Briefe
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Briefe

  1. 324 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Im Zentrum dieser Edition stehen die Briefe, die Gertrud Kolmar von September 1938 bis zu ihrer Deportation im März 1943 nach Auschwitz an ihre in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde Wenzel schrieb. Sie schreibt von der immer schwieriger werdenden und schließlich ausweglosen Lage der letzten Juden in Berlin und gibt der Schwester umfassende und häufig verschlüsselte Einblicke in ihr Erleben, ihr Schaffen und in ihre Erinnerungen. Insbesondere die letzten Briefe vor der Deportation lesen sich wie ein bewusstes Vermächtnis der Dichterin. Neben den Briefen an die Schwester enthält der Band die wenigen überlieferten frühen Briefe an Jacob Picard und Walter Benjamin. Darüber hinaus werden in diesem Band die neu entdeckten Briefe und Postkarten an die Schauspielerin und Schriftstellerin Leni Steinberg erstmals veröffentlicht. Gertrud Kolmars Briefe sind nicht nur ein einzigartiges zeitgeschichtliches, autobiographisches und das eigene dichterische Werk reflektierendes Dokument, sondern sie zeichnen sich auch durch ihre hohe literarische Qualität aus und können als zentraler Bestandteil des Werkes der Dichterin gelten.

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Information

Briefe

Briefe an Hilde Wenzel
und andere Angehörige
1920 – 1943

[1]
[5. Juli 1920]
Westend, d. 5. Juli 20.
Mein liebes, gutes Hillechen!
[…] Gestern war in der Haeselerstrasse nach 6 Jahren zum ersten Mal wieder Kinderfest mit Musik und bengalischer Beleuchtung, mit Würfelbuden und Fackelzug, mit Raketen, Schießen und sonstigem Lärm. Das letzte Fest, im Jahre 1914, haben Eichhorns auch noch gesehen. Trudchen, Jörgchen und Kurt sind auf eine Weile hingegangen; Margot hat Ilse Benario, die nochimmer liegen muß, Gesellschaft geleistet. […]
Liebe Hilde, Zwar habe ich Deinen Brief noch nicht gelesen, aber Vati hat mir schon freudevoll berichtet, wie schön ausführlich Du wieder geschrieben hast. Ich weiß nun hier nichts Besseres zu tun als Vati’s Schilderung vom Kinderfest noch etwas zu ergänzen. »Kinderfest« ist eigentlich insofern nicht ganz richtig, als die Erwachsenen (besonders zwischen 18 und 20 Jahren) hervorragend daran beteiligt waren. Im letzten Hof, in der Königin-Elisabethstraße, tanzten sie Walzer nach den Klängen von: »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang …« Sinnvoll! An selbigem Orte fand man auch Kirschen- und Eiswaffeltische, Glücksrad und Kegelbahn. Das Glücksrad wurde von 2 halb als Indianer halb als Mohren ausstaffierten Individuen bedient, die Gewinne bestanden aus Papierblumen, Tonengeln, Tafelaufsätzen aus Glas und Blech und ähnlichen Herrlichkeiten. Den einzigen wirklichen »Wertgegenstand«, der immer dabei war, stellte ein ganzer Laib Brot vor; allerdings war dieser Gewinn wohl nur für die Verwandten oder Bekannten des Veranstalters bestimmt. In einem der vorderen Höfe gab es ein Scheibenschießen für Erwachsene, woanders schossen die Kleinen mit der Armbrust nach einem rot, gelb und grün bemalten Doppeladler. Da das Scheibenschießen in Wlukas Hof stattfand, hatte der Junge Kurten anfangs vorgeredet, Wlukas hätten Würste dazugestiftet und sie an Strippen aufgehängt; wem es gelänge, die Strippe zu durchschießen, dem gehörte die herunterfallende Wurst. Übrigens, wie immer waren die Teilnehmer an der Festlichkeit zumeist etwas »verkleidet«; einige kleine Mädchen trugen bunte Krepp-Papierröcke, in denen sie steckten wie Topfblumen in der Manschette, ein paar kleine Jungen liefen als Pierrots umher, und die Großen hatten zum guten Teil Ulkmützen auf den Köpfen. Frau Wächter guckte aus ihrem Fenster, weißgekleidet mit einer grünen Papierhaube, die gelbe Bänder schmückten; der Junge meinte, sie sähe aus wie Brunhild. Sehr komisch war ein Clown mit rotem Zylinderhut, gleichfarbiger Nase, langen, schwarzen Papierlocken und altfränkischem grellkarriertem Anzug; er sah so etwas wie die Karrikatur eines reisenden Engländers aus und tanzte zu einer plötzlich auf offener Straße improvisierten Geigenmusik, immer mit einem Mädchen nach dem andern, ohne je außer Atem zu kommen. – Nun sei auch recht fröhlich, wenn auch auf andere Art, und grüße alle bestens von
Trude.
[2]
[8. Juli 1920]
Liebe Hilde,
Besten Dank für den Brief. Schon die kleinen Klebeplaketten auf den Umschlägen gefallen mir immer so gut. Ich führe weiter ein stilles Leben hier, helfe Mutti, soweit ich kann – und soweit sie sich helfen läßt! – und gehe alle paar Nachmittage herüber zu Ilse Benario. Sie macht jetzt schon einmal täglich einen kurzen Spaziergang durch den Flur, am Stock und mit Unterstützung; es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich wie früher bewegen kann. –
Gestern nachmittag war ich zum 1. Mal nach langer Zeit wieder mitten in der Stadt, bei Wertheim; ich habe auch meine Lehrerinnen vom Seminar besucht und an ihnen gefunden, was ich überhaupt hier allgemein feststellte: Alle Menschen sehen jetzt viel besser aus als im November, da ich Berlin verließ. Auch die Preise verschiedener Fabrikwaren scheinen mir seither gefallen zu sein, und die Ernährungsverhältnisse sind so schlimm nicht, wie man ich es sich im lieben Bayern vorstellt, vielleicht auch vorzustellen liebt, denn für den rechten Bayer kann es den Saupreußen und besonders den verhaßten Berlinern gar nicht dreckig genug gehn kann. Aber ich will das Land nicht schelten, das jedenfalls mir Gastfreundschaft gewährt.
Und hiermit mache ich Schluß und grüße Dich und Helene herzlich.
Trude.
[3]
[25. April 1927]
Auch ich, liebe Tante Martha, gratuliere Dir herzlich zum Geburtstage und schließe mich Vatis guten Wünschen »in vollem Umfange« an. Es grüßt Dich und die ganze Familie Crzellitzer viele Male
Deine Nichte
Trude.
[4]
[18. August 1927]
Neu-Finkenkrug, d. 18.8.27.
Mein liebes Meisterchen!
[…] Bei Deinem Durchfahren durch Finkenkrug hat Vati Dich gesehen, Trude nicht, u. auch von die Schokolade hat sie nicht gefunden. Es schien ihr so, als wenn jemand etwas herauswarf, aber sie hat beim Suchen nur ein leeres Stollwerkschächtelchen, das gewiß schon längst dort lag, gesehen. Ich war auch an dem Übergang, wußte aber nichts von Eurer Vereinbarung auf der andren Seite u. stand diesseits, es that mir leid, ich hatte mich so beeilt, um rechtzeitig hinzukommen. Trude war schon vorausgegangen u. sah mich erst im letzten Moment auf der falschen Seite stehen. […]
Liebe Hilde, Also besten Dank für die Chokolade, die ich leider nicht ergattert habe. Hoffentlich war’s keine 250 g Tafel, die mir so entgangen ist. – Wenn Du Goldschmidts siehst, grüße sie von mir. An Dich schönen Gruß von Lenchen, und Du sollst Dich nur recht erholen.
Herzlich grüßt Dich
Trude.
[5]
[5. Dezember 1928]
Finkenkrug, d. 5.12.1928.
Liebe Hilde,
Besten Dank für Dein Schreiben. Also, mit dem Buddha ist es nichts. Ich glaubte nämlich, daß, da wir Band 2 haben, mit dem Einkauf von Band 1 das Werk vollständig wäre; aber wenn man nun noch ganze 3 Bände hinzuerwerben muß … Soviel macht sich Vati, denke ich, nicht daraus.
Stattdessen Folgendes: Vati hat sich einmal die deutsche Ausgabe von »Georg Brandes, Julius Caesar« gewünscht, und Mutti, die heute bei Herrn Ring Einiges kaufte, hat festgestellt, daß das Buch bei Reiß (Berlin?) erschienen ist und ca. 20 M kostet. Nach diesen Angaben wirst Du es wohl ausmitteln und bestellen können. An diesem Buche möchte ich mich gern beteiligen (der Junge hat etwas anderes); lehnst Du aber die Beteiligung ab, so möchte [ich] Dich bitten, für mich beim Verlage J. B. Metzler, Stuttgart, »Hans Naumann, die Deutsche Dichtung der Gegenwart« (Ganzleinen 10 M) zu besorgen. Ein solches Werk fehlt uns nämlich, da unser Leixner so ungefähr mit Ge[r]hart Hauptmann aufhört. Die angeführte Literaturgeschichte kenne ich freilich nicht, weiß aber auch keine andere, und wenn die Kritiken nur halbwegs stimmen, kann sie nicht schlecht sein. Ist Dir selbst jedoch auf diesem Gebiete etwas Besseres bekannt, so kannst Du natürlich das besorgen.
Noch eins: Mutti findet, daß 2 Bücher für uns (und besonders für Dich) eine zu große Geldausgabe wären. Nun könnten wir ja dann beide zusammen den Cäsar schenken; aber Mutti ist – nicht mit Unrecht – mehr für den Ankauf der Literaturgeschichte, weil sie, wie gesagt, einmal tatsächlich etwas ist, was uns fehlt. Wiederum wird sie Dir, da sie ja nur 10 M kostet, vielleicht als ein zu kleines Geschenk für 2 Personen erscheinen. Und daß Du sie allein schenkst, möchte ich nicht; denn ich habe mir doch die Mühe gemacht, etwas Schönes und Nützliches auszudenken, und Du erntest dann den Dank dafür, während ich jetzt erst einmal wieder ohne Geschenk dasitze. Schließlich kommt es dabei auf den Preis nicht an, und Vati wird sich über den 10 M-Band genau so freuen wie über ein teureres Werk. –
Wo wohnt jetzt eigentlich Ella? Wenn sie mir nicht zum 10. schreibt, kann ich ihr nicht gratulieren, weil ich dann ihre Adresse nicht habe. Sie hat doch am 15. Geburtstag. (Vati hat mich, im Hinblick auf ihr Schreib-Versprechen, allerdings gefragt, ob ich noch an Wunder glaubte?)
Sonst nichts Neues. Wenn Du inzwischen Ella siehst, grüß’ sie und erinnere sie an ihr Versprechen. Und sei selbst herzlich gegrüßt von
Deiner
Trude.
Mein liebes Hillechen!
Meine Ansicht betreffs des Buches hat Trudchen schon geschrieben. Ich glaube, daß Vati sich mehr freut, wenn Ihr nicht so viel Geld ausgebt, u. es kommt doch nicht darauf an, daß eine Sache besonders viel kostet, um zu gefallen. Eine neuere Litteraturgeschichte wäre jedenfalls sehr was Schönes u. käme auch besonders der Allgemeinheit zu gute. Nun weißt Du, denke ich, Bescheid. Für mich nur auch nicht zu viel Geld ausgeben, Du bist immer viel zu nobel. Gestern war ich bei Ring, habe Lörke für Trude gekauft u. das neue Buch über Goethe’s Vater von Glaser, das sehr gut sein soll. Letzteres für Vati. […]
[6]
[10. Dezember 1928]
Liebe Hilde!
Hier nur kurzen, aber herzlichen Dank für Brief und Geschenke. Besorge bitte den Naumann (gebunden); denn den Witkop kenne ich nicht, und wenn der Bartels mit dem Literarhistoriker identisch ist, den ich kenne, dann verspreche ich mir von seinem Werk nicht viel. Ich möchte doch lieber bei Dir bestellen als bei Herrn R.; der Verlag ist ja in Stuttgart, und dann hat R. für Mutti auch Porto berechnet. – Von Ella habe ich bisher nichts, glaube auch kaum, daß ich noch was bekomme. Bis zu ausführlicherem Schreiben die besten Grüße!
Trude.
[7]
[13. Dezember 1928]
Finkenkrug, d. 13./XII.28.
Liebe Hilde,
Heute erhältst auch Du von mir ein schönes Gekrakel; denn erstens habe ich aus Mutti’s Schreibtisch eine merkwürdige neue Feder erwischt, die dauernd »aussetzt«; zweitens und in der Hauptsache aber habe ich meinen Brillenbügel abgebrochen, und ohne Brille bin ich nicht mehr zu schreiben gewohnt.
Dieses Letztere ist die Entschuldigung mit der ich vorerst jeden Geburtstagsdankbrief einleiten muß. Sie bildet den ersten Teil meines Schreibens; nun kommt der zweite, persönlicher gehaltene.
Er beginnt mit einem recht herzlichen Dank für Deine drei Geschenke. Über die Bahnhofsansichten habe ich mich natürlich besonders gefreut; ich bekam ordentlich Lust, wieder einmal nach Stuttgart zu fahren – schon um dieses bewunderungswürdige Bauwerk wiederzusehn. Mit Deinem Buche passierte mir Folgendes (was die Einbildung macht!): Ich durchblätterte es, noch ehe ich Deinen Brief gelesen, merkte keineswegs, daß Du mir Dein Exemplar geschickt, sondern stellte fest, daß sich diese Ausgabe von der Deinen durch gewisse kleine Veränderungen unterschied! Die Mandarine hielt ich für Marzipan, bis Mutti sie für Seife erklärte; ich kann »letztere« eigentlich noch besser gebrauchen als »ersteres.«
Von meinem Geburtstag ist nicht weiter Großes zu melden. Wir feierten ihn »in aller Stille«, da ich die ganze vorige Woche stark erkältet gewesen war und keine Lust gehabt hatte, Einladungen zu versenden. Ich will meine Geschenke nicht im einzelnen aufzählen, möchte aber erwähnen, daß ich außer Briefpapier, Konfekt und Büchern, eine Winter-Schlupfhose (von Helene) bekam – womit ich, wie ich glaube, Deinen Rekord bald brechen werde – und ferner einen Schirm (dunkelblau; von Vati und Mutti) – ein Gegenstand, dessen »Nichtbenutzung« man mir kaum wird vorwerfen können.
Gestern übrigens war ich bei Herrn Ring, wo ich Deine »Deutschen Liebeslieder« die er uns geschickt hatte, von Muttis Geld bezahlte. Herr R. selbst war nicht zu sehn, dafür machte ich die Bekanntschaft von Herrn Bl., der, finde ich, gar nicht so entsetzlich häßlich ist, wie Du ihn einmal schildertest. Er fragte nach Dir, läßt Dich grüßen. –
Punkt. Strich. – Weißt Du, was ich gestern gesehen habe? Ich lege meine Betten zum Lüften ins |Seiten-|fenster, und während ich noch dabei bin, gibt es ein Knacken und Krachen im Kiefernwipfel dicht vor mir, und da sitzt ein großes Tier (wirklich ein großes Tier!) ganz ruhig und fest: ein Mäusebussard. Er blieb ein Weilchen und |flog| dann zu Grieshabers ab.
Mit diesem Erlebnis schließe ich. Noch dies: Deine guten Wünsche in betreff des Nobelpreises haben mir Spaß gemacht. So alt bin ich denn doch noch nicht. Denn Du weißt wohl, daß man den Preis als »Altersversorgungsanstalt« bezeichnet hat, weil er immer nur an reichlich bejahrte Dichter – meist auch solche, die es nicht mehr nötig haben – verliehen wird. Die diesjährige Preisträgerin ist zwar, glaube ich, erst in den Vierzigern, bildet aber auch bisher nur die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. –
Nun leb’ wohl. Nochmals vielen Dank und Herzliche Grüße!
Trude.
[8]
[22. Januar 1929]
Liebe Hilde,
Gestern nachmittag war ich bei Schmollers, bin zu Ring mit herangegangen und habe bei Herrn Bl. Deinen Kalender bezahlt. 3.55 M, einschl. Porto, so daß Du jetzt noch ein paar Groschen Schulden bei mir hast. Herr Bl. kennt den Herrn Augenfeld (was Du vielleicht schon weißt), aus Heringsdorf, glaub’ ich, denkt aber wenig gut von ihm; er nannte ihn einen »sehr schäbigen Kerl.« Was da vorliegt, weiß ich nicht; ich teile Dir das bloß mit.
A propos »Gruscha«: Der Name stammt von mir, ist russisch und eine Koseform für »Agrafjena« (latein. »Agrippina«); außerdem heißt »Gruscha« »die Birne«.
Auf einandermal! Gruß an Ella und Dich von
Trude.
[9]
[12. Juni 1936]
Liebe Hilde, »Püppi« ist mir eine wertvolle Hilfe. Sie deckt den Tisch, räumt ab, füttert die Hühner mit Löwenzahnblättern und gießt die Erdbeeren mit einer kleinen »Dießtanne.« – Mit vielen schönen Grüßen
Trude.
[10]
[16. Juni 1936]
Liebe Mutti,
Wenn ich morgens aufwache und rufe, so muß »Tjude« sich entweder erst anziehn oder sie behauptet, sehr müde zu sein und legt sich noch mal ins Bett. Jedenfalls wird mir dann irgendetwas übergeworfen, damit ich mich nicht erkälte, und ich sitze in Trudens Zimmer am Fenster vor einer von ihr »Schreibtisch« genannten Kiste auf einem von mir »Fußbank« genannten Tritt, studiere Bücher und Zeitungen oder schreibe Rechnungen über »Eine Mark« aus. Heute aber erklärte ich: »Mutti treibt Brief,«; das war aber kein Brief, den Mutti an mich, sondern – wie ich Trude klarmachte – einer, den ich an Mutti geschrieben hatte; Trude hat i...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Briefe
  6. Anhang