Schleswig-Holstein - Denkwürdigkeiten der Geschichte
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Schleswig-Holstein - Denkwürdigkeiten der Geschichte

Historische Miniaturen

  1. 228 Seiten
  2. German
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Schleswig-Holstein - Denkwürdigkeiten der Geschichte

Historische Miniaturen

Über dieses Buch

Die Geschichte Schleswig-Holsteins ist reich an Begebenheiten, ist reich an Personen und deren Erlebnissen, die die Menschen in Atem gehalten haben. Überbordend reichhaltig ist der Tisch gedeckt, auf dem dies alles kunterbunt ausgebreitet liegt, jedoch vieles dabei durch eine Staubschicht nur andeutungsweise noch erkennbar ins Hier und Heute hindurchschimmert. So stehen denn denkwürdige Begebenheiten aus unserer Geschichte – Einzelschicksal und Kollektivereignis, handelnde oder getriebenen Menschen, Bekanntes und weniger Bekanntes –, stellvertretend für viele andere und künden von Triumph und Tragik, Gestaltung und Erduldung. Der Leser nimmt Teil an der Schlacht von Hemmingstedt, leidet mit aufständischen Leibeigenen im 18. Jahrhundert, findet sich im Kieler Matrosenaufstand 1918 wieder oder reist mit den jungen Inselbesetzern 1950 nach dem alliierten Bombenabwurfgebiet Helgoland. Jede dieser zwölf Geschichten wird mit großer Informationsfülle in das jeweilige historische Umfeld eingeordnet.

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Information

Jahr
2012
ISBN drucken
9783844812831
eBook-ISBN:
9783844845891
Auflage
1

Meuterei, Revolte, Revolution.

Der Aufstand der Matrosen, Kiel November 1918
Es liegt was in der Luft
Nach dem Krieg ist nach dem Sieg, bestenfalls nach dem vereinbarten Frieden; so sehen es die Menschen, deren Leben sich in all den Jahren seit 1914 um Befriedigung des immerwährenden Hungergefühls und um die Sorge über die in fernen Zonen stehenden Soldaten bewegt. Stehen die deutschen Truppen nicht noch überall im so genannten Feindesland? Ist nicht Russland nach dem Brest-Litowsker Frieden vom 3. März 1918 in die Knie gezwungen worden? Und nun, plötzlich, die Siegesnachrichten sind kaum verklungen, der Gesamtsieg schien doch greifbar nahe, setzt das Donnergrollen an der Heimatfront ein –: unfassbar ist es für die Bevölkerung, was auf einmal erst tröpfchenweise, dann immer klarer durchsickert; fassungslos steht sie vor einem Scherbenhaufen. Alles was bisher galt, wofür sie ein Leben lang erzogen wurden, Militarismus und Kaiser, der die Welt am deutschen Wesen genesende lassen wollte, dies alles soll nicht mehr gelten. Erich Ludendorff, der große Stratege des Generalstabs, der eigentliche »Kanzler« unter dem mächtigen »Kaiser« Paul von Hindenburg – Wilhelm der Prächtige hatte schon seit 1916 nicht mehr viel zu sagen – macht innerhalb eines Tages eine Kehrtwendung um 180 Grad, und gibt am 27. September den Krieg hastig verloren. Ganz seinem Dienstrang gemäß beginnt er jetzt, die generalstabsmäßige Planung des Rückzugs. Er spielt alle Möglichkeiten in Gedanken durch, vor allem aber, wie die Armee das Gesicht wahren könne. Unverzüglich muss ein Waffenstillstandsgesuch an den Kriegsgegner her, und dazu bedarf es, ganz wie vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson gefordert, einer legitimierten Regierung. Und Ludendorff hat schon einen Plan: unbedingt müssen die Sozialdemokraten eine gewichtige Rolle innerhalb der neuen Regierung spielen. Und obwohl der Abgeordnete Philipp Scheidemann seinem Parteivorsitzenden Friedrich Ebert dringend davon abrät, sich an diesem »bankrotten Unternehmen« zu beteiligen, ergreift Ebert die Gelegenheit, zum Wohle des Vaterlandes seinen Beitrag zu leisten. Dass der Köder, den Ludendorff mit seinem Ansinnen ausgelegt hat und den Ebert anstandslos schluckt, vergiftet ist und sich das Gift über die folgenden Monate und Jahre wie ein Krebsgeschwür ausbreiten wird, das übersieht der Parteivorsitzende.
Schon am 29. September vollzieht sich vor den fassungslosen Augen des Bürgertums der Wandel zur konstitutionellen Demokratie; der Glanz des »glorreichen« Kaiserreiches verflüchtigen sich rapide. Am 4. Oktober bleibt dem neuen Reichskanzler Max von Baden nichts anderes übrig, als Ludendorffs Forderung nach sofortigen Friedensverhandlungen mit den Kriegsgegnern zuzustimmen, da angeblich die Westfront kurz vor dem Zusammenbruch stehe, wie der Stratege glaubhaft versichert. Doch was ist das? Nun, da er gegen alle internen Widerstände sich durchgesetzt hat, stiefelt Ludendorff nur wenige Tage später generalstabsmäßig wiederum in die entgegengesetzte Richtung. In aller Öffentlichkeit legt er dar, dass unbedingt weiterzukämpfen sei, der Sieg liege noch nicht im Sterben, noch sei mit den Truppen zu rechnen. Doch der Generalquartiermeister weiß, dass es zu Ende geht, nimmt schließlich seinen Abschied am 26. Oktober und setzt sich mit falschem Pass nach dem sicheren Schweden ab. Der einmal ausgelegte Köder entfaltet jedoch in den folgenden Monaten seine Wirkung: nicht die Armee, die unbesiegte, hat versagt; sind es nicht die Politiker gewesen, die völlig überstürzt mit Friedensverhandlungen sich hervortaten? Haben sie nicht der Armee hinterrücks in den zum Angriff erhobenen Arm gegriffen? Tragen sie nicht die Verantwortung für den verlorenen Krieg?
Überhaupt nicht einverstanden mit Friedensverhandlungen sind auch Kapitän zur See von Levetzow und Konteradmiral von Trotha. Und auch sie haben eine Idee. Mag die Armee sich auch sang- und klanglos davonstehlen, ihre Marine werde auf keinen Fall die Schiffe der Hochseeflotte, wie es die Forderung der Entente ist, an den Kriegsgegner abtreten. Nein, sie und die Offiziere ziehen lieber den ehrenvollen Todeskampf vor, wenn es sich dabei auch um reinen Selbstmord handeln sollte.
Innerhalb kürzester Zeit steht die Planung, und erste Vorbereitungen laufen an. Die Offiziere, den Atem des Todes im Nacken spürend, feiern ihr Abschiedsfest ausgiebig mit reichlich Alkohol, diesem Tröster und Betäuber. Am 30. Oktober, so besagt es der Plan, soll die Flotte von Wilhelmshaven gegen Engeland in Richtung Themse auslaufen. Doch nach durchzechter Nacht ist der Katzenjammer an diesem Tag recht groß. Die Offiziere können es gar nicht glauben, was sich da abspielt. Jahrein, jahraus haben sie den Mannschaften den Willen zu brechen versucht, haben sie dressiert, mit ihnen Hund und Herr gespielt, bis diese schließlich artig das Stöckchen apportierten. Noch immer glauben sie an die Macht ihres Befehls. Doch nun?! Als an diesem Morgen der Befehl zum Auslaufen erklingt, greift Ratlosigkeit um sich; verstört schauen die Offiziere sich auf ihren Schiffen gegenseitig in die Augen. Keine Reaktion erfolgt. Fest liegen die Schiffe auf der Schillings-Reede vor Wilhelmshaven; die Feuer in den Kesseln, von den Heizern noch in der Nacht gelöscht, treiben keinen Dampf in die Turbinen. Nein, sie, die Mannschaften, wollen sich nicht mit einmalig heroischer Geste opfern lassen, wollen diesen Wahnsinn nicht mitmachen, sie haben die Schnauze vom Krieg gestrichen voll. Nicht länger wollen sie sich von diesen despotischen Vorgesetzten herumschubsen lassen, sie wollen einfach nur nach Hause.
Ein Mal noch versteht es der alte Apparat, sich aufzubäumen und zu zeigen, wo doch die eigentliche Macht angesiedelt ist. Zwar werden mehr als 1000 Marinesoldaten wegen Meuterei gefangen genommen, doch nur mit Mühe gelingt es, etwas Ruhe in die brodelnde Masse hineinzubekommen. Fassungslos und völlig überrascht von der Stimmung – die Kluft zwischen einfachen Soldaten und der Führung kommt jetzt vollends ans Licht – finden die Offiziere keine Erklärung, wie so etwas noch nie Dagewesenes nur geschehen konnte. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren sie auf die Malaise und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Das steht in keinem ihrer militärischen Lehrbücher. Als Ergebnis einer Beratung kommt schließlich heraus, die Verbände seien zu separieren. Nur so würde es gelingen, dass die Matrosen auf den letzten loyalen Schiffen sich nicht mit diesen Ideen infizieren. Vor allem in der langen Abwesenheit vom Heimathafen meint Vizeadmiral Kraft die Ursachen der Meuterei zu erblicken. Mit zusammengebissenen Zähnen, aber gleichwohl erleichtert – müssen sie doch keine eigene Meinung vertreten –, pflichten die hastig zusammengetrommelten Führungsoffiziere ihrem Vizeadmiral bei: Die Jungs müssen einfach mal wieder Landgang erhalten und etwas »Dampf« ablassen. Und so soll es denn geschehen. Das 3. Geschwader mit den Schiffen ›König‹, ›Bayern‹, ›Großer Kurfürst‹, ›Kronprinz‹ sowie ›Markgraf‹ erhält den Befehl, umgehend die Fahrt von Wilhelmshaven nach Kiel aufzunehmen. Das hört sich für die einfachen Matrosen schon etwas besser an. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf.
Donnerstag, 31. Oktober
»Empfindlich kalt, grau bedeckt, dunkel, nur 2°+ kalte Luft. Wind. Der kritische Oktober geht zu Ende. Ein Monat der tiefsten Erniedrigung«*
Während der deutsche Kaiser, sonst keine vorbeiradelnde Gelegenheit zu großen Reden und Gesten auslassend, sich seit längerem ruhig verhält, macht sich in Teilen der Bevölkerung Niedergeschlagenheit und Verbitterung breit. In Österreich gar ist schon die Revolution ausgebrochen. Dagegen herrscht im Deutschen Reich noch Ruhe als oberstes Gebot. Das 3. Geschwader nimmt die Fahrt durch den ›Kaiser-Wilhelm-Kanal‹; 47 der Haupträdelsführer werden auf der ›Markgraf‹ in Arrest genommen.
Freitag, 1. November
»Schönes, recht mildes Wetter. Zwischendurch sonnig. Wind l. 3 S.W. u. morgen nach S.O. Regen mögl. | Noch ist der Schleier nicht gelüftet. Die Volkszeitungen und der Vorwärts fordern offen die Abdankung des Kaisers u. zwar beschleunigt.«*
Die Schiffe fahren langsam durch den Kanal. Flach ziehen sich die Felder beiderseits der Böschung dahin. An der Holtenauer Schleuse werden die vortags Arrestierten vom Schiff gebracht und in das Fort Herwarth im Norden Kiels sowie in das Arrestgebäude an der Feldstraße überführt. In der Nacht, noch früh am Morgen, erreichen schließlich die Schiffe mit mehr als 5000 Mann Besatzung den Kieler Hafen; großzügig gibt sich die Führung in der Erteilung von Urlaub, wenn auch mit ein wenig Unbehagen. Handelt es sich doch weitestgehend um »unsichere Elemente«, die von Bord gelassen werden. Besser man hält auch während der Landgänge ein straff geübtes Auge auf die Jungs; schließlich ist Kiel mit Rüstungsarbeitern und anderen Truppenteilen hoffnungslos überfüllt. Nicht dass sich hier noch andere mit dem unheilvollen Bazillus aus Wilhelmshaven infizieren.
Im Gewerkschaftshaus in der heutigen Legienstraße hatte sich abends eine kleine Versammlung Gewerkschafter zusammengefunden, als überraschend erste Matrosen der ›Bayern‹, ›König‹ und ›Markgraf‹ dazustoßen und bald schon mit 250 Personen den Saal zu sprengen drohen. Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über, und so berichten sie von ihren Taten in Wilhelmshaven, berichten davon, wie ihre Herren Offiziere sich der Völlerei hingäben, während ihnen kaum noch etwas Genießbares zum Essen vorgesetzt werde. Sie beginnen zu diskutieren, wie ein erneutes Auslaufen der Schiffe zu verhindern sei, um schlussendlich die sofortige Freilassung ihrer gefangenen Kollegen zu fordern. Das Ganze scheint den heute nur vereinzelt anwesenden Gewerkschaftsmitgliedern äußerst interessant. Da sollte einmal nachgehakt werden, denken sie sich. Der Beschluss, für den folgenden Tag eine erneute Versammlung abzuhalten, ist flugs gefasst.
Sonnabend, 2. November
»Grau bedeckt, mittel Temp. Wind l. W. Die Position des Kaisers hat sich scheinbar gebessert. Die Arbeiter wollen am Sonntag wegen Marmelade demonstrieren.«*
Während in zahlreichen Zeitungen noch einmal groß für eine neue Kriegsanleihe geworben wird, in einigen dagegen schon die Frage gestellt wird, ob der Krieg verloren sei, zeitigt die Versammlung vom Vortage im Gewerkschaftshaus ihre Wirkung. Zahlreiche Sozialdemokraten und Mannschaften an Land erhalten von Mund zu Mund geraunt noch in den frühen Tagesstunden Kenntnis von der Stimmung unter den Matrosen der Flotte. Noch zahlreicher als Tags zuvor machen sie sich zur angegebenen Stunde auf den Weg zur Versammlung. Auch der Obrigkeit ist derweilen etwas zu Ohren gekommen, das sie zur Tätigkeit anspornte: sie hat die Versammlungsstätte mit Polizei abgeriegelt, um den Zugang zu verwehren, und eine Marineinfanterietruppe zu Patrouillengängen in die Stadt entsandt. Doch der Befehl, die Leute vor der Versammlungsstätte festzunehmen, wird nicht ausgeführt; erstmals solidarisieren sich Kieler Verbände mit den Neuankömmlingen, und so setzt sich der Menschenpulk ungehindert in Bewegung. Einzelne schließen sich an, und als auch ein anderes Lokal ihnen den Zugang verwehrt, wendet sich der mehr und mehr Zulauf findende Menschenpulk in Richtung Exerzierplatz im Viehburger Gehölz.
500 bis 600 Menschen finden sich hier bis 19 Uhr 30 ein, lauschen den Rednern, zu denen nun auch einzelne Arbeiter hinzugestoßen sind. Erstmals tritt der Streikführer der Germaniawerft von 1917 – nach sechsmonatiger Haftverbüßung jetzt in die Friedrichsorter Torpedowerkstatt versetzt – wieder ins Rampenlicht. Dieser Karl Artelt, ein guter Redner, unterstützt die Forderung der Matrosen auf Freilassung der Kameraden, doch geht er den einen wesentlichen Schritt weiter: klipp und klar und ohne Umschweife fordert er die Beseitigung des Militarismus und der herrschenden Klassen, und wenn das nicht auf friedlichem Wege gelänge, nun, dann eben mit Gewalt. Zudem solle man ein erstes Zeichen setzen; was liege da näher, als eine Großdemonstration am nächsten Nachmittag mit anschließendem Umzug. Die Mariner, Soldaten wie Zivilangestellte, sollten sich, so lautet seine Forderung, nur alle schön solidarisch verhalten, und ihre Kameraden zum Teilnehmen animieren. Auch ein Zivilist und Sozialdemokrat tritt ans Rednerpult und damit ins Rampenlicht. Es handelt sich um Lothar Popp, die zweite Person, die zum Geburtshelfer der Revolte werden soll. Er erklärt sich mit Artelts Forderungen solidarisch. Beide Männer haben sich hier auf dem Exerzierplatz gefunden; noch bis spät in den frühen Morgen hocken sie im Parteibüro der Unabhängigen Sozialdemokraten beisammen, und beratschlagen, wie die Veranstaltung auch bei den Arbeitern bekannt zu machen, wie das ganze gewagte Unternehmen zum Erfolg zu führen sei. Schnell wird noch ein Flugblatt entworfen und hektographiert.
Wieder einmal erwies sich eine Entscheidung der Obrigkeit, wie schon das Verbringen der Meuterer nach Kiel und die Erteilung von Landgang, so auch die Schließung des Gewerkschaftshauses, als Fehler. Eine Begrenzung, Separierung und Kontrolle der Matrosen ist nun nicht mehr gegeben. Wenn die schon länger murrenden Arbeiter erst einmal mitbekämen, dass da auf Seiten des Militärs Brüder im Geiste wären, dann wäre der Flächenbrand nicht mehr länger aufzuhalten. Und so geschieht es.
Unterdessen beratschlagen Stadtkommandant Wilhelm Heine und Polizeibeamte in der Wohnung von Konteradmiral Hans Küsel gemeinsam das weitere Vorgehen; Gouverneur Wilhelm Souchon, drei Tage zuvor neu eingesetzt, glänzt durch Abwesenheit, ist erst gar nicht über das drohende Gewölk unterrichtet worden. Noch meint Küsel, in Kiel bestimmen zu können und unterschätzt dabei doch völlig die explosiven Lage. Und da Eigeninitiative der eigenen Personalakte durchaus einmal abträglich sein kann, sind sich die Personen immerhin darin einig, die Gespräche auf den folgenden Tag zu vertagen. Innerlich erleichtert, dass ihnen keine Entscheidung abverlangt wurde, begeben sie sich auf den Heimweg.
Sonntag, 3. November
»Ziemlich schönes, kühles, leicht nebliges Wetter. Wind heftig S.O. Gegen abends heftige Kälte, … In Kiel macht die Marine Demonstration.«*
Weitere 57 Marinesoldaten und Heizer der ›Markgraf‹ werden am Morgen festgenommen und in das Fort Herwarth gebracht. Nur mit viel Zureden gelingt es, 15 Soldaten der Marineinfanterietruppe, die schon gestern die Festnahme ihrer Kameraden vor dem Gewerkschaftshaus verweigerten, für die Überführung zu gewinnen. Mit barschem Befehlston ist hier nichts mehr zu erreichen. Unterdessen tagt seit 9 Uhr 30 erneut die Marineführung unter Konteradmiral Küsel, diesmal in größerem Rahmen und im Beisein von Gouverneur Souchon. Heiß wogt die Diskussion hin und her. Einzelne Offiziere, ohne dass sie dem Gouverneur reinen Wein einschenken und vom Misslingen der angeordneten Festnahme am Vortag und von den Problemen bei der heutigen Überführung berichten, bitten um Richtlinien für die Anwendung von Waffengewalt. Doch durch die bewusst halbherzig zugestandene Information geht die politische Führung davon aus, ja, muss sie einfach davon ausgehen, dass ein Anlass zur ernsten Beunruhigung noch nicht vorliegt. Und so einigen sich alle Parteien schließlich darauf, um 16 Uhr Stadtalarm erklingen zu lassen, um auf diesem Wege die Mannschaften wieder in die Kasernen und auf die Schiffe zu rufen und die geplante Versammlung ins Leere laufen zu lassen. Souchon empfiehlt sich den Herrn Militärs, begibt sich in sein Büro und verfasst ein Eiltelegramm an das Reichsmarineamt in Berlin. Dem ist zwar nicht die drohende Situation direkt zu entnehmen, doch zwischen den Zeilen lässt sich die prekär werdende Lage herauslesen, wenn am Ende um einen »hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten« gebeten wird, der bitte nach Kiel kommen solle, »um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte« zu den Menschen zu sprechen. Flugs laufen in Berlin Beratungen an, an deren Ende sich dann zwei Männer zu dem Kommando bereitfinden: der Sozialdemokrat Gustav Noske und Conrad Haußmann, Mitglied im Kabinet Gustav von Badens. Am folgenden Tag wollen sich beide auf den Weg in den Norden begeben.
Nach einer mittäglichen Versammlung der Mehrheits-Sozialdemokraten im Gewerkschaftshaus greifen die Anwesenden nach den hier deponierten Flugblättern, um sie nach Hause und unters Volk zu bringen: »Kameraden, schießt nicht auf Eure Brüder! Arbeiter, demonstriert in Massen, lasst die Soldaten nicht im Stich!«. Doch eine große Verbreitung der Parolen lässt sich so nicht erreichen. Da ertönt ab 15 Uhr 30 auch schon der Alarm, da versuchen Trommler und Pfeifer die Landgänger zu ihren Einheiten zurückzurufen. Nicht nur dass die bei den Soldaten ungeliebte Melodie gar nicht bis in die Außenbezirke der Stadt dringt, wo zahlreiche Urlauber lustwandelnd den Tag verbringen, andere mögen sich nicht von ihren Familien trennen und ignorieren diese merkwürdigen Musik schlichtweg. Von den Matrosen kehrt schließlich nur rund die Hälfte auf die Schiffe zurück. Dagegen wird durch den Alarm erstmals die Zivilbevölkerung in einem größeren Maße aufmerksam: hier Stadtalarm – und sprach nicht vorhin der Nachbar von einer Demonstration der Mariner? Die Neugier ist geweckt und so begeben sich immer mehr Menschen auf die Straße, Einer folgt dem Anderen; wie magisch angezogen nehmen sie den Weg ins Viehburger Gehölz. Wieder einmal ist eine Maßnahme der Führung fehlgeschlagen; das Heft des Handelns ist ihnen endgültig entglitten.
Zwischen 5000 und 6000 Menschen, darunter über 1000 Zivilisten, finden sich schließlich um 17 Uhr auf dem Exerzierplatz im Viehburger Gehölz ein, lauschen unter Beobachtung der nur halb instruierten Polizei den Reden von Karl Artelt und Lothar Popp und lassen sich von den Forderungen auf Freilassung der inhaftierten Matrosen mitreißen. Die Stimmung kocht; Beschwichtigungsversuche des Kieler Gewerkschaftsführers Gustav Garbe verklingen ungehört. Schon machen sich Einzelne auf den Weg zur Garnison Waldwiese; ein Großteil der Anwesenden schließt sich ihnen daraufhin an. Keine Drohung der dortigen Besatzung kann sie mehr aufhalten, und noch bevor angeforderte Unterstützung eintreffen kann, ist das Gebäude gestürmt, liegt das Mobiliar in Trümmern und sind die Gefangenen befreit. Wie ein anschwellender Sturm strömt die mehr und mehr anwachsende Menschenmenge von sich und ihrem Tun unter Pfeifen und Gejohle mehr und mehr berauscht weiter über Rondeel und Sophienblatt in Richtung Bahnhof; alles was sich ihr in den Weg stellt, wird überrannt. Die auf der Route liegenden Lokale werden flugs nach Offizieren durchkämmt und angehalten, ja doch die Lichter zu löschen. Nichts und niemand kann sich dem Sog des anwachsenden Zuges mehr entziehen, so auch nicht eine Militär-Patrouille, deren führendem Offizier seine Mannen die Gefolgschaft glatt verweigern. Die meisten schließen sich den Demonstranten an. Weiter schreitet der Zug entlang der Holstenstraße über den Markt in die Brunswiker Straße dem nächsten Ziel zu, der Militärstrafanstalt in der Feldstraße. Doch noch einmal versucht die Obrigkeit einzugreifen. Ein letztes Aufbäumen des Machtapparats hatte es immerhin zustandegebracht, eine aus Rekruten gebildete und mit Pistolen bewaffnete Kompanie unter Führung Leutnant Steinh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titelseite
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Vorwort
  4. »Wahr Di, Gaar, de Buer de kummt«: Die Schlacht bei Hemmingstedt, 17. Februar 1500
  5. Alle für Einen, Einer für alle: Aufstand der Leibeigenen, Depenau 1707
  6. Ein Jahrhundertbauwerk: Die Entstehung des Schleswig-Holstein-Kanals, 1777–1784
  7. Weder Sieg noch Niederlage: Das Gefecht bei Bornhöved und seine Folgen, Dezember 1813
  8. Der Kampf um die Tiefsee: Wilhelm Bauer und der Brandtaucher, Kiel 1851
  9. »Trutz Blanke Hans«: Die Ostseesturmflut, 1872
  10. Die Wiedergeburt der niederdeutschen Ballade: Iven Kruse, Kiel 1889
  11. Meuterei, Revolte, Revolution: Der Aufstand der Matrosen, Kiel im November 1918
  12. »Ungemalte Bilder«: Emil Nolde, Seebüll 1941–1945
  13. Regierung ohne Reich: Das Kabinett Dönitz in Flensburg, Mai 1945
  14. Eroberung einer Insel: Die »Befreiung« Helgolands, 20. Dezember 1950
  15. Kein Wintermärchen: Die »Schneekatastrophe« 1978/79
  16. Impressum