Raabe und heute
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Raabe und heute

Wie Literatur und Wissenschaft Wilhelm Raabe neu entdecken

  1. 378 Seiten
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Raabe und heute

Wie Literatur und Wissenschaft Wilhelm Raabe neu entdecken

Über dieses Buch

Wie aktuell ist Wilhelm Raabe heute? Die Beiträge dieses Bandes beantworten diese Frage aus literarischer und literaturwissenschaftlicher Sicht.Kolonialismus, Umweltzerstörung, Umgang mit dem Fremden - erstaunlich viele der Themen, die uns derzeit umtreiben, finden sich bereits bei Wilhelm Raabe (1831-1910). Der Band versammelt Beiträge bedeutender Autorinnen und Autoren aus Gegenwartsliteratur und aktueller Literaturwissenschaft, die das Werk des großen realistischen Erzählers neu erkunden und in seiner Aktualität zugänglich machen. Sie zeigen, wie anregend und bereichernd es sein kann, sich auf die Eigentümlichkeiten und Komplexitäten von Texten wie »Abu Telfan«, »Pfisters Mühle«, »Die Akten des Vogelsangs« oder das unvollendete »Altershausen« einzulassen.

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Kapitalismus / Kolonialismus

Christoph Zeller

Raabe als Kapitalismuskritiker

Fast hätte man Raabe für einen jener Träumer oder Taugenichtse halten können, wie sie die Literatur seit Ende des 18. Jahrhunderts bevölkerten. Das Gymnasium in Wolfenbüttel musste Raabe frühzeitig verlassen und begann widerwillig eine Buchhändlerlehre in Magdeburg. Statt sich in Geschäftsbücher zu vertiefen, fand der musisch begabte und umfassend belesene Lehrling sein Heil in der Weltliteratur, die ihm hier uneingeschränkt zur Verfügung stand. Schon früh lernte Raabe die Schattenseiten des Lebens kennen – im Alter von dreizehn Jahren sah er den Vater auf dem Totenbett – und wusste, dass sich Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft an Tüchtigkeit, Effizienz und Einkommen bemaß, den ausschlaggebenden Kriterien des Liberalismus. Als Schriftsteller und Leidtragender verfolgte Raabe später die sozialen Auswirkungen durch das vom Liberalismus beförderte kapitalistische Denken mit großer Aufmerksamkeit.
Es ist kein Zufall, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Figur des Taugenichts wieder an Bedeutung gewann.[1] In ihr wird die Verschränkung von Kultur und Kapital ebenso deutlich, wie der Widerstand gegen eine ausschließlich von ökonomischen Prinzipien geleitete Vernunft. Der Wertbegriff des Taugenichts orientiert sich stattdessen an den Idealen des einfachen Lebens und des Schönen. Die harte Realität des Alltags ist ihm fremd.[2] In seiner Opposition zu den Gesetzen des Marktes, bleibt indes gerade die Literatur an die Bedingungen liberaler Prinzipien gebunden, denen sie sich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sieht. Denn wer den Beruf des Schriftstellers wählt – des Träumers und Taugenichts also –, wird sich eingestehen müssen, Teil jenes ökonomischen Systems zu sein, gegen das sich die Literatur häufig wendet. Bücher, wissen diejenigen am ehesten, die sie hervorbringen, sind letztlich Handelswaren auf einem Markt konkurrierender Individuen.
Von den Bedingungen des Kapitalismus getrieben, sah sich Raabe dem Zwang zur permanenten Produktion ausgesetzt. Die Wünsche von Verlagen und Publikum unterlief er durch ein komplexes System von Anspielungen und Zitaten, das die Reichhaltigkeit ästhetischer Darstellungen meist hinter einer simplen Story verbarg, ohne aber das Misstrauen seiner Leserinnen und Leser vollends zerstreuen zu können. Neidisch blickte er auf die Verkaufszahlen des ungeliebten Theodor Storm und dessen Schützling Wilhelm Jensen, mit dem ihn, wohl eher wegen seiner heimlichen Neigung zu dessen Frau, eine lebenslange, jedoch zweifelhafte Freundschaft verband. Seinen Bekannten Paul Heyse und Größen wie Gustav Freytag sah er in Sphären, an die er nicht annähernd heranreichte. Auf Anfrage Siegmund Schotts, der ihn um biografische Notizen gebeten hatte, antwortete Raabe am 18. Juli 1891 lakonisch, dass er »nicht das geringste Merkwürdige und Schriftwerthe« zu berichten habe; seit dem Erscheinen seines ersten Romans Die Chronik der Sperlingsgasse 1856 lebe er »von der Hand in den Mund«.[3]
Das zu Raabes Zeit rasant wachsende Zeitschriftenwesen diktierte die Form, Produktionsweise und oft auch die Inhalte der Romane. Denn bevor Bücher überhaupt in den Druck gehen konnten, bestanden Verleger auf den abschnittsweisen Abdruck in einer der vielen Romanzeitschriften, von denen das »Illustrierte Familienblatt« Die Gartenlaube zu den bekanntesten, die für Raabe infrage kommenden Westermanns Monatshefte und Über Land und Meer zu den spezialisierten Publikationsorganen zählten. Durch den Verkauf von Zeitschriften deckten Verleger nicht nur einen großen Teil des Honorars, das als Vorschuss an Autoren ausgezahlt wurde, sondern konnten auch den Buchdruck finanzieren. Vergeblich versuchte Raabe zeitlebens, seine Romane unmittelbar im Buchformat erscheinen zu lassen, und beklagte sich über die Zerstückelung seiner Geschichten, die dem Lesefluss und dem Verständnis zuwiderliefen. In seinem Roman Der Lar (1889), der schon im Motto auf den beschränkten Erwartungshorizont des Publikums ironisch anspielt (»O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!«, BA 17, 222), beschreibt Raabe die Rahmenbedingungen der Kulturindustrie im 19. Jahrhundert. Der vormals bettelarme Künstler Bogislas Blech, der schließlich als Leichenfotograf ein gutes Auskommen findet, rät seinem erfolglosen Freund, dem Schriftsteller Paul Warnefried Kohl, seinen Idealen abzuschwören und sich dem Sensationsjournalismus zuzuwenden. »Unterm Strich« (BA 17, 283) – und zwar der Geschäftsbilanz des Verlagsbuchhalters ebenso wie dem vom Rest der Nachrichten abgetrennten Unterhaltungsteil in Tageszeitungen und Zeitschriften – veröffentlicht Kohl bald Mord- und Skandalgeschichten.[4] Schon am 10. Oktober 1863 hatte sich in einem Brief an seinen Verleger Adolf Glaser nicht ohne ein Maß an Selbstverachtung entladen, was erst ein gutes Vierteljahrhundert später in Der Lar in eine Satire auf die Marktgesetze mündete: »Ich darf mir mit Genugthuung sagen, daß mein Streben immer ernster, und daß mir alles literarische Fabrikwesen immer verhaßter wird. Für die Kritik, wie sie sich jetzt manifestirt, bin ich todt und freue mich darüber« (BAE 2, 102). Im gehobenen Alter hatte sich dann das Gespenst des sozialen Abstiegs durch permanente Verhaltensmuster so sehr eingeprägt, dass selbst das durch Neuauflagen und eine Pension der Deutschen Schillerstiftung sowie das Erbe seiner Frau zusammengetragene jährliche Einkommen Raabe nicht von der Überzeugung abbringen konnte, auf der Verliererseite seines Berufsstandes zu stehen.
Seiner Verbitterung über die Abhängigkeit vom Markt hat Raabe gegen Ende seiner Karriere als von Enttäuschungen geprägtes Liebesverhältnis dargestellt – eine zutiefst berührende Allegorie des eng miteinander verwobenen Gegensatzes von Geld und Geist. In Die Akten des Vogelsangs (1896) rahmt der philiströse und im bürgerlichen Leben erfolgreiche Erzähler Karl Krumhardt die Geschichte seines Jugendfreundes Velten Andres, dem in Philosophie und Literatur, Kunst und Geschichte bewanderten »Studiosus der Weltweisheit« (BA 19, 392), und seiner lebenslangen Bindung an die auf materiellen Reichtum ausgehende, jung verwitwete Helene Mungo, geborene Trotzendorff. Während es den Taugenichts Velten Andres in die Abenteuerwelt der Bücher zog, fand die nun »hundertfache Millionärin« (BA 19, 226) Helene Trotzendorff in Amerika ihr Glück, dem Hochofen und Experimentierfeld des Kapitalismus. Krumhardt wird erst am Ende der Erzählung erfahren, dass die unglücklich Liebenden über die Jahre eine leidenschaftliche Affäre hatten. Anders als Trotzendorff befreit sich Andres indes vom Ballast seines elterlichen Erbes: »Ich wünsche nüchtern zu sterben, oder […] vollkommen ernüchtert. So eigentumslos als möglich« (BA 19, 351). Seine »Heimstätte« sei gänzlich zur »Stätte der Vernichtung« (BA 19, 371) geworden, meint Krumhardt, als Andres darangeht, seinen gesamten Hausrat zu verfeuern. Dem »Autodafé« (BA 19, 371) seines nun so fremden Freundes, sieht der Erzähler erschüttert zu. Nirgends sonst wird der Zusammenhang von bürgerlicher Identität und Besitz so deutlich, erscheint der dialektische Bezug von Dingen und Worten auf derart abgründige Weise wie in Die Akten des Vogelsangs. Verarmt und allein mit Wissen ausgestattet, endet Andres’ Leben in einer Berliner Dachstube, wo als ›Erbe‹ lediglich der Anfangsvers aus Goethes dritter Ode an Behrisch zurückbleibt – ein Produkt des Geistes: »Sei gefühllos! / Ein leichtbewegtes Herz / Ist ein elend Gut / Auf der wankenden Erde« (BA 19, 398).
Bei der Kritik an prekären Arbeitsverhältnissen und der Dominanz von Marktinteressen beließ es Raabe keineswegs. In seine Schriften ging das Wissen um ökonomische Theorien ein, die sich in tagespolitischen Ereignissen spiegelten.[5] Seit sich das Bürgertum im 18. Jahrhundert den Bereich der Wirtschaft als Souveränitätsmonopol von der herrschenden Aristokratie erstritten und die ersten Theorien des Liberalismus entwickelt hatte,[6] galt der deregulierte Markt seinen Verfechtern als Heilsweg zum Wohlstand für alle. Egoismus, vertrat der Moralphilosoph Adam Smith in seiner Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776), diene letztlich der Gemeinschaft – ein bis heute gängiges Erklärungsmuster für moralisches Handeln, wonach ökonomischer Rationalismus ethische Imperative ersetzt. Mit Smith wird die Geschäftsidee zur Offenbarung, Gewinne im Diesseits zur irdischen Beglaubigung des Paradieses, das unergründliche Wirken einer höheren Macht zur invisible hand unsichtbarer Marktgesetze.
Vor allem die Romantiker nahmen Wirtschaftstheorien nicht nur aus Widerspruchsgeist ernst. So lehnte zwar etwa der Schriftsteller, Publizist und Ökonom Adam Müller in seinen Vorlesungen über die Elemente der Staatskunst (1809) den auf Eigennutz gründenden Fortschrittsoptimismus von Smith ab, betonte aber – auch unter dem Eindruck der französischen Besatzung – die Bedeutung der Gemeinschaft für den Einzelnen. Raabe dürfte gefallen haben, dass Müller zu den ökonomischen Produktivkräften neben Land, Arbeit und »physischem Kapital« auch das »geistige Kapital« rechnete, zu dem er glaubte, nicht unbeträchtlich beizusteuern. Der von Müller mitgeprägte Begriff der Nationalökonomie lieferte durch das 19. Jahrhundert hindurch jene wirtschaftswissenschaftlichen Modelle, die durch Regulierungen den entfesselten Manchester-Liberalismus im Gefolge von Smith zu zügeln suchten. Den bekanntesten Vertreter eines kapitalistischen, jedoch durch strenge Regeln gebändigten Marktes, konnte Raabe in seinem Zeitgenossen Gustav Schmoller erkennen, dem Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik (1872). Dieser galt als Verfechter einer ausgewogenen und auf Gerechtigkeit basierenden Politik, die Ökonomie aus der Geschichte und dem sozialen Umfeld ableitete. Schmoller sah sich den Anfeindungen Carl Mengers ausgesetzt, dessen seit den 1870er entstandene Österreichische Schule der Nationalökonomie den Wertbegriff aus individuellen Vorlieben ableitete und die Dynamik von Wirtschaftsabläufen dem Geist des Unternehmers zuordnete. Anhänger jener auf Theorie und Empirie setzenden Schule waren etwa Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, die in den USA großes Gehör fanden, während mit Walter Eucken und Franz Böhm auf der deutschen Seite ein eigenes Modell neoliberalen Denkens Auftrieb erhielt, das im 20. Jahrhundert zur Entfaltung kam. Obwohl das Spektrum weit reicht, geht es im Neoliberalismus im Grunde um die Deregulierung und Freisetzung von Marktmechanismen, um Effizienzsteigerung, Profitabilität und unternehmerische Innovation.
Als eifriger Zeitungsleser verstand Raabe, dass sich der gemäßigte und auf Ausgleich bedachte Schmoller zwischen den Fronten eines erbitterten Glaubenskampfes befand, der sich später in Ideologien verfestigen sollte. Die Jünger des Liberalismus im Gefolge von Smith sahen sich einer Vielzahl an sozialistischen, anarchistischen oder kommunistischen Utopien und Theorien gegenüber, zu deren bekannteren diejenigen Henri de Saint-Simons, Pierre-Joseph Proudhons sowie Friedrich Engels und Karl Marx’ zählten. Aus Briefen geht hervor, dass Raabe bereits 1860 in Johann Bürger einen »Weggefährte[n] von Marx und Engels« hatte kennenlernen können,[7] und als Mitglied des gemäßigten Deutschen Nationalvereins hatte er, wie sein Tagebuch festhält, nicht nur Otto Lüning gehört, einen »Sozialist[en] der radikalen Observanz«,[8] sondern teilte mit prominenten Mitgliedern wie den Politikern und Sozialreformern Franz Duncker und Hermann Schultze-Delitzsch die Ansicht, die unteren Klassen müssten über Bildung und Hebung der Löhne unterstützt werden, um Klassenunterschiede zu vermindern.[9]
In diesem Zusammenhang ist die Erzählung Horacker zu sehen, die 1875 entstand, im Jahr der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) durch Ferdinand Lassalle auf der einen und Karl Liebknecht sowie August Bebel auf der anderen Seite. Teils Dorfidylle, teils Kriminalgeschichte, handelt es sich in Wahrheit um einen Kommentar zur sozialen Frage. Im Mittelpunkt steht der titelgebende Held, der als Räuber und Mörder diffamierte Cord Horacker. Schon in der Jugend hatte der Halbwaise mit seiner Mutter gegen »Hunger, Frost und Krankheit« (BA 12, 346) kämpfen müssen. Aus einer Besserungsanstalt entflohen und in den umliegenden Wäldern versteckt, besteht sein Verbrechen darin, sich in der Not widerrechtlich etwas zu essen besorgt zu haben. Horacker ist als Allegorie auf die »ungebildete Arbeiterklasse« zu verstehen, »die im deutschen Kaiserreich und besonders in Raabes Braunschweiger Umgebung zunehmend Aufmerksamkeit absorbierte«.[10] In der Verelendung des Proletariats waren nicht weniger die Probleme der Landarbeiter wiederzuerkennen, die in gleichem Maße mit Unterernährung, niedrigen Löhnen und geringer Aussicht auf Linderung zu kämpfen hatten. Die Handlung verlegte Raabe ins Jahr 1867, den Beginn eines Wirtschaftsbooms, der sich durch die Reparationszahlungen nach dem Sieg gegen Frankreich 1871 beschleunigt hatte, ehe er 1873 im Gründerkrach, dem ersten großen Crash der modernen Börsengeschichte, jäh endete und eine bis in die 1890er Jahre reichende Phase der wirtschaftlichen Depression einleitete.[11] Umso schärfer musste die Kritik Raabes an den sozialen Missständen ausfallen. Wenig hatte sich die Politik seit der Reichsgründung den Belangen der unteren Klassen angenommen. Die Verbannten und Benachteiligten, Ausgestoßenen und Glücklosen, an den Erwartungen bürgerlicher Lebensauffassungen Gescheiterten, Uninteressierten oder ihnen Abgeneigten bilden daher in fast allen Romanen Raabes ein Gegengewicht zu den von ökonomischem Erfolg korrumpierten und von bürgerlichen Normvorstellungen geleiteten Individuen, wie sie der wirtschaftliche Wandel hervorbrachte. Von der verwaisten Elise Franz – die erste von vielen Waisen oder Halbwaisen in Raabes Werk – und dem exilierten Schriftsteller Heinrich Wimmer in Die Chronik der Sperlingsgasse über den nach Afrika gelangten Leonhard Hagebucher in Abu Telfan oder die Rückkehr vom Mondgebirge (1867), die im Armenhaus untergekommene und später zum Pfand von Geschäftsinteressen eingesetzte Antonie in Der Schüdderump (1869 /70), den von der Gemeinschaft verstoßenen Wilderer und ehemaligen Zuchthäusler Volkmar Fuchs in Unruhige Gäste (1886), die frühere Schauspielerin und jetzige Eisenwaren- und Trödelhändlerin Wendeline Cruse in Im Alten Eisen (1887) bis zum Bürgerschreck Heinrich Schaumann, genannt »Stopfkuchen«, im gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1890 reicht die Liste jener Verfemten, die sich am Rande des gesellschaftlichen Spektrums wiederfinden.
Gründerboom und Gründerkrach spielten auch in anderen Romanen eine bedeutende Rolle. Schon in Meister Autor (1873) wird der beschleunigte Modernisierungsschub jener Jahre beschrieben. Den zu raschem Wohlstand gel...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Hubert Winkels: Vorwort
  5. Moritz Baßler: Einleitung. Wilhelm Raabes bürgerliche Radikalität
  6. Vom Anfangen
  7. Beziehungsweisen
  8. Kapitalismus/Kolonialismus
  9. Dickes Erzählen
  10. Buch Höhle Krieg. Zu Das Odfeld
  11. Leere/Labyrinthe
  12. Vom Enden
  13. Die Beiträger
  14. Impressum