Bevor ich tiefer in eine Diskussion der unterschiedlichen analytischen Betrachtungen von wissenschaftlicher Fachliteratur einsteige, möchte ich zunächst in aller Kürze klären, was im Folgenden unter „Literatur“ verstanden werden soll.
Folgt man der Definition des Universalwörterbuchs von Duden, so handelt es sich bei „Literatur“ um „veröffentlichte [gedruckte] Schriften“ – „wissenschaftliche Literatur, belletristische, schöngeistige, schöne Literatur“; „einschlägige, philosophische, scholastische, medizinische Literatur“ –, die man „kennen, lesen, zusammenstellen, zitieren“ und „[in Fußnoten] angeben“ kann. Für die folgenden Ausführungen ist von Bedeutung, dass es sich bei „Literatur“ um einen Feldterminus handelt, mit dem Objekte alltäglicher praktischer Aktivitäten bezeichnet werden. Die Begriffsbestimmung des Wörterbuchs deckt sich dabei weitgehend mit dem Wortgebrauch in den unterschiedlichen Wissenschaften. Beziehen sich Forschende, Lehrende und Studierende auf die Literatur einer Disziplin, so meinen sie damit all die Publikationen innerhalb eines Fachgebiets, die als (mit‐)geteilter Wissensvorrat eben jener Disziplin be- und verhandelt werden (vgl. Holmes 1987: 220).
Diesen Literaturbegriff des beforschten Feldes lege ich den folgenden Analysen zugrunde, um so dem sozialen Leben von Fachliteratur nachzuspüren – der Frage also, wie Fachliteratur im wissenschaftlichen Alltag be- und verarbeitet wird.1 Diese analytische Haltung orientiert sich an einer „konstruktivistischen“ Literatursoziologie, wie der bei Dörner und Vogt, die „dem feststellbaren alltäglichen Sprachgebrauch folgen und all das als Literatur bezeichnen, was in unterschiedlichen Zeiten und Verwendungssituationen […] als ,Literatur‘ erkannt und behandelt wird“ (Dörner u. Vogt 2013: 5). Im Sinn eines solchen literatursoziologischen Forschungsprogramms werden im weiteren Verlauf dieser Studie sowohl die Feldvokabulare als auch die praktischen Aktivitäten wissenschaftlicher Literaturarbeit zum Gegenstand gemacht.
Zur bisherigen Debatte innerhalb der Wissenschaftsforschung verhält sich dieses Programm so, dass dort die Konstruktion von Fachliteratur zwar ebenfalls in den Blick genommen, jedoch in aller Regel als eine rein sprachliche Leistung betrachtet wird: als eine Leistung der Rhetorik der Wissenschaft auf der einen Seite oder aber des Räsonierens im wissenschaftlichen Diskurs bzw. in der wissenschaftlichen Argumentation auf der anderen. Die Untersuchungsobjekte der unterschiedlichen Beiträge zu diesen Forschungslinien sind meist die jeweiligen Publikationen selbst, d. h. die Fachliteratur entsprechender Disziplinen; die praktische Auseinandersetzung mit diesen Publikationen in der alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit wird dabei meist nicht betrachtet.
In diesem Abschnitt möchte ich einige Beiträge zu beiden Forschungslinien diskutieren. Die Entdeckung der Literatur durch die Wissenschaftsforschung geht dabei wesentlich auf Beiträge zur Rhetorik zurück.
1.1.1 Rhetorik der Wissenschaft
Charakteristisch für die unterschiedlichen Studien, die die Rhetorik der Wissenschaft zum Gegenstand machen, ist eine philologische Forschungshaltung – Philologie hier mit Watkins als eine „Kunst langsamen Lesens“ verstanden, die darauf abzielt, Kulturen durch deren Literatur zu erkunden (Watkins 1990: 23 f., 25).2 Ein Beispiel für diese Haltung ist die Studie von Gross. Ihm geht es darum, „wichtige Fälle der Erzeugung von wissenschaftlichem Wissen zu analysieren“ (Gross 2006: 81). Um dies zu tun, untersucht er Monographien und Zeitschriftenaufsätze aber auch Notizbücher und Gutachten, Kommentare und Urteile, die im Zuge von Publikationsverfahren erstellt wurden. Dabei richtet er die Aufmerksamkeit auf die großen Persönlichkeiten der – westlichen – Wissenschaftsgeschichte: Charles Darwin, René Descartes, Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus, Isaac Newton oder James Watson und Francis Crick. Gross ist bewusst, dass die von ihm beforschten Texte auf „einem Set an Praktiken außerhalb der Reichweite rhetorischer Analyse“ beruhen. Letztere hat in diesem Sinn eine beschränkte Perspektive auf die Wissenschaft, wie sie sich innerhalb von Texten darstellt: Alles, was außerhalb solcher Texte an wissenschaftlicher Arbeit geschieht, bleibt analytisch ausgeblendet. Zugleich jedoch schärft diese Fokussierung für ihn den Blick für die „Kommunikation in der Wissenschaft“; diese Kommunikation ist ihrerseits eine wissenschaftliche Praxis – eine Praxis „gleichwertig einer jeglichen anderen Praxis“ (Gross 2006: 21). Für die folgenden Ausführungen sind bei alledem vor allem drei Punkte relevant:
(1) In wissenschaftlichen Texten wird die jeweilige Argumentation in Erzählstrukturen bzw. Handlungsstränge eingebettet; eine Entwicklung, als deren Ausgangspunkt Gross die naturwissenschaftlichen Debatten des 16. Jahrhunderts erachtet. Seit dieser Zeit und insbesondere durch die Institutionalisierung wissenschaftlicher Publikationsformate wie dem Zeitschriftenaufsatz wurde die argumentative Ordnung wissenschaftlicher Texte immer wichtiger und dabei an mehr und mehr rigiden formalen Vorgaben ausgerichtet: „Einleitung“, „Forschungsstand“, „Untersuchungsdesign“, „Datenanalyse“ und „Fazit“. Zudem sind wissenschaftliche Texte durch Referenzen auf den Wissensbestand einer jeweiligen Disziplin und einen spezifischen Stil geprägt: So wird einschlägige Fachliteratur zitiert, werden Wissensbehauptungen in den bestehenden Methoden- und Theoriekanon dieser Disziplin eingereiht und werden Aufträge und Ausblicke für mögliche folgende Forschungsvorhaben formuliert. Der Stil wissenschaftlicher Argumentation ist „passiv“. Dies erzeugt „unseren Eindruck, dass die Wissenschaft eine Realität unabhängig von ihren linguistischen Formulierungen beschreibt“ (Gross 2006: 29 f.).
(2) Wissenschaftliche Texte ent- und bestehen innerhalb eines „Netzwerks von Autoritätsbeziehungen“, das diese Texte an den mal expliziten, mal impliziten Regeln, Überzeugungen und Wissensbeständen einer Disziplin orientiert. Zwar zielt die wissenschaftliche Argumentation im Kern darauf ab, „innovativ“ zu sein und Neues in eine Debatte einzubringen; zugleich jedoch ist die Wissenschaft ein „fortwährendes Bestreben, Konsens aufrechtzuerhalten“ (Gross 2006: 26 f., 44). Dies geschieht zum einen, indem Texte andere Texte zitieren und somit gewissermaßen deren „Autorität“ in einem Forschungsbereich anerkennen; und zum anderen, indem die Wissensbehauptungen von Texten im Zuge von Publikationsprozessen intersubjektiv „zertifiziert“ werden. Letzteres ist institutionalisiert im „Peer Review“ – in einer „kommunikativen Unternehmung“, in der Wissensbehauptungen auf der Basis „intersubjektiver Argumentation“ und Debatte überprüft werden. Hier versuchen die Mitglieder einer Fachkultur – die „peers“ also – als Herausgeber/-innen und Gutachter/-innen einer Zeitschrift, einer Buchreihe oder eines anderen Publikationsforums eine Übereinkunft darüber zu erzielen, ob und wie der Text eines anderen Mitglieds als adäquater Beitrag zu einem Forschungsgebiet rezipiert, evaluiert und entsprechend publiziert werden kann. Die Urteile, die auf solchen „rational ermöglichten Sprechorientierungen“ beruhen, führen mitunter zur Ablehnung oder aber sie setzen Überarbeitungsprozesse in Gang, in und mit denen ein Text näher an den Wissenskanon einer Fachgemeinschaft herangeführt wird. Die Publikation eines Textes wiederum bringt diesen in eine wissenschaftsöffentliche Debatte ein, in der er im Kontext anderer Fachliteratur gelesen und beurteilt wird (Gross 2006: 99, 109).
(3) Die Rhetorik wissenschaftlicher Texte ist „epistemisch“, d. h. „konstitutiv für wissenschaftliches Wissen“ (Gross 2006: 5, 13). Gross geht in Anlehnung an Davidson davon aus, dass Kommunikation die Basis allen propositionalen Wissens ist – sowohl der Wissensbestände, die wir mit anderen teilen, als auch jener, die unser eigenes Denken über uns selbst und über die anderen ausmachen.3 In diesem Zusammenhang fungieren wissenschaftliche Publikationen als Medien der Kommunikation, mithilfe derer sich die Mitglieder einer Fachkultur darüber verständigen, wie sie sich sowohl als Gemeinschaft als auch individuell zu jeweiligen Forschungsresultaten verhalten. Neben bzw. noch vor diesem wissenschaftsöffentlichen Austausch steht dabei für Gross die „rhetorische Transaktion innerhalb des Selbst“ (Gross 2006: 42 f., 97 f.): Fachpublikationen – aber auch Beobachtungsprotokolle, Feld- und Labortagebücher, Typoskripte etc. – sind Medien der Kommunikation mit einem „professionellen Selbst“, in der Ideen formuliert und weiterentwickelt, durchdacht und verworfen werden. Dies ist ein Akt der „Selbst-Persuasion“, der in der Auseinandersetzung mit publizierten Forschungsresultaten und der Methoden- und Theorieliteratur einer Disziplin mehr und mehr an den rhetorischen Transaktionen mit anderen orientiert wird (Gross 2006: 81 f.).
Alle drei von Gross thematisierten Aspekte – (1) die erzählerische Organisation und der Stil wissenschaftlicher Argumentation, (2) die Einbettung wissenschaftlicher Texte in die Sozialbeziehungen jeweiliger Fachkulturen und (3) die rhetorische Konstitution wissenschaftlichen Wissens – sind von unterschiedlichen Beiträgen zu dieser Forschungslinie der „Rhetorik der Wissenschaft“ untersucht worden.
Gusfield z. B. schlägt vor, eine „Literaturkritik der Wissenschaft“ zu betreiben, die die „Sprache und den literarischen Stil der Wissenschaft zum Forschungsgegenstand“ macht (Gusfield 1976: 17 f.).4 Ein wesentlicher Bezugspunkt der „literarischen Kunst der Wissenschaft“ besteht für ihn darin, bestimmte Rahmungen jeweiliger Texte nahezulegen und andere auszuschließen. Dafür sorgt zum einen das „szenische Umfeld“ – u. a. Fachverlage, Buchreihen und Zeitschriften, die Texte mit einer institutionellen Autorität ausstatten – und zum anderen ein „literarischer Stil“, den Gusfield als „Stil des Nicht-Stils“ charakterisiert: Ein Stil, der Texte als wissenschaftlich und nicht etwa belletristisch formuliert und der darauf abzielt, das Publikum davon zu überzeugen, dass ein Text das Resultat wissenschaftlicher Forschung und nicht bloß erzählerischer Komposition ist. Der jeweilige Sprachgebrauch wird als neutrales Medium von „intrinsischer Irrelevanz […] für das Unternehmen Wissenschaft“ gerahmt (Gusfield 1976: 16 f., 18 f.).
Das wichtigste Merkmal dieses Stils ist die „passive Stimme des Autors“. Der Autor des Textes tritt hier nicht als literarisch brillanter Schriftsteller mit subjektiven Empfindungen und Interessen auf, sondern ordnet sich methodischen und theoretischen Paradigmen und Prozeduren unter, aus denen sich eine Argumentation objektiv ergibt. Diese Stimme etabliert ein „Äquivalenzverhältnis zwischen Autor und Publikum“. So beziehen Erstere Letztere z. B. durch den Gebrauch des „majestätischen oder redaktionellen ,Wir‘“ in eine Argumentation mit ein – „wir sind nun an einem Punkt“, „wie wir gesehen haben“ – und rahmen das wissenschaftliche Räsonieren und dessen Resultate als eine gemeinschaftliche, Konsens herstellende Leistung (Gusfield 1976: 20 f.).
Diese Stimme bedient sich einer „reduktionistischen Beschreibungssprache“, die Themen – Forschungsfragen, Fachliteratur und Datenmaterial – auf eine Weise kanalisiert, dass sie den argumentativen Kern eines Textes stützen und mögliche alternative Wissensbehauptungen ausschließen oder unterminieren. Gusfield identifiziert hier vor allem drei rhetorische Stilmittel einer solchen Reduktion: Metonymien, die umfassendere und vielgestaltige Phänomene in Worte fassen; Metaphern, die Perspektiven auf Phänomene verändern; und Synekdochen, die Beobachtungen und Beschreibungen in allgemeinere Zusammenhänge stellen (Gusfield 1976: 18, 23 f.). Die Theoriearbeit bedient sich „konzeptueller Archetypen“: u. a. durch die Alltagssprache und massenmediale Vorlagen „konventionalisierter Formen, mit denen Objekte beschrieben werden können“. Diese halten „universelle Kategorien von Geschehnissen und Personen bereit, mithilfe derer eine Studie ihrem Publikum verständlich gemacht wird“ (Gusfield 1976: 25 f.).
Bei alledem gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei diesem literarischen Stil von Wissenschaftspublikationen um eine historisch gewachsene Form der Kommunikation handelt, die in die Sozialbeziehungen und Organisationsformen spezifischer Disziplinen eingebettet ist. Diese Zusammenhänge zwischen Text- und Sozialstrukturen untersucht Bazerman in seiner Studie zu „Genre und Aktivität des Forschungsartikels in der Wissenschaft“. Dabei konzentriert er sich auf naturphilosophische und -wissenschaftliche Beiträge, die in den „Philosophical Transactions of the Royal Society of London“ publiziert wurden (Bazerman 1988: 5, 15 f.). Unter einem „Genre“ versteht er in Anlehnung an Miller eine „rhetorische Aktivität“, deren Sinnhaftigkeit an spezifische diskursive Kontexte gebunden ist (Bazerman 1988: 6 f., 62).5
Die „Royal Society“ war eine der ersten wissenschaftlichen Akademien, wie sie beginnend im Italien des 16. Jahrhunderts im Kontext der Universitäten gegründet wurden.6 Im Umfeld dieser Akademien wiederum entstanden Journale, die zunächst als Periodika angelegt waren, mit denen die Akademien ihre Mitglieder über Neuigkeiten zu informieren und den wissenschaftlichen Austausch zu befördern versuchten. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Journale zu eigenständigen Foren wissenschaftlicher Kommunikation; die „Philosophischen Transaktionen“ haben diese Entwicklung als erstes englischsprachiges Journal wesentlich beeinflusst (vgl. Vickery 2000: 72 f., 75 f.).
Wissenschaftskommunikation basierte bis zu dieser Zeit in aller Regel auf Monographien – d. h. vor allem auf Büchern. Daneben wurden wissenschaftliche Fragen oftmals auch mündlich erörtert – bei regelmäßigen Zusammenkünften ebenso wie bei informellen Treffen, wie sie auch die „Royal Society“ or...