Lob der Pause
eBook - ePub

Lob der Pause

Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks

  1. German
  2. ePUB (handyfreundlich)
  3. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Lob der Pause

Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks

Über dieses Buch

Immer schneller, immer mehr – diese Maxime ist mittlerweile zum Credo unserer Zeit geworden. Doch was, wenn das schnelle Leben immer mehr zur Last wird, wenn immer mehr Menschen darüber klagen, keine Zeit mehr zu haben für die Familie, Freunde oder für sich selbst und immer öfter das Stresssymptom 'Burnout' diagnostiziert wird? Dann ist es höchste Zeit für ein Umsteuern, denn offensichtlich ist diese Tempofahrt nicht zukunftsfähig. 'Wir müssen unseren Umgang mit Zeit überdenken und revidieren', empfiehlt der Zeitexperte Karlheinz A. Geißler – und zeigt, warum wir Langsamkeit, Wiederholung und Warten wieder schätzen sollten. Denn es sind diese Zeiten des 'Dazwischen', die die Dinge und Abläufe auf Abstand bringen und so für den Rhythmus im Leben sorgen. Es sind die 'kleinen Sonntage unseres Daseins', die uns die Freiräume schaffen, darüber nachzudenken, was war und was kommen wird, die Zwischenzeiten fürs Nachdenken, Vordenken, Abschalten und Verarbeiten. Die Zeit ist reif für ein Innehalten, das Buch 'Lob der Pause' liefert hierzu wertvolle Denkanstöße.

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Lob der Pause von Karlheinz A. Geißler im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Kunst & Kunst Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2012
ISBN drucken
9783865813206

Kapitel 1
Lebst du schon oder sparst du noch: die Zeit?

geissler_bild_1.webp

Freundin fürs Leben

Die Zeit ist für die Menschen das, was das Wasser für die Fische ist. Sie schwimmen in ihrem Element, ohne sich Gedanken zu machen, worin sie sich eigentlich bewegen. Der Mensch jedoch hat, im Gegensatz zu den Fischen, die Fähigkeit, darüber nachzudenken. Und es lohnt sich, der Selbstverständlichkeit »Zeit«, der wir unsere Existenz verdanken, die uns das Leben schenkt (es uns aber auch wieder nimmt), zumindest hin und wieder gedanklich nachzuspüren. Tut man dies, verliert man rasch die Uhr aus dem Auge und dem Sinn. Was bereits andeutet, dass die Uhr offenbar etwas ganz anderes ist als die Zeit.
Der Mensch ist gegenüber der ihn umgebenden Natur in vielerlei Hinsicht einzigartig. So ist er unter allen Lebewesen das einzige, das Zeit spart. Jedenfalls ist er der Meinung, das nicht nur tun, sondern sich auch leisten zu können. Wären Tiere in der Lage, Zeit zu sparen, dann wäre das Teil ihres genetischen Programms. Menschen hingegen haben die Freiheit, sich bewusst fürs Zeitsparen zu entscheiden. Doch tun sie dies mit Vorliebe erst, seitdem sie die mechanische Uhr erfunden und zu ihrer Zeitgottheit erklärt haben. Der Mensch kann Zeit sparen, aber er kann es auch sein lassen; kann es so oder auch anders machen. Tiere sind zweckgesteuert, Menschen dagegen zielorientiert. Einfacher gesagt: Würden Affen Zeit sparen, wären sie Menschen.
Doch betrachtet man das, was bei den umfangreichen Zeitsparanstrengungen der Menschen herauskommt, wundert es schon ein wenig, dass sie dafür so viel Zeit aufwenden. Die Realität nämlich zeigt immer wieder, dass die Klagen, »zu wenig Zeit« zu haben, mehr und mehr »unter Zeitdruck« zu stehen, in dem Maße zunehmen, wie Zeit gespart wird. Goethe bereits wies darauf hin und warnte: »Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr.« Da liegt die Frage nahe: Könnte es nicht sein, dass wir mehr Zeit hätten und weniger unter Stress litten, wenn wir uns das ständige »Zeitsparen« – sparen würden? Die Frage muss auch deshalb gestellt werden, weil wir sicher sein können, dass Zeit täglich aufs Neue nachkommt, und zwar in exakt der Menge, die Tag für Tag vergeht. Erstaunlich auch sind Aufwand und Leidenschaft, mit denen wir versuchen, Zeit zu »gewinnen«, um sie anschließend wieder zu »vertreiben«.
»Jeder Tag ist vierundzwanzig Stunden lang«, hat der Kabarettist Wolfgang Neuss einmal klug festgestellt, »aber unterschiedlich breit.« Für Zeitsparer ist er stets gleich breit und deshalb immer zu kurz. Zeitsparer nämlich organisieren die Zeit, sie leben sie nicht, weil sie sie nicht erleben. Sie bringen ihr Leben nur hinter sich. Gespart werden kann schließlich nur ungelebte, qualitätslose, also unqualifizierte Zeit. Die aber ist so nutzlos wie sinnlos. Zeitsparer verstehen offenbar so viel von der Zeit und ihren Qualitäten wie der Kuckuck von der Uhr. Zeit leben hingegen heißt, sie in ihrer qualitativen Vielfalt, in ihren bunten Formen zu leben. Das bedeutet konkret, auch die Zeitformen zu (er)leben, die keinen Preis, wohl aber einen Wert haben: die abgebremsten Zeiten des Pausierens, des Wartens, der Wiederholungen und des Langsamen. Wenn zeitsattes und zeitreiches Leben heißt, möglichst viele schöne Augenblicke zu sammeln, dann kann man dies nicht schnell und man kann es auch nicht durch Zeitsparen erreichen. Denn wer Zeit spart, spart keine Zeit, sondern Leben.
Bei dem französischen Philosophen Paul Valéry finden wir eine Erklärung, warum das Zeitsparen und der vermeintliche Fortschritt, der hierdurch ermöglicht wurde, die Menschen nicht lebensfroher gemacht haben: »Fast die gesamte Praxis ist dem Messen unterworfen. Das Leben, ohnehin schon zur Hälfte unterjocht, abgesteckt, in Reih und Glied gebracht und unterworfen, kann sich kaum noch der Zeitpläne, Statistiken, Messvorgänge und der quantitativen Präzisierung erwehren, deren Entwicklung seine Vielfalt immer mehr einschränken, seine Ungewissheit mindern, seinen Verlauf sicherer machen, länger, maschinenhafter.«
Was Valéry anspricht, ist die Tatsache, dass jene Zeitformen und Zeitqualitäten, die sich dem Uhrzeitmaß verweigern und sich nicht dem »Imperium der Zahl« (Valéry) unterwerfen, in immer größerem Maße abgewertet, belächelt und vielfach auch diskriminiert werden. Unter Druck geraten sind dabei, wie wir in diesem Buch sehen werden, an vorderster Stelle die Langsamkeit, das Wiederholen, das Warten und die Pause. Der stiefmütterliche Umgang mit diesen Zeitqualitäten hat sie zu einem Überleben in einer Art »Niemandsland« verdammt.
Warum eigentlich sparen wir Zeit, wo die Zeit es doch so gut mit uns meint?! Sie ist unsere treueste Freundin, begleitet sie uns Menschen doch von der Geburt bis zum Tod. Gute, besonders aber so treue Freundinnen lädt man doch zu sich ein, verwöhnt sie und bemüht sich um sie, versucht sie näher kennen, vielleicht sogar lieben zu lernen! Was aber tun die Menschen mit ihrer Freundin »Zeit« stattdessen? Sie schubsen sie herum, wie die Post es mit Weihnachtspaketen macht: Mal lassen sie die Zeit liegen, verlieren sie, dann wieder finden sie sie, stopfen sie voll oder vertreiben sie wie einen Hund, der Anstalten macht, an die Haustüre zu pinkeln. Mit Vorliebe aber managen und organisieren die Menschen die Zeit, sie sparen und nutzen sie, und hin und wieder werden sie von ihr so in Rage gebracht, dass sie versuchen, sie »totzuschlagen« – zumal dies mörderische Tun von der Justiz nicht verfolgt wird. Doch auch diejenigen von uns, die vor ihr zu fliehen versuchen, scheitern. Denn vor der Zeit kann man nicht fliehen, da gelingt keine Flucht. Man kann ihr nun mal nicht entkommen. Und so bleibt nur eins – sie zu nehmen, wie sie ist. Tut man das, wird man bald (und bitte nicht: »zeitnah«) feststellen, dass sie abwechslungsreicher, bunter und erheblich freundlicher zu den Menschen ist, als die zu ihr.

Zeit ist Zeit ist Zeit …

»Was ist die Zeit?« – Alle wissen es, doch keiner kann es erklären. Vielleicht sollte man sich deshalb mit der Einsicht zufriedengeben, die der Mathematiker Lambert in einem Brief vom 13. Oktober 1770 an Immanuel Kant, der sich gerade über die Tiefen und Untiefen der Zeit Gedanken machte, mitteilte: »Die beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist.« Das ist trivial, zirkulär und irgendwie hilflos. Es läuft auf die Begriffsbestimmung hinaus: »Zeit ist das, was wir haben, während wir tun, was wir machen.« Auch nicht sehr überzeugend – und weiter bringt diese Definition auch niemanden. Etwas klüger (wirklich nur etwas) machen die Auskünfte von Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Physiker halten die Zeit für »eine hartnäckige Illusion« (Einstein), Existenzphilosophen nennen sie »das Sein zum Tode« (Heidegger), Theologen sehen in ihr »den Anlauf zur Ewigkeit«, Psychologen ein »Empfinden ohne Sinnesorgan«, Sozialwissenschaftler erkennen in ihr ein »Mittel, um Ordnung im Rahmen des Vergänglichen« zu schaffen, Ökonomen behaupten gar, »Zeit ist Geld« und daher auch ein wichtiger »Rohstoff«, und manch ein Politiker sieht in der Zeit nichts anderes als das Maß für eine Legislaturperiode. Wie soll man diese unterschiedlichen Bedeutungsinhalte in einer einheitlichen, allgemeingültigen Begriffsbestimmung zusammenbinden?
Rettung findet man auch nicht bei den Germanisten. Die nämlich behaupten, die Zeit sei ein »einsilbiges Wort«. Das ist zwar richtig, aber nicht allzu aussagekräftig. So drängt sich einem die Erkenntnis auf, dass die »Zeit« ein verzwicktes Rätsel ist und bleibt. Auf die Frage »Was ist die Zeit?« lässt denn auch Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg antworten: »Ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig.« Und weil das so ist, glauben zwar alle, dass sie wüssten, was Zeit ist, doch sobald man nachfragt, hat jeder eine andere Antwort. So ist das mit allen großen Rätseln der Welt, zu denen die Zeit allein schon deshalb gehört. Und während wir uns bemühen, dieses Rätsel zu lösen, müssen wir erleben, dass die Fragen immer größer werden und die Antworten immer kleiner. Verzichten wir also auf eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Zeit und folgen wir dem Ratschlag des Philosophen Ludwig Wittgenstein, unlösbare Fragen nicht weiter lösen zu wollen, um stattdessen von ihnen geheilt zu werden.
Wenn wir somit auch nicht wissen, was Zeit eigentlich ist, so können wir doch sagen, was wir mit dem, was wir »Zeit« nennen, Tag für Tag so tun. Mit »Zeit« füllen wir die Leere, vor der uns graut. Mit »Zeit« schaffen wir Gewissheiten und Ordnung im Rahmen des Vergänglichen. Doch es ist nicht die »Zeit«, die wir dabei messen, es sind Veränderungen, Dynamiken, Prozesse, die wir »Zeit« nennen. Für Hegel war die Zeit »angeschautes Werden«, also der Modus des Übergehens von einem Zustand in einen anderen. Dieser Übergang vom Zustand A in den Zustand B ist es, den wir messen und »Zeit« nennen. Mit der Uhr und ihren sich bewegenden Zeigern veranschaulichen wir diesen Vorgang. Die Uhr misst also nicht die »Zeit«. Sie ermittelt und berechnet Strecken, Veränderungen, die von Zeigern zurückgelegt werden, und die wir, je nach Länge, mit unterschiedlichen Begriffen belegen. Je nach Zeigerverlauf sprechen wir von ganzen, halben oder viertel Stunden und von Minuten und Sekunden. Gäbe es keine Veränderungen, würden wir nicht von Zeit und auch nicht über Zeit reden. Nur weil sich in dieser Welt und in uns selbst etwas verändert, reden wir von »Zeit«, kennen wir sie überhaupt.
Mit dem Begriff »Zeit« und den Maßen dieser Zeit tun die Menschen das, was sie auch mit anderen Begriffen machen, nämlich Ordnung schaffen. Sie stülpen der Welt und dem, was sich in ihr bewegt, Kategorien der Ordnung über, die, weil sie von Menschen geschaffen sind, auch ganz anders aussehen könnten, die früher anders aussahen und sich auch heute noch nicht auf der ganzen Welt gleichen. Es gibt also nicht nur eine Zeit, die Zeit der mechanischen Uhr. Es gibt auch eine Zeit vor der Erfindung der mechanischen Uhr und es sieht heute so aus, als gäbe es auch eine nach und neben der Uhrzeit.
Ganz anders als unser »uhrenmäßiger« Umgang mit Zeit funktioniert unser Zeitempfinden. Die Zeit des Menschen, so Marcel Proust, ist elastisch. »Die Leidenschaften, die wir fühlen, dehnen sie aus, die, die wir erregen, ziehen sie zusammen und Gewohnheit füllt den Rest aus.« Das Zeiterleben unterscheidet sich grundlegend von dem, was die Uhr an Zeit anzeigt. Die Zeitempfindungen und die Zeiterfahrungen bilden und entfalten sich in enger Abstimmung mit jenem Geschehen, an dem man teilnimmt, dessen Teil man ist. Tut sich nichts oder passiert nur wenig, erlebt man den Zustand, für den wir das Adjektiv »zeitlos« erfunden haben. Wir behaupten in solchen Momenten, die Zeit sei »stehen geblieben«. Wird eine Situation als unangenehm empfunden, vergeht die Zeit gewöhnlich zu langsam. Man versucht solche Situationen daher zu vermeiden, und wenn sich das nicht machen lässt, sie zumindest zu verkürzen. Ganz anders hingegen das Zeiterleben in glücklichen Augenblicken. In einem solchen Moment würde man die Zeit gerne »anhalten«, sie so lange wie möglich genießen. Glück hat keine Zeit, denn alles Glück will Ewigkeit.
Da das Leben endlich ist,
könnte ich allen Grund zur Eile haben,
doch weil das Leben endlich ist,
habe ich keinen Grund zur Eile.
(György Konrád)

Kapitel 2
Von der Vielfalt der Zeiten

geissler_bild_2.webp

Versöhnte Verschiedenheit

Geht’s um Zeit, dann geht’s ums Leben. Wie wir die Zeit leben, so leben wir unser Leben. Wenn wir heute davon sprechen, »die Zeit rase«, dann leben wir heute schneller denn je. Je schneller wir jedoch leben, umso mehr rennen wir hinter der Zeit (sprich: hinter dem Leben) her. Und da wir dieses Spiel immer weiter, immer hektischer betreiben, drängt sich die Frage auf: Ticken wir eigentlich noch richtig? Und bevor wir noch ein wenig schneller werden, um eilig nach einer Antwort zu suchen, empfiehlt sich eine Besinnungspause, in der wir nachdenken, ob es uns nicht besser ginge, wenn wir das Tempo nicht immer noch mehr verschärfen, sondern das Zeitleben bunter, vielfältiger und abwechslungsreicher machen würden.
Denn es sind nicht alle Zeiten gleich. »Im Sommer«, so Walter Benjamins anschaulicher Kommentar zu dieser Trivialität, »fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen«. Doch nicht nur die Jahreszeiten sind verschieden, die Zeit ist es generell. Es gibt sie nur im Plural. Wir kennen die Schnelligkeit, die uns zu vielen Errungenschaften verholfen hat, wir kennen die nicht minder produktive Langsamkeit, die Aktivität, das Ruhen, die Veränderung, die Stabilität und viele andere Zeitqualitäten mehr. Alles hat nicht nur seine Zeit, sondern auch seine Zeiten. Die Dinge, die Abläufe, die unterschiedlichen Systeme, sie alle haben ihre je eigenen Zeitqualitäten. Eine Barocktreppe hat und provoziert bei denjenigen, die sie betreten, eine andere Zeit als eine Rolltreppe. Wir reden, wenn wir schnell miteinander gehen, anders und auch über etwas anderes als dann, wenn wir am Strand entlangschlendern. Jede Straße, jeder Stadtbezirk, jede Gesellschaft, jede Firma signalisiert und offeriert ihre je eigene zeitliche Bewegungsanweisung, auf die hin die Subjekte durch ein je spezifisches Verhalten reagieren.
Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von »Affordanz«, ein Terminus, der den Aufforderungscharakter der Umwelt mit Blick auf eine bestimmte Form des Handelns und Verhaltens benennt. Die Gegenstände, die Dinge, die soziale Mitwelt, die Umgebungsatmosphäre sagen, was man tun soll. Sie senden Aufforderungsimpulse im Hinblick auf ein bestimmtes Zeitverhalten aus. Ein Sessel oder eine Sitzbank fordern zum Niederlassen, zum Pausieren auf, eine Espressobar, ein Stehtisch hingegen zum schnellen Verzehr. Das wird viel zu selten von denjenigen ins Kalkül gezogen, die – wie Kommunalpolitiker, Stadtplaner, Architekten – darüber entscheiden, inwieweit die urbane Lebenswelt den Bürgern ein buntes, vielfältiges Zeithandeln ermöglicht, es fördert oder behindert. Die Wissenschaft hat mittels Beobachtungen und Experimenten mehrfach bewiesen, dass die menschliche Aktivität, speziell auch die im Straßenverkehr, von der räumlichen Ausstrahlung, der architektonischen Umgebung und den Wirkmächten von Straßenführung und Straßenbreite beeinflusst und bestimmt wird. Breite Straßen fordern zum Gasgeben auf, krumme Wege, enge Kurven hingegen zum Verlangsamen. Doch nicht nur Autofahrer, auch Fußgänger reagieren entsprechend.
Ganz ähnlich auch die Geschwindigkeiten beim Denken. Das Rationale dient vielfach der Beschleunigung, der Zeitkontrolle und der Zeitverdichtung. Das Gefühlvolle, das Emotionale, aber auch das Soziale tendieren zu Verzögerungen, zu Abschweifungen, zu Umwegen. Gebraucht wird beides, möglich muss beides sein: Schnelligkeit und Langsamkeit. Eines der schönsten und überzeugendsten Beispiele dafür liefert uns Charles Dickens in seinem Roman Die Pickwicker. Er gibt darin höchst präzise Verhaltensregeln zum Einfangen verloren gegangener Kopfbedeckungen:
»Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, sonst stürmt man über ihn hinaus; man darf nicht zu langsam sein, sonst verliert man ihn. Die beste Art, ihn einzufangen, ist, möglichst in gleicher Linie mit dem verfolgten Gegenstand zu bleiben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken. Dabei empfiehlt es sich, fortwährend zu lächeln, als hielte man alles für einen ebenso guten Spaß wie jeder andere.«
Die Moral von der Geschichte: Um gut behütet durchs Leben zu kommen, muss man sowohl langsam als auch schnell sein können. Die immer nur Schnellen, die stets Gehetzten und andauernd Hastigen erhaschen nicht den Hut, sie greifen nur in die Luft. Das Gleiche widerfährt auch denjenigen, die sich allem und jedem nur langsam nähern. Auch sie bekommen im Leben wenig zu fassen, greifen häufig ins Leere. Die Schnelligkeit braucht Langsamkeit, wenn sie denn sinnvoll und erfolgreich sein soll – und ebenso braucht Langsamkeit auch die Möglichkeit zur Schnelligkeit. Und darüber hinaus benötigen wir langsame Schnelligkeit und schnelle Langsamkeit. Nur zusammen sind Langsamkeit und Schnelligkeit produktiv und schöpferisch, so wie es sinnlos wäre, etwas anzufangen, wenn es kein Ende gäbe. Es existiert nun mal kein Schluss, dem nicht ein Beginn vorausgehen würde. Gäbe es keine Staus, keinen Stillstand im Straßenverkehr (in Erinnerung an das, was wir vermissen, sprechen wir gerne von Rush...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Es ist an der Zeit, …
  6. Kapitel 1: Lebst du schon oder sparst du noch: die Zeit?
  7. Kapitel 2: Von der Vielfalt der Zeiten
  8. Kapitel 3: »Jetzt aber mal langsam!« – Die Langsamkeit
  9. Kapitel 4: »Play it again!« – die Wiederholung
  10. Kapitel 5: »Please hold the line!« – das Warten
  11. Kapitel 6: »Der Zwischenraum hindurchzuschaun« – die Pause
  12. Kapitel 7: Poesie und Politik – Zeiten des Dazwischen
  13. Kapitel 8: Vom Unbehagen in der Zeitkultur – zeitpolitische Perspektiven
  14. Kapitel 9: »Worte sind schön, aber …« – Zehn Angebote für die Zeit nach der Lektüre dieses Buches
  15. Und noch etwas:
  16. Literatur
  17. Bildnachweis