XI.
NEUE PLÄNE UND VORBEREITUNGEN
»Na, Sie werden vor Langeweile umkommen und sich gegenseitig nicht mehr riechen können nach dem langen Winter«, meinten gute Freunde, als wir abreisten. Nun, Hass ist ein Gemütszustand, der sich im New Yorker Prachtsaal ebenso leicht entwickelt wie im sibirischen Feldlager, eher leichter. Langeweile entsteht aus Überdruss und hat nichts mit den Breitengraden zu schaffen. Hass gab es bei uns kaum, höchstens vorübergehende Gereiztheit, die allerdings hier und da auf Gluthitze stieg oder nur langsam abflaute. Da war einer, der sprach seinen Gefährten vielleicht zu viel. Ein anderer hatte die Gewohnheit, seine Sachen zu verlegen und auf der Suche nach ihnen das ganze Lager umzudrehen. Wieder ein anderer erzählte lange, schwerfällige Geschichten ohne Schlager. Und schließlich waren da ein paar schamlos Träge, über die sich alle ärgerten. Aber der Gemeingeist überwand diese Reibungen. Auch der Faulste wünschte dem Unternehmen vollen Erfolg. Ich ziehe ihn dem Kraftvollen vor, der niemandem treu bleiben kann, nicht einmal sich selbst. Solche gab es bei uns nicht, Gott sei Dank! Darum stand unser Staat auf festen Füßen. Man zeige mir einen Männerbund, der ein Jahr lang in friedlicher Eintracht lebte, ohne gelegentliche Wutausbrüche, ohne kräftigen Fluch, und ich werde das Vergnügen haben, eine Wachspuppenschau kennenzulernen.
Natürlich plagte uns manchmal die Langeweile. Gegen Wintersende schien die Zeit oft genug stillzustehen. Die Sonne und das Frühjahr wollten nicht kommen. Aber Langeweile war doch selten, denn es gab immer etwas zu tun. Angesichts vieler wichtiger Vorarbeiten rannte uns der Frühling sogar mit Riesenschritten entgegen. Man bedenke, dass meine Leute aus Tausenden ausgewählt waren, unternehmungslustige Männer mit ausgeprägtem Sinn für das Außergewöhnliche. Einige bewiesen überragende Meisterschaft, die meisten standen über dem Durchschnitt, alle Übrigen waren tüchtige, zuverlässige Arbeiter. Da gab es Wissensdurstige um der Wissenschaft willen, während andere keinen roten Heller für eine ganze Schiffsladung von Gelehrsamkeit übrig hatten. Dieser verstand es, aus einem Holzspan, einem Tuchfetzen, einem Draht das wunderbarste Gerät herzustellen; jener konnte kein Feuer unterhalten, und wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Einige gehörten zu den sportlichen Freiluftmenschen, denen das wilde Leben Spaß machte; andere beschäftigten sich lieber daheim und blieben bis zum Frühjahr beim Ofen hocken.
Jeder war imstande, irgendetwas gut zu machen, oder sein Wesen fügte sich besonders glücklich in unseren Staat. Sonst hätte er eben nicht zu den Auserwählten gehört. Alle sahen den Entbehrungen und Gefahren unerschrocken entgegen. Sonst wären sie nimmer gekommen. Ihnen winkte kein Gewinn. Trotzdem waren sie da. Gefühlsduselei kannten sie nicht; dafür hatten sie sich zu sehr alle Winde der Welt um die Ohren sausen lassen. Aufgrund gemeinsamer Belange, gemeinschaftlicher Ziele und einmütiger Begeisterung bewiesen sie eine Treue, Duldsamkeit und Lebendigkeit, wie man sie unter anderen Umständen nicht so leicht findet. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Großstadt-Zeitungsschreiber sie zu bunt gewürfelten Landstreichern stempelte. Das wäre eine gemeine Herabsetzung. Sie waren kühne, standhafte Männer.
Es gibt komische Ansichten. Viele Leute glaubten, wir reisten ins Eismeer, um Zeitungsgeschichten und Kinofilme zu machen. Nein, wir waren auf der Suche nach wissenschaftlichen Tatsachen, die allerdings zunächst noch keinen greifbaren Vorteil versprachen. Da lohnte es gewiss die Mühe, die Gefahren und Unbequemlichkeiten des ohnehin gewagten Unternehmens aufs geringste Maß zu beschränken. Die Hälfte der Menschheit befasst sich damit, den kürzesten und ungefährlichsten Weg zum Erfolg zu finden. Trotzdem sagte mir der Leiter einer riesigen Aktiengesellschaft: »Sie haben es sich zu leicht gemacht. Es ist ohne Entbehrung und Unglück abgegangen. – Quatsch! Es gibt einfach keine leichten Polfahrten, sei es mit Flugzeug oder Schlitten. Wie darf man dergleichen behaupten, wo viele heldische Männer ihr Leben ließen und ihrer noch mehr Übermenschliches erduldeten. Natürlich ist das Fliegen förderlicher als die Schlittenreise. Es ist auch bequemer, das heißt, wenn man einmal in der Luft schwebt und solange man nicht herunterfällt. Hanebüchene Selbstverständlichkeiten brauche ich hier wohl nicht weitläufig zu erörtern. Der Flieger bezahlt seine Schnelligkeit und Reichweite mit der Verwundbarkeit durch Wetter und Motorversager. Der Schlittenreisende bezahlt seine Sicherheit mit harter Fron.
Nach glücklich vollendeter Arbeit meint jeder, sie sei leicht gewesen. Die Geschichte der Forschungsreisen zeigt merkwürdige Gegensätze. Man vergleiche die Fahrten Scotts und Amundsens. Lange Zeit war es üblich, Amundsens Eroberung des Südpols zu unterschätzen. Sogar Scott glaubte, Amundsen müsse einen leichteren Weg gefunden haben, als er die Spuren des Vorgängers entdeckte. Man stelle sich in der Vogelschau über beiden vor, die nur 120 Kilometer auseinander sind. Die Amundsenleute streben fahrplanmäßig, munter und satt der Küste zu. Scott befindet sich noch auf dem Weg zum Pol, aber vom Unglück verfolgt, von Sturm und Hunger geschwächt und schließlich zum Tod verdammt.
Gewiss hat sich Amundsen die Sache leichter gemacht. Er bediente sich der Hunde, während Scott mandschurische Pferdchen nahm, weil er kein Vertrauen zu Hunden hatte. Immerhin wagte Amundsen auch allerlei, denn er überwinterte auf der Barre, was die Schlittenfahrt um 160 Kilometer kürzte. Das bedeutete einen kühnen Entschluss. Ferner versuchte er einen ganz neuen Weg zum Pol, während Scott den Spuren Shackletons folgte, der 1908 bis auf 155 Kilometer an sein Ziel herangekommen war. Damit will ich Scotts Verdienste nicht schmälern. Man kann nicht alles berechnen; es gibt Unvorhergesehenes. Sein Opfertod schenkte der Welt mehr als bloßen Erfolg, nämlich eine geistige Erfahrung, die ein Dutzend Südpole aufwiegt.
Doch bleiben wir bei den Lebenden. Es hat nur einen Scott gegeben. Der Heldentod, den der obengenannte Nasenrümpfer uns wünschte, wurde nicht unser Los, denn mit der Sehnsucht nach dem Gelingen verband sich die Angst vor dem Misserfolg. Das Glück neigt sich dem zu, der alles gut vorbereitet hat. Die Niederlage blüht dem, der wichtige Vorsichtsmaßregeln vernachlässigt. Das heißt dann Pech. Aber die Launen des Südeises sind unberechenbar und gefährlich genug, um auch die sorgfältigsten Vorbereitungen über den Haufen zu werfen. Vor jeder Fahrt brüteten wir stundenlang über allen Möglichkeiten. Wir bemühten uns, nichts dem Zufall zu überlassen. Ausschüsse widmeten sich allen Einzelheiten des Planes und der Ausrüstung. Kleinamerika verfügte über eine der besten Büchereien auf dem Gebiet der Polfahrten. Aus ihr schöpften wir so manchen Wink. Zum Schluss waren diese Bücher gründlich zerlesen und bekleckert.
Beispielsweise hatten wir da den Ausschuss für den Polflug, der aus Balchen, McKinley, June, Smith, Parker und mir bestand. Die Motorenwarte Bubier, Demas und Roth wurden als Beigeordnete zugezogen und lieferten wertvolle Winke. Wir berieten über die besten Mittel und Wege, um den Ford glücklich zum Pol und zurück zu fliegen. Das war nicht so einfach, als ob man bloß aufzufüllen und Gas zu geben brauchte. Allein das Legen und Einhalten des richtigen Kurses stellt dem Flugleiter hier um den Pol herum die kniffligsten Aufgaben. Wie viel Benzin und Öl sind erforderlich? Wie hoch muss man den Notvorrat bemessen? Welches Höchstgewicht dürfen wir für Lebensmittel und Schlitten ansetzen? Welches Mindestgewicht gewährleistet die sichere Heimkehr nach einer Notlandung? Welche Ersatzteile nebst Werkzeug soll man mitnehmen für den Fall, dass sich das Flugzeug nach der Notlandung wieder ausbessern lässt? Wie müssen Standlager, Schlittenabteilung und die Gestrandeten ordentlich zusammenarbeiten, damit der Rettungsdienst klappt? Alles das wurde gründlich durchgesprochen.
Beratung der Flieger im Lesesaal. Von links Smith, Parker, Byrd, Balchen, June
Setzen wir uns einmal mit an den Tisch und hören wir zu. Wir versammeln uns im Lesezimmer. Um drei Wände ziehen sich Bücherbretter, wo Owen die Bände in saubere Reihen gliedert. Sonst hängt da nur noch das Bildnis von Floyd Bennett, mit der amerikanischen F...