Teil 1: Gottes Gnade als Kraftquelle zum Leben
1 Charis – kleines Wort mit großer Bedeutung
1.1 Gnade in heutiger Kultur – Bekannt und fremd zugleich
Gnade ist mit Sicherheit einer der meistverwendeten Begriffe im kirchlichen Kontext. In Gottesdiensten wird für Gottes Gnade wieder und wieder gebetet und gedankt. Nur durch sie können wir vor Gott bestehen und als fehlbare Menschen benötigen wir sie von Tag zu Tag neu.
So wichtig der Gnadenbegriff einerseits sein mag, so verbraucht und abstrakt ist er auf der anderen Seite. Er wird mittlerweile für alles Mögliche verwendet, was seine eigentliche Bedeutung unklar und unscharf macht. Für viele Christen ist Gnade eine fromme Worthülse geworden, die zwar aus dem Gottesdienst wohlbekannt ist und auch in eigenen Gebeten Verwendung findet, allerdings für den Alltag keine sonderliche Bedeutung mehr hat. Mit dazu beitragen mag auch die fehlende gesellschaftliche Relevanz von Gnade, welche kaum noch einen Stellenwert in der gegenwärtigen westlichen Kultur besitzt.
Der Begriff Gnade ist altmodisch geworden und im säkularen Wortschatz immer weniger präsent. Abgesehen von seinem kirchlichen Gebrauch lässt er sich fast nur noch im Rechtswesen wiederfinden oder in veralteten Höflichkeitsfloskeln wie gnädige Frau. Dies hängt sicherlich mit unserer aktuellen Lebenswelt zusammen. Der moderne, unabhängige Mensch möchte nichts geschenkt bekommen oder begnadigt werden. Sein Wunsch ist es vielmehr, das zu erhalten, was ihm rechtmäßig zusteht. Geprägt durch unsere demokratische Grundordnung und politischen Liberalismus sind wir es gewohnt, dass die Summe der Individuen von unten nach oben regiert. Der Gedanke daran, von der Gnade einer Obrigkeit abhängig zu sein, birgt für den emanzipierten Menschen etwas Negatives in sich. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Gnadenbegriff dem heutigen Westeuropäer immer fremder wird.
1.2 Gnade in der griechischen Umwelt zu ntl. Zeit
Der Begriff Gnade (griechisch: charis) wird bei Paulus und den anderen Autoren des Neuen Testaments wie auch im umgebenden griechisch-hellenistischen Kontext unterschiedlich verwendet. Das kurze Wort charis hat also ein relativ weites Bedeutungsspektrum. Betrachten wir zunächst die Bedeutung von Gnade in der heidnischen Umwelt des Neuen Testaments, damit uns die Unterschiede deutlicher werden. Denn wie auch wir den Einflüssen unserer Umgebungskultur unterliegen, wurde auch das Gnadenverständnis der ntl. Autoren (insbes. Pauli) von ihrem Umfeld geprägt.
In der griechischen Umwelt des Neuen Testaments bezeichnete die charis der Götter „ … eine Art Überschuss oder Zugabe.“ Sie wurde frei und unverdient weitergegeben wie ein Geschenk. Etwas, das schon gut war, konnte durch die charis noch verbessert werden. Diese Form der Gnade fand ihren Ausdruck in Anmut, Schönheit und Attraktivität: Die Götter vermochten die irdische Gestalt ansehnlicher wirken zu lassen. Gleichzeitig spielte der inhaltliche Zusammenhang von charis mit dem Begriff chara „Freude“ eine Rolle: Gnade stand demnach vor allem für Dinge, die Freude bereiten. Griechen hielten Schönheit und Anmut für höchstes Glück. Und nichts erfüllt das Herz mehr als etwas Schönes, das man nicht verdient oder erwartet hätte. Diese charis der Götter war allerdings unbeständigen Charakters und schon im Leben zerbrechlich. Sie konnte die Sterblichen nur für einen begrenzten Zeitraum beschenken und schwand mit ihrer Schönheit manchmal noch im Leben, spätestens jedoch mit dem Tod. Die Reaktion der Menschen auf die begehrte göttliche Gnade (charis) wurde ebenso charis genannt. Der Begriff schloss also auch die Antwort ein, die wir in unserer heutigen Sprache mit Dank beschreiben würden. Zusammenfassend lässt sich die Bedeutung von charis im griechischen Kontext des NT im Wesentlichen mit Anmut, Schönheit, Geschenk, Gunst und Dank zugleich umschreiben.
1.3 Gnade in den Evangelien
Wie im Folgenden sichtbar werden wird, umfasst Gnade im Neuen Testament mehr als die oben genannten Bedeutungen. Und auch wenn sie den Begriff nicht selbst geprägt haben, scheinen die Verfasser (insbesondere Paulus selbst) eine regelrechte Neudefinition dieses Begriffes vorgenommen zu haben.
Im Neuen Testament kommt der Begriff Gnade (charis) besonders häufig in den paulinischen Briefen und in Schriften seines Wirkungskreises (Lk, Apg) vor, weniger jedoch in den Evangelien: Jesus selbst spricht vielmehr von der Barmherzigkeit. Die Gnade Gottes wird allerdings durch seine Gleichnisse und Handlungen deutlich sicht- und erfahrbar. Ein bekanntes Beispiel dafür bildet der Bericht über die Ehebrecherin im Johannesevangelium (7,53–8,11):
In diesem Abschnitt wird von einer Frau berichtet, die in flagranti beim Ehebruch ertappt worden ist. Die Schriftgelehrten zerren sie zu Jesus, damit er ein Urteil über sie spricht. Mit dieser Forderung nach seinem Rechtspruch erhoffen sie sich eine ideale Gelegenheit, um einen Anklagepunkt gegen Jesus zu finden, denn schließlich ist er für seinen gnädigen Umgang mit Sündern bekannt. Die Gelehrten sind überzeugt, dass seine Barmherzigkeit ihn dazu verleiten werde, der Torah zu widersprechen: Diese fordere nämlich, dass ein Ehebrecher und eine Ehebrecherin nicht am Leben bleiben sollen (3Mo 20,10). In dieser Szene fehlt allerdings der männliche Protagonist, der ja offensichtlich Teil der ehebrecherischen Handlung gewesen sein muss. Jesus durchschaut ihre Hinterlist jedoch und geht auf ihre einseitige Forderung nicht ein: Weder handelt er wider die Torah, indem er die Frau freispricht, noch fällt er selbst das Urteil über die Ehebrecherin. Stattdessen wählt er einen dritten Weg. Er bewegt die Zuschauer zur Selbstreflexion, indem er ihnen die berühmten Worte entgegnet: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (Joh 8,7) Dadurch werden die Anwesenden mit der Tatsache konfrontiert, dass sie alle selbst schuldig geworden sind und grundsätzlich auch die Stelle der Frau als Angeklagte einnehmen könnten. Mit dieser Erkenntnis verlassen die Umstehenden den Ort des Geschehens. Zuerst gehen die Alten, die vielleicht weiser und einsichtiger sind, danach aber auch alle anderen. Diese Geste ist gleichbedeutend mit einem Schuldeingeständnis. Der Kirchenvater Augustinus hat die Pointe dieser Erzählung treffend zusammengefasst: „Nur zwei blieben zurück, die Erbarmenswerte und die Barmherzigkeit.“ Am Ende verurteilt Jesus die Frau so wenig wie die anderen Schuldigen. Er fordert sie nicht einmal zur Buße auf, was manch einem Glaubenden in der Kirchengeschichte Mühe bereitet haben mag. Sie solle lediglich künftig ein heiliges Leben führen.
In diesem Bericht des Evangelisten Johannes wird Jesu Barmherzigkeit und Gnade offenbar. Dabei steht jedoch nicht nur die Frau im Mittelpunkt seines gütigen Handelns: Jesus bewahrt die Umstehenden vor einer falschen Tat und verurteilt auch sie nicht für ihre Schuld. Er bringt sie dazu, über ihr eigenes Leben und ihre Taten nachzudenken und erweist ihnen damit ebenso seine Gnade.
Was mich an dieser Geschichte besonders beeindruckt, ist die Vorgehensweise Jesu, die ich für vorbildlich und nachahmenswert halte: Anders als die meisten Menschen gebraucht der Sohn Gottes offenbar nicht die Schuld der jeweiligen Personen, um sie gefügig zu machen. Er fällt auch kein voreiliges Urteil. Gerade in diesem Punkt habe ich in der Vergangenheit oft versagt. Wenn die Sachlage meiner Ansicht nach klar war, erlag ich immer wieder der Versuchung, meine Erkenntnis allen Beteiligten vorschnell kundzutun. Jesus, wie er in den Evangelien beschrieben wird, hält stattdessen erst einmal inne und nimmt sich die nötige Zeit, um die Gesamtlage zu betrachten und einzuschätzen. Sein Urteil fällt weder parteiisch noch unparteiisch aus. Er hat alle Beteiligten im Blick. Wir können hier von Jesus lernen. Uns wird es zwar ohnehin nie ganz gelingen, völlig objektiv zu sein, denn eine vollkommene Neutralität lässt sich nicht herstellen. Aber es ist zumindest möglich, dass wir wie Jesus handeln und uns in alle Beteiligten hineinversetzen.
1.4 Gnade bei Paulus
Die Gnade Gottes spielt im Leben wie auch in den Schriften des Apostels Paulus eine sehr bedeutende Rolle. In den Jahren vor seiner Bekehrung glaubt er, sich durch seine Leistung selbst einen Wert geben zu können – eine Denkweise, die uns vielleicht nicht fremd ist. Vormals Saulus von Tarsus genannt, wird er durch seinen Eifer nach Gottes Anerkennung zum Christenverfolger. Er merkt nicht, dass ihn sein Wunsch, sich bei dem Gott Israels auszuzeichnen, zu dessen Feind macht. Als Jesu Stimme ihn beim Namen ruft (Apg 9,4f.), erkennt er, was er getan hat. Doch bleibt die Strafe für sein Handeln aus. Stattdessen wird er zum Apostel berufen, sodass er feststellen muss: „Ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ (1Kor 15,9f.)
Paulus erfährt Gottes Gnade persönlich und intensiv. Durch seinen Werdegang vom gesetztestreuen Juden und gebildeten Schriftgelehrten zum Apostel und bedeutenden Theologen entfaltet sich in ihm ein besonderes Gnadenverständnis.
Die charis, wie sie sich bei Paulus darstellt, bedeutet mehr als nur eine Form der Barmherzigkeit, wie wir im Folgenden noch sehen werden. Paulus ist so ergriffen von Gottes Handeln an ihm und den Menschen, dass er seine eigene Geschichte (Röm 1,5; 1Kor 15,10; Gal 1,15; 1Tim 1,13f.) und sogar die gesamte Bestimmung der Menschheit unter dem Begriff der Gnade ...