1 Agilität und Agilitätsmanagement – eine Einführung
Dieter Thomaschewski und Rainer Völker
1.1 Überblick
»Agilität« ist eines der neuen Themen, welches es auf einen der Top-Plätze in der Managementliteratur, der Beratung, der Managementseminare und damit auch der betrieblichen Praxis geschafft hat. Wie bei allen diesen Konzepten gibt es bekannte stilisierte Fakten:
a) Das Konzept scheint eine hohe Bedeutung für alle oder zumindest sehr viele Unternehmen zu haben und verspricht bei Anwendung signifikante Erfolgswirkungen
b) Die Verbreitung des Themas verläuft meist nach einem »Hype Cycle« (
Abb. 1.1) – anfangs gibt es sehr hohe Erwartungen, denen dann eine Phase der Ernüchterung folgt, bis hin zum »Normalbetrieb«. Egal ob bei »Knowledge Management« »Prozessmanagement« u.v.a. solcher Ansätze – der Ablauf ist sehr ähnlich.
c) Die hohen Erwartungen hängen auch mit den meist unscharfen Terminologien und den nicht immer gleich greifbaren Eigenheiten der Ansätze zusammen. Wie wir im nächsten Abschnitt zeigen werden macht genau diese »Unschärfe« der Konzepte einen Teil des Höhenflugs aus.
d) Eine übliche »Anfeindung«, die üblicherweise gegenüber den neuen Ansätzen vorgebracht wird, ist der Vorwurf, es handle sich oft nur um »alten Wein in neuen Schläuchen«. Dies ist nicht immer von der Hand zu weisen. In vielen Fällen hat der jeweilige Ansatz aber tatsächlich einiges Neues vorzuweisen und/oder hat in der jeweiligen Zeit seine Aktualität und/oder schafft zumindest eine Implementierung teilweise schon bekannter Vorgehensweisen und Methoden.
Ein Ziel des vorliegenden Bandes ist es die Bedeutung von Agilität und Agilitätsmanagement für die Praxis und mögliche Anwendungsbereiche des Managementkonzeptes zu beleuchten. Vor diesen Praxisbeiträgen sollen im Kapitel 1 allerdings einige grundlegende Betrachtungen angestellt werden, die u. a. zum besseren Verständnis dieses »unscharfen« Konzeptes beitragen sollen. In Abschnitt 1.2 versuchen wir zunächst eine begriffliche Einordnung der Agilität vorzunehmen und darzulegen, warum Agilität eine solche Bedeutung zugemessen wird. Abschnitt 1.3 ist ein Exkurs, der skizziert, was unter Managementmoden zu verstehen ist, welche Rolle sie spielen und wie entsprechend Agilitätsmanagement zu sehen ist. Agilität ist ein umfangreiches Konzept, in dem Sinne, dass alle Managementbereiche – Planung, Kontrolle, Organisation und Führung – angesprochen werden, wie in Abschnitt 1.4 gezeigt werden soll. Dort werden auch wichtige organisatorische Muster (»Wertstromorientierung« z. B.), Führungsprinzipien (»Selbstorganisation« z. B.) oder Methoden (»Scrum« vor allem), die allesamt mit Agilität in Verbindung gebracht werden, aufgeführt. Prinzipiell ist zu beachten – wie bei allen Managementkonzepten –, dass nicht jedes neue Konzept ein Allheilmittel ist und passend zur Situation und Zielsetzung des Unternehmens eingesetzt werden muss. Abschnitt 1.5 erläutert deswegen, wie prinzipiell zu verfahren wäre, um bei verschiedenen Ausgangssituationen den richtigen Mix von organisatorischen bzw. kulturellen Veränderungen sowie von neuen Methoden zu finden. Letztlich gilt es wie bei allen unternehmerischen Reorganisationen, die Relation zwischen Aufwand und Ertrag, möglichst positiv zu gestalten. In Abschnitt 1.6 schließlich ziehen wir ein kurzes Fazit.
1.2 Was ist Agilität und warum wird sie benötigt?
Die reine Wortbedeutung des Begriffes der Agilität beinhaltet zunächst Eigenschaften wie »Beweglichkeit« oder »Flexibilität«. Im betriebswirtschaftlichen Kontext findet der Begriff Agilität sich zum ersten Mal als Konzept in der Mitte der 1980er Jahre bei Kanter (1985) und Peters (1986). Diese beschrieben Agilität als Eigenschaft von Unternehmen, adaptiv mit Veränderungen im Marktumfeld umzugehen.
Insbesondere fand der Begriff jedoch Ende der 1990er Jahre durch den Einzug in den IT-Bereich das erste Mal große Bedeutung. Dies mündete in der Erstellung des agilen Manifests im Jahr 2001 (vgl. Wolf/Bleek 2017, S. 13 ff.). Bestehend aus 4 Axiomen und 12 Prinzipien (Beck et al. 2001) läutete das Manifest eine rasante Entwicklung agiler Methoden, wie insbesondere Scrum und agiles Projektmanagement, ein. Mittlerweile werden entsprechende Methoden und agile Projektorganisationsformen auch im Nicht-IT-Umfeld erfolgreich eingesetzt. So z. B. empfiehlt auch heute der Erfinder und Protagonist des State-Gate-Ansatzes, Robert G. Cooper, agile Vorgehensweisen in der Neuproduktentwicklung im Fertigungsbereich einzusetzen (Cooper/Sommer 2018). Darüber hinaus werden Grundprinzipien der Agilität im Rahmen von Organisation und Führung zur Neugestaltung der Unternehmensführung herangezogen (Kalenda et al. 2018). Die Ziele bleiben ähnliche wie in der Softwareentwicklung: Man möchte eine höhere Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen (Reagieren), eine verbesserte Fähigkeit zur Selbstveränderung (Lernen) und eine Stärkung der Innovationskraft (Innovieren) erreichen (Altherr 2018, S. 412 f.). Dabei werden nicht nur agile Prozesse und Führungswerkzeuge etabliert, sondern vielmehr das generelle Organisations- und Führungsprinzip angepasst (Rigby et al. 2018). Diese »Adaptionswelle« deutet darauf hin, dass das »Agilitätsmanagement« – egal in welcher Ausprägung – Erfolge zeigt bzw. zumindest in hohem Maße verspricht.
Die grundsätzliche Eigenschaft, sich agil bezüglich Markt- und Technologieveränderungen zu zeigen, war wohl auf den meisten Märkten immer eine Herausforderung. Gemäß unserer Aussage in Abschnitt 1.1 braucht es manchmal aber eben die richtige Zeit, die ein bestimmtes Verhalten ganz besonders bedeutend macht und/oder einen systematischen Ansatz erfordert. Wie Aghina, W. et al. (2018) herausarbeiten gibt es wesentliche Treiber, die die Notwendigkeit einer umfassenden »agile approach« und damit den Hype hervorbrachte:
• Sehr häufige disruptive Veränderungen bei Technologien und Märkten,
• ebenfalls sehr schnelle Veränderungen mit neuen Anforderungen bei allen Stakeholdern (Kunden, Investoren, Staat mit neuen Gesetzen) und Wettbewerbern,
• die durchdringende Digitalisierung benötigt ebenfalls Organisationen, welche mit multidimensionalen Kommunikationsmustern und komplexen Kollaborationen mithalten können,
• der »Krieg um Talente«, die letztlich andere Ansprüche an Lernen, Arbeit und Verantwortung haben, bedingt zudem die Abkehr von wenig dynamischen Silo- bzw. Senioritätskarrieren.
Die – wenn man so will – Notwendigkeit, agile Konzepte in Unternehmen einzuführen, lässt sich ähnlich auch über das VUCA-Modell (Mack et. al. 2016) begründen; VUCA steht dabei als Abkürzung für zentrale Aspekte der skizzierten Veränderungen: V = Volatilität, U = Unsicherheit, C = Komplexität, A = Ambiguität. Auf jeden Fall scheint es über neuere exogene Entwicklungen genug Anlass zu geben, systematischer reaktiv oder besser noch: proaktiv an Veränderungen heranzugehen. Was systematisches agiles Handeln im Unternehmenskontext bedeutet, wollen wir in den Abschnitten 1.4 und 1.5 erläutern.
1.3 Exkurs: Über Managementmoden – Hype Agilität
Management-Konzepte, -Techniken, -Methoden etc. unterliegen Trends. Manche dieser Gestaltungsempfehlungen kommen in Mode, um dann entweder teilweise oder ganz an Bedeutung zu verlieren. Manchmal lebt das Konzept nach einer bestimmten Zeit in erweiterter Form und mit einem neuen Namen wieder auf. So z. B. wurden die Prinzipien der Balanced Scorecard oder das Kernkompetenzmanagement u. a. von heute unbekannten Praktikern, bzw. Wissenschaftlern, erfunden und später von heute prominenten Wissenschaftlern bzw. Beratern erfolgreich bekannt gemacht. Das Phänomen der Management-Moden lässt sich nach Kieser mit Hilfe des Bildes einer Arena darstellen, in der verschiedene Akteure tätig sind (Kieser 1997). Diese Akteure sind z. B. Business Schools, Buchautoren, Professoren, Verlage, Unternehmensberatungen wie auch Manager, Journalisten und Seminarveranstalter. Sie beobachten Marktentwicklungen, tauschen neueste Managementtrends aus und generieren neue Managementkonzepte. Sie haben mit der Verbreitung einer Mode auch zunächst ähnlich geartete Interessen und sind somit keine Konkurrenten. Beschleunigend hinsichtlich der Verbreitung einer Mode wirken sich wiederholte Veröffentlichungen in einschlägiger Managementliteratur, die Veranstaltung von Seminaren und Kongressen wie auch das Auflegen von Büchern, die Bestseller-Status erlangen, aus. Charakterisierende Merkmale neuer erfolgreicher Managementkonzepte beschreibt Kieser mit:
a) Existenz von Schlüsselfaktoren,
b) Anwendung neuer Prinzipien, die allerdings noch von den Anwendern verstanden werden (nicht zu kompliziert) und mit dem Wertesystem der Anwender vereinbar sind,
c) Koexistenz von Einfachem und Neuem,
d) Mystifizierung durch teilweise unpräzise Darstellung,
e) Herausforderungen gesichert mit der Aussicht auf wesentliche Steigerung der Unternehmensleistung,
f) nur unklare Verweise auf empirische Nachweise.
Die Diffusion einer Mode folgt einem typischen Verlauf: Am Anfang befindet sich in der Arena eine relativ geringe Zahl von Akteuren. Wenn ein zunehmender Erfolg in der Anwendung dieser Inhalte beobachtet werden kann, wird die Arena auch für andere Akteure attraktiver. Die Mode findet Nachahmer. Die Unternehmenspraktiker sind zunächst sehr wichtige Akteure in der Arena, da sie die Umsetzung der Mode betreiben und somit für eine Verbreitung der Management-Inhalte sorgen. Auch der Einsatz gezielter Marketingmaßnahmen kann die Attraktivität der Arena steigern. Dabei geht es nicht nur darum, den Bekanntheitsgrad der Moden zu steigern, sondern mit ihnen auch den Bekanntheitsgrad der jeweiligen Urheber. Unweigerlich folgt dann aber auch der Abschwung einer Mode. Kieser sieht zwei Ursachen: Zunächst erkennt er, dass Moden sich abnutzen und das Produkt zur Commodity wird. Darüber hinaus sieht er den »Mord«, in diesem Zusammenhang das Ersetzen der einen Mode durch eine andere, als einen weiteren Grund für den Niedergang einer Mode. Es kann der Lebenszyklus einer neuen Mode beginnen. Eine bekannte Abfolge von Moden ist die folgende: In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dominierte noch Total Quality Management, in den 1990er Jahren war es Business Process Reengineering (BPR) und anschließend die lernende Organisation.
Als Protagonisten neuer Management-Methoden spielen oft auch Management-Gurus eine wichtige Rolle zu. Huczynski sieht drei Typen von Gurus: Neben den akademischen Gurus sieht er die aus der Beratungsbranche stammenden Gurus und schließlich jene Gurus, die auf eine besonders erfolgreiche eigene Karriere in der Wirtschaft zurückblicken können (Huczynski 1996). Agilitätsmanagement ist weniger von Gurus geprägt. Managementmacher fordern oft eine grundlegende Veränderung bestehender Management-Praktiken, Organisationsstrukturen und Kulturen. Sie verwendet dabei Empfehlungen, die eine fundamentale und fast magische Verbesserung der gegenwärtigen Lage versprechen. Im Gegensatz zu der Weiterentwicklung des bestehenden Gedankenguts verwerfen neue Ansätze genau dieses von Grund auf. Ein älteres Beispiel boten hierzu Hammer und Champy (Hammer/Champy 1993) mit ihrer Arbeit »Reengineering the corporation: A manifesto for business revolution«. Organisationen werden hier aufgefordert, die Vergangenheit aufzugeben, sich ihrer Tugenden zu besinnen und...