1. Kapitel
Ehe und Sex im Absolutismus
Im 17. und 18. Jahrhundert galt im Adel die Monogamie nur für die Ehefrauen und das sicherlich auch nicht konsequent und überall. Ein Adliger aus der Provinz, der im absolutistischen Frankreich eine politische Karriere machen wollte, musste nicht nur an den Hof von Versailles. Um dort etwas ohne gute Beziehungen zu werden – wie der aus altem Landadel stammende Vater des Marquis de Sade – durfte er obendrein gelegentlich durch die Betten diverser Prinzessinnen.
Der Minister als Gatte der Mätresse des Fürsten
Auch im protestantischen Preußen und den Anrainer-Fürstentümern herrschte keinesfalls eine strenge Ehe-Moral. So berichtet Eike Christian Hirsch in seiner Leibniz-Biographie einen Vorfall aus dem Welfenhaus in Hannover, war Leibniz sein Leben lang beim dortigen Herzog beschäftigt, der zum Kurfürsten aufstieg: „Die lebenslustige, bildschöne und überaus kokette Kurprinzessin Sophie Dorothea, die Tochter des Celler Herzogs und Gattin des Kurprinzen Georg Ludwig hatte eine Affäre mit dem aus Schweden stammenden, inzwischen in sächsischen Diensten stehenden General Graf von Königsmarck. Darüber sprach man seit Jahren.“16 Man warnte sie, doch sie benahm sich mit ihrem Geliebten bei öffentlichen Festivitäten durchaus auffällig.
Im Juli 1694 wurde daraufhin ihr Geliebter ermordet, ohne dass die Justiz diesen Mord verfolgt hätte. Und über ihr Schicksal schreibt Hirsch: „Die Kurprinzessin wurde im ländlichen Palais zu Ahlden eingesperrt und durfte ihre Kinder nie mehr sehen. Diese Strafe für eine romantische, ausschweifende Liebe wirkt umso grausamer, als der Kurprinz Georg Ludwig sich ungeniert Mätressen hielt. Den Zeitgenossen erschien die völlige Ungleichbehandlung des einen und des anderen Ehebruchs damals ganz gerechtfertigt.“17
Leibniz war enger persönlicher Berater der Kurfürstenwitwe Sophie in Hannover und ihrer Tochter, der brandenburgischen Kurfürstin Charlotte Sophie, seit 1701 preußische Königin, die er häufig in ihrem Schloss im heutigen Charlottenburg bei Berlin aufsuchte. Von dort berichtet Leibniz an Sophie in Hannover: „‘Da man in Lietzenburg normalerweise erst um ein oder zwei Uhr in der Nacht zu Bett geht, habe ich seit vier oder fünf Tagen nur jeweils vier Stunden geschlafen.‘ Aber die Gelegenheit, die Kurfürstin zu sehen, meinte er, lohne jede Unbequemlichkeit.“18
Die Gatten der beiden Damen kümmerten sich indes wenig um ihre jeweilige Ehefrau. Entweder verfolgten sie politische Interessen oder sexuelle, die man jedenfalls schwerlich mit der Monogamie in Einklang bringen könnte. Oder schlicht, im deutschen Adel spielte die Monogamie keine Rolle. So berichtet Hirsch: „Auf Prunk und Ansehen versessen, strebte der brandenburgische Kurfürst nach der Königswürde, auch um mit August dem Starken gleichzuziehen, der ein Jahr zuvor polnischer König geworden war. Den größten Einfluss auf den Kurfürsten hatte Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg, ein aus dem Bürgertum aufgestiegener Kammerherr von glattem und gewinnendem Wesen. Gehreiratet hatte er – auf Geheiß seines Herrn – des Kurfürsten Mätresse, die Witwe Biedekop geb. Rickers, eine sexuell attraktive, aber ganz schlichte, ja grobe Frau. Ein wildes Ränkespiel am Berliner Hof führte dazu, dass Sophie Charlotte immer mehr an Einfluss verlor.“19
Sie zog sich daraufhin weitgehend nach Lietzenburg zurück und ertrug dasselbe Schicksal, das auch ihrer Mutter passiert war. „Einfluss auf ihn <ihren Mann> hatte schon eher seine Mätresse, die Gattin Wartenbergs, die am Berliner Hofe Regen und Sonnenschein machte. (. . .) Auch die Mutter hatte es ja zu ertragen gehabt, dass der Gemahl eine offizielle Mätresse hatte, und wie jetzt bei der Tochter war die Geliebte ihres Ehemannes ebenfalls die Frau des Premierministers gewesen.“20
Sowenig wie die Monogamie im Adel eine Rolle spielte, sowenig wurde aus Liebe geheiratet, vielmehr aus dynastischen Gründen. Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel lag sehr an einer Verbindung zum russischen Zaren Peter dem Großen. Dazu bediente er sich einer Minderjährigen, die er zwangsverheiratete. „Die Prinzessin Charlotte Christine Sophie war auch erst 13 und sehr protestantisch. Doch gleich nachdem die Kunde vom Siege bei Poltawa <1709> sich verbreitet hatte, war ihr Großvater, Herzog Anton Ulrich, zu der ehrenvollen Verbindung entschlossen, und Leibniz schrieb aus Braunschweig: ‚Die Prinzessin ist so streng ins Gebet genommen worden (. . .), dass sie die Ehe, die ihr bestimmt ist, angenommen hat.“21 Auch der ja mehr berüchtigte als berühmte Marquis des Sade hätte einige Jahrzehnte später gerne seine Freundin geheiratet. Aber sein Vater, ein verarmender provenzalischer Landadliger, zwang den Sohn die Tochter einer Gerichtspräsidentin zu heiraten, also eine Neu-Aristokratin aus dem aufsteigenden Roben Adel, der in der Französischen Revolution die Macht übernehmen wird – man denke nur an Robespierre und Saint-Just, die allerdings die rigide Aufklärungsmoral durchzusetzen versuchen.
Obwohl Leibniz der enge Vertraute zweier Fürstinnen war, die Mutter in Hannover, die Tochter in Charlottenburg, ein Verhältnis hat er mit ihnen wahrscheinlich nicht gehabt, gibt es dazu keine Hinweise. Vielmehr lässt sich vermuten, dass Leibniz, von dem auch ansonsten keine sexuellen Beziehungen zu Frauen bekannt sind, homosexuell war. Er hatte wahrscheinlich ein Verhältnis zu seinem Kammerdiener, der ihm als Sohn seines Schneiders bereits auffiel, als dieser erst 15 Jahre alt war. Leibniz machte ihn nicht nur zu seinem Kammerdiener, sondern förderte auch seine Bildung und verschaffte ihm Aufstiegsmöglichkeiten. Im hohen Alter ist eine andere Beziehung belegt, über die Hirsch schreibt: „In Wien, wo er das Liebespaar Prinz Eugen und Bonneval erlebte, hat er wohl (. . .) eine heftige Sympathie für John Ker of Kersland gefühlt, der vierzig Jahre alt, also 27 Jahre jünger als Leibniz war. Als beide Männer voneinander Abschied nahmen, so formulierte es der schottische Edelmann später diskret in seinen Memoiren, habe er bei Leibniz deutliche Zeichen der Zuneigung und der Wertschätzung gespürt und später habe er festgestellt, dass Leibniz heimlich seine Wiener Schulden beglichen hatte.“22 Dabei handelte es sich um eine Summe, die heute etwa 50.000 Euro entsprechen könnte.
Man muss also gar nicht wie Michel Foucault bis in die Antike zurückgehen, um auf sexuell freizügigere Verhältnisse zu stoßen als im 19. Jahrhundert. Der Adel in Europa folgte in den zwei Jahrhunderten davor keineswegs einer vergleichbaren Sexual- und Familienmoral, höchstens und das auch nur partiell eben für adlige Ehefrauen.
De Sades freizügige Utopie
Diese Entwicklung spiegelt sich im Leben wie im Werk von Marquis de Sade, bei dem sich zugleich das Ende der Libertinage und die Heraufkunft einer rigiden Familienmoral ankündigt – von Sexualmoral sollte man eigentlich gar nicht reden –, wie sie die Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert propagierte, die sich flächendeckend im 19. durchsetzen sollte.
De Sade schreibt 1795 in seinem philosophischen Roman Aline et Valcour eine positive politische Utopie, die sich in gewissem Maße bis heute sogar realisiert. In dieser Utopie geht es nämlich um Toleranz, um ein einfaches ökologisches Leben und um den Frieden. Wie die klassischen Utopien von Morus und Campanella verlegt de Sade seine Utopie auf eine Insel in der Südsee namens Tamoé. Dort herrscht eine aufgeklärte Diktatur, die durchaus den Staatsformen ähnelt, die sich zu seiner Zeit entwickelten – man denke an den aufgeklärten Absolutismus.
Die Gesetze sollen weniger dafür sorgen, dass Verbrechen gerecht bestraft werden, als dass sie verhindert werden. Ein simples Prinzip dazu ist schlicht, die Zahl der Verbrechen zu reduzieren, womit de Sade natürlich auf Reglementierungen des Verhaltens aller Art abzielt. Wer gegen die Ordnung verstößt, wenn er jemand ermordet, wird nicht zum Tode verurteilt, sondern muss die Insel verlassen. Simone De Beauvoir bemerkt in ihrem Essay Soll man de Sade verbrennen? „Zweifellos rechnete er auch damit, dass eine Gesellschaft, die die Eigenheit eines jeden Menschen gelten ließe, ihn als Ausnahme anerkennen und damit auch ausnahmsweise seine Laster akzeptieren würde.“23
So erscheinen de Sade die Gesetze widernatürlich, da sie der Vielfalt der Menschen nicht entsprechen. Jede Konvention oder Sitte ist nicht mehr als ein Betrug an den davon Betroffenen. Dem stellt de Sade eine Natur entgegen, die Notwendigkeit und Wahrheit verkörpert. Sie hat etwas Großartiges und Unabänderliches. Die bisherigen Gesetze indes entsprechen solchen Ansprüchen keineswegs. Anstatt dass sie den Menschen ermöglichen, nach ihren Vorstellungen zu leben, schreiben sie ihnen bestimmte Lebensformen vor. Dabei sind die Menschen gerade nicht dieselben, sondern unterscheiden sich voneinander.
Allerdings kennt de Sade durchaus Grenzen, die heute teilweise überraschen. „Der Inzest zerstört die Gleichheit, die ich errichten will, da er zu viele Familien vergrößert und isoliert; und die Homosexualität lässt eine abgesonderte Klasse von Menschen entstehen, die sich selbst genügen und notwendigerweise das Gleichgewicht stören, das ich herstellen möchte, weil ich es für wesentlich halte. Da ich jedoch diese Absonderheiten ausmerzen wollte, hütete ich mich wohl, sie zu bestrafen; (. . .) Ich bediente mich der öffentlichen Meinung, die (. . .) die Königin der Welt ist. Vor dem ersten Laster säte ich Abscheu und das zweite Laster machte ich lächerlich: Zwanzig Jahre haben genügt, sie auszurotten.“24 Kinder werden vom Staat erzogen, nicht weil dieser sie indoktrinieren möchte, sondern um den Eltern die Last abzunehmen. Zweimal darf man sich scheiden lassen, dann nicht mehr. Aber alle sind frei, sich ihre Partner selber zu suchen bzw. Anträge zu akzeptieren, wurde de Sade selbst schließlich zwangsverheiratet. Allein schon ohne die im Adel üblichen Zwangsehen würden die Scheidungen weniger werden. Jedenfalls insistiert er auf dem Prinzip: „Niemand hat das Recht, die Handlungsweise der anderen bestimmen zu wollen.“25 Sittlichkeitsverbrecher – dazu gehört die ‚Ehebrecherin‘ – werden stigmatisiert. In der Hauptstadt dürfen sie den Herrscher, nicht mehr besuchen. In anderen Städten der Insel müssen sie ein Zeichen tragen. Das mag heute rigide klingen, stellte aber für das 18. Jahrhundert eine freizügigere Lebensführung in Aussicht, ist also als Kritik an der öffentlichen Moral zu verstehen.
De Sades Kritik an einer grausamen sexuellen Praxis
Doch de Sades Ruhm gründet weniger auf seinen politisch philosophischen Entwürfen als darauf, sexuell motivierte grausame Handlungen begangen zu haben und diese extensiv literarisch zu beschreiben. In seinem, in dieser Hinsicht berüchtigtsten Werk Die 120 Tage von Sodom erklärt einer der vier adligen Lustmörder seinen Opfern: „Es wird fraglos wenige Exzesse geben, zu denen wir uns nicht hinreißen lassen werden. Keine von euch möge daher widerstreben, gebt euch hin, ohne mit der Wimper zu zucken, und lasst alles mit Geduld, Unterwürfigkeit und Mut über euch ergehen. Wenn unglücklicherweise eine von euch an der Heftigkeit unserer Leidenschaften zugrunde geht, so trage sie ihren Tod mit Fassung. Wir sind nicht in dieser Welt, um immer zu existieren – und was kann einer Frau Glücklicheres passieren, als jung zu sterben.“26
De Sade schreibt den unvollendeten Text während seiner 11 Jahre währenden Haft in den Kerkern des Absolutismus unter Ludwig XVI. Doch so einfach lassen sich die gesc...