennetian narratology, voice is actually the ultimate âfixed pointâ to which other aspects of narrative can be referred.20
Von Seiten der Linguisten wird der Vorwurf erhoben, dass es sich bei fiktionalen ErzÀhltexten grundsÀtzlich nicht um einen Kommunikationskontext handele. So argumentiert Ann Banfield:
For it is in the language of narrative fiction that literature departs most from ordinary discourse and from those of its functions which narrative reveals as separable from language itself. In narration, language attains the fullest exploitation of its possibilities and reaches their limits. [âŠ] All this comes down to the fact that in narrative, subjectivity or the expressive function of language emerges free of communication and confronts its other in the form a sentence empty of all subjectivity.21
Als Konsequenz, so lĂ€sst sich schlussfolgern, könnte aus linguistischer Sicht die Kategorie der âStimmeâ gĂ€nzlich getilgt werden â denn wo weder ein Aussagesubjekt noch ein Kommunikationskontext vorhanden sind, kann es aus logischer Sicht keine â wie auch immer geartete â Form der âStimmeâ geben.22
Doch auch aus dem Blickwinkel einer an Textstrukturen orientierten ErzĂ€hltheorie, innerhalb welcher Genettes Kategorie der âStimmeâ ja bekanntlich auf breite Akzeptanz gestoĂen ist, ergibt sich ein weiteres wichtiges Problem, welches bisher noch nicht im Fokus der Kritik stand: Die Absenz einer als mehrstimmig gedachten narrativen Instanz innerhalb seines Modells, fĂŒr die mindestens eine zweite, potenziell aber auch n-fache sich zu dem erzĂ€hlten Geschehen Ă€uĂernde âStimmeâ konstitutiv ist. Dieser Punkt hĂ€ngt maĂgeblich mit der Genetteschen Anbindung des Stimmbegriffs an die Vorstellung von einer Person zusammen, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird.
FĂŒr die narratologische Analyse einer Reihe fiktionaler ErzĂ€hltexte gestaltet sich diese EinschrĂ€nkung des Genetteschen Beschreibungsvokabulars auf den ersten Blick folgenlos. Das gilt auch in den FĂ€llen, in denen sich eine vermeintliche Mehrstimmigkeit als interne Fokalisierung herausstellt: Hierbei handelt es sich nicht um eine Variante narrativer Polyphonie, sondern um die Verquickung der ErzĂ€hlerstimme mit der Perspektive einer...