„Kunst, obgleich vom Menschen gemacht,
ist durch Natur vermittelt“1
1. Einleitung
Dieses Buch hat den Untertitel: Eine naturwissenschaftliche Annäherung an die Kunst. Zunächst müssen wir uns die Frage stellen: Ist das überhaupt ein gangbarer Weg? Können Naturwissenschaften etwas Relevantes zur Kunst beitragen? Naturwissenschaften beschäftigen sich mit der unbelebten und belebten Natur. Kunst ist aber Teil der Kultur und nicht der Natur. Muss man nicht die Kunstgeschichte oder die philosophische Ästhetik befragen, wenn man etwas über Kunst erfahren möchte? Warum also der Versuch, Kunst aus dem Blickwinkel der Naturwissenschaften zu betrachten?
Bevor wir dieses Vorhaben vorschnell ablehnen, sollten wir bedenken, dass wir Lebewesen sind, d.h. einen Körper haben, der aus organischer Materie besteht und in dem biologische, chemische und physikalische Prozesse ablaufen, die naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegen. Wir sollten weiterhin berücksichtigen, dass der Mensch sich evolutionär aus dem Tierreich heraus entwickelt hat und dass wir auch heute noch viele Ähnlichkeiten mit Tieren und ihren Organen haben, ganz besonders mit unseren nächsten Verwandten, den nichtmenschlichen Primaten. Und wir sollten darüber hinaus in unsere Überlegungen miteinbeziehen, dass wir mit Sinnesorganen und einem Gehirn ausgestattet sind, die sich in Jahrmillionen langer Auseinandersetzung mit der natürlichen Umgebung entwickelt haben. Mit solchen Sinnesorganen und solchen Gehirnen schaffen Künstler ihre Werke und werden Kunstwerke betrachtet. Wenn wir uns das alles klarmachen, dann ist die Annäherung an die Kunst mit naturwissenschaftlichen Überlegungen nicht mehr ganz so abwegig.
Vielleicht kommen die Bedenken gegen die Verbindung von Naturwissenschaften und Kunst auch daher, dass die klassischen naturwissenschaftlichen Fächer Physik, Chemie und Biologie tatsächlich nichts zur Kunst beitragen können. Aber zu den Naturwissenschaften gehören auch die Evolutionstheorie, die Hirnforschung, die Synergetik und die naturwissenschaftliche Anthropologie. Diese Disziplinen haben sehr wohl etwas zur Kunst zu sagen. Darwin selbst hat eine eigene Ästhetik geschrieben2 in der er erklären konnte, wie und warum unser Sinn für Schönheit entstanden ist (siehe Kap. 2.1). Der Direktor des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt, Winfried Menninghaus, hat seine Untersuchungen zur Ästhetik auf Darwin aufgebaut.3 Ebenso der Evolutionsbiologe Thomas Junker und der Philosoph Wolfgang Welsch.4 Die Hirnforschung hat eine eigene Teildisziplin, die Neuroästhetik5, hervorgebracht, die sich mit Kunst aus neurobiologischer Perspektive beschäftigt. Der Hirnforscher Eric Kandel, Nobelpreisträger des Jahres 2000, hat sich ebenfalls mit der bildenden Kunst aus dem Blickwinkel seines Fachs auseinandergesetzt.6
Wenn wir etwas über die Naturwissenschaften hinausgehen und auch Psychologie und Soziologie miteinbeziehen, finden wir auch dort Beiträge zur Kunst.7 Unter den soziologischen Kunsttheorien möchte ich vor allem die Systemtheorie von Niklas Luhmann erwähnen, auf die ich in diesem Buch mehrfach zurückgreife.8 Wenn wir das alles mit in unsere Überlegungen einbeziehen, ist die Annäherung an die Kunst aus naturwissenschaftlicher oder allgemeiner aus wissenschaftlicher Perspektive nicht nur ein gangbarer, sondern ein interessanter und erfolgversprechender Weg.
Kunst wird wahrgenommen. Wir sehen Bilder und Skulpturen, wir hören Musik. Deshalb werden wir mit Hilfe der Sinnesphysiologie – auch einer naturwissenschaftliche Disziplin – die charakteristischen Merkmale der visuellen Wahrnehmung studieren und dabei feststellen, dass wir diese Merkmale allesamt in der bildenden Kunst wiederfinden. Das führt uns zu der etwas provozierenden These, dass ein Künstler nicht nur das malt, was sein Bild darstellt, sondern auch, und vielleicht sogar hauptsächlich, die Art und Weise wie wir wahrnehmen. Wir werden diese These in Kap. 3 mit mehreren Beispielen stützen.
Die Natur war in ihrer evolutionären Geschichte sehr kreativ. Sie brachte eine ungeheuer große Zahl an Tier- und Pflanzenarten hervor und einen enormen Reichtum an Formen und Strukturen. Die Formenbildungen in der belebten und unbelebten Natur wurden von der Synergetik, der Lehre von Zusammenwirken, erforscht. Der Begründer dieser naturwissenschaftlichen Disziplin ist der Stuttgarter Physiker Prof. Dr. Hermann Haken, mein Doktorvater.9 Auch der Mensch ist kreativ. In allen Kulturen zu allen Zeiten überall auf der Welt finden sich Bilder, Skulpturen, Musik, Erzählungen, Tanz usw. Der Wunsch zu gestalten ist offenbar tief im Menschen angelegt. Kreativität liegt in der Natur des Menschen. Wir finden also Kreativität in der Natur und Kreativität beim Menschen. Wir wagen deshalb die These, dass die Prinzipien, mit denen die Natur Strukturen hervorbringt, auch Gestaltungsprinzipien der Kunst sind. D.h. die Kreativität der Natur und die Kreativität des Menschen sind beides Produkte der Natur (siehe Kap. 3.13-3.20).
Wir sind davon überzeugt, dass die künstlerische Kreativität etwas ist, das zum Wesen des Menschen gehört. Deshalb fragen wir: Welche Fähigkeiten und Eigenschaften charakterisieren uns als Menschen und unterscheiden uns von den anderen Tieren? Hier orientieren wir uns an der naturwissenschaftlichen Anthropologie.10 Neben den bekannten Unterscheidungsmerkmalen wie aufrechter Gang, Nutzung des Feuers, Tragen von Kleidung usw. stellen wir die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel in den Mittelpunkt, die Fähigkeit, die Position eines Anderen in Gedanken einnehmen zu können, mit ihm mitzufühlen (Empathie) und mit ihm zu kooperieren. Das hat enorme Auswirkungen. Z.B. ist die Sprache, die ein wesentliches Merkmal des Menschen ist, nicht ohne die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel denkbar (siehe Kap. 4.1). Das schafft eine Verbindung zur Kunst (siehe Kap. 4.2). Denn Kunst ist – Niklas Luhmann zufolge – eine Form der Kommunikation. Kunst kann kommunizieren, was mit der Sprache nicht kommuniziert werden kann (siehe Kap. 4.3).
Die Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel und zur geteilten Aufmerksamkeit machen Kunst erst möglich und spielen in der menschlichen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Kunst unterstützt das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Menschen und ist ein spielerisches Training mentaler Funktionen (siehe Kap 4.2).
Kunst wird emotional und rational wahrgenommen, wobei wir davon überzeugt sind, dass diese beiden mentalen Fähigkeiten nur aus begrifflichen Gründen getrennt werden müssen, in Wirklichkeit aber untrennbar zusammengehören. Welche Rolle spielen Gefühle in der bildenden Kunst (siehe 3.20)? Wir konzentrieren uns bei dieser Frage auf die Farben (siehe 3.21) und auf die Erfahrung des Erhabenen, das bei Kant eine große Rolle spielt (siehe Kap. 3.22).
Ähnlich wie die Sprache ist auch die Kunst ein soziales Phänomen. Wir befragen drei große Sozialphilosophen danach, wie soziale Strukturen entstehen (siehe Kap. 5.1). Talcott Parsons ist davon überzeugt, dass gemeinsam geteilte Werte (a shared symbolic system) soziale Gemeinschaften erzeugen. Das hilft uns zu verstehen wie Kunstwerke einen Wert bekommen und Wertschätzung in einer Gemeinschaft von Kunstinteressierten genießen. Sie sind Produkte, die in den Adelsstand Kunstwerk erhoben werden11. Für Jürgen Habermas ist die gesellschaftliche Integration das Ergebnis von Verständigungsprozessen. Auch dieser Gedanke hat Parallelen in der Kunst, denn Kunst ist eine Form der Kommunikation, wie wir schon zuvor festgestellt haben (siehe Kap. 4.3). Für Niklas Luhmann bilden sich aus gesellschaftlichen Prozessen neue, emergente Ordnungen mit eigener Komplexität. Dieses Entstehen sozialer Ordnungen hat große Ähnlichkeit mit Strukturbildungen in der belebten und unbelebten Natur. Wir finden deshalb mehrere Parallelen zwischen dem Kunstsystem in einer Gesellschaft und Strukturen in der Natur (siehe Kap 5.2). Auch die Entwicklung des Kunstsystems in der Gesellschaft ähnelt der biologischen Evolution (siehe Kap. 5.3).
Die Kunst schafft sich ihre eigene Welt. Von dieser Position aus kann die Kunst eigene Beobachtungen anstellen. Sie kann z.B. die nichtkünstlerische Realität beobachten (siehe Kap. 5.4) und sich von ihr unterscheiden. Wir benennen deshalb die Unterschiede zwischen einem Kunstwerk und einem Gebrauchsgegenstand (siehe Kap. 5.4). Kunstwerke bestehen, wie Gebrauchsgegenstände, aus Materie, sie verwenden das Material aber in anderer Weise. Das schauen wir uns in Kap. 5.5 genauer an. Und wir werden uns Kunstwerke ansehen, die genau auf der Schnittstelle zu anderen Systemen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Religion arbeiten (siehe Kap. 5.6). Insbesondere betrachten wir das Verhältnis der Kunst zur Natur (siehe 5.7) und kommen damit zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung, dem Verhältnis von Kunst zur Natur zurück.
Wir beschließen dieses Buch mit den Beiträgen von Kant, Hegel und Adorno zur philosophischen Ästhetik unter dem Titel: Das Geistige in der Kunst.
In das Buch eingefügt sind Fotos von Reliefs, die ich in Kursen der Bildhauerin Birgit Feil im Atelier- und Galerienhaus „Kultur Am Kelterberg Vaihingen e.V.“ in Stuttgart-Vaihingen gemacht habe. Seit 2011 besuche ich die offene Werkstatt von Birgit Feil. Ich habe in ihren Kursen viel gelernt, sowohl handwerklich, als auch künstlerisch. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken.