1 Bedeutung und Potenzial der Pflegeberatung in Deutschland
Pflegeberatung steht weiterhin im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Diskussionen und pflegefachlichen Beiträge in Deutschland. Die Branche Pflege – und damit auch Pflegeberatung als neuer Berufszweig – ist der derzeit wachstumsstärkste Wirtschaftszweig in Deutschland (Bundesministerium 2017).
Pflegeberatung unterstützt beim Zurechtfinden im Paragrafen-Dschungel und Chaos der Institutionen und Zuständigkeiten sowie bei der Organisation der pflegerischen Versorgung. Der Eintritt von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit stellt in der Regel eine große emotionale Herausforderung für die Betroffenen und deren Umfeld dar. Pflegeberatung bietet besonders bei Eintritt der veränderten Situation eine große Entlastung für alle Beteiligten.
Die Gesundheitspolitik in Deutschland befasst sich mit der Formulierung von Zielen, der Wahl der geeigneten Instrumente und Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen, sowie mit der Anwendung der Instrumente und Maßnahmen. Ziele der Gesundheitspolitik sind die Verbesserung der Lebenserwartung, die Senkung der Morbidität und der Behinderungslast, die Optimierung der gesundheitsbedingten Lebensqualität und die Verringerung der gesundheitsspezifischen sozialen Ungleichheit (Schwartz et al. 2003, S. 224–229). Außerdem befasst sich Gesundheitspolitik mit den Aufgaben und der Ausgestaltung der am Gesundheitssystem beteiligten Institutionen sowie mit den Berufsgruppen, die im Gesundheitswesen beschäftigt sind (Rosenbrock 2000, S. 187–215).
Das Gesundheitssystem in Deutschland zeichnet sich vor allem durch eine starke Segmentierung aus, die historisch gewachsen ist: Förderung durch Bund, Länder und Kommunen, Pluralismus der Trägerschaft der Gesundheitseinrichtungen (öffentliche, frei-gemeinnützige und private Träger). Es gibt den stationären und den ambulanten Sektor, den öffentlichen Gesundheitsdienst und Laienpflegekräfte (ebd.). Die Gesundheitspolitik in Deutschland hat Einfluss auf allen drei Ebenen (
Tab. 1.1).
Neben der Versorgung der Kranken und Pflegebedürftigen, also die Bereiche Krankenhausversorgung, Rehabilitation und Pflege, muss die Politik auch die Prävention und Gesundheitsförderung berücksichtigen. Hier sehe ich beispielweise zusätzliches Potenzial der Pflegeberatung. Laut Gesundheitsbericht des Bundes gab es im Jahr 2015 deutschlandweit rund 1,38 Millionen Pflegegeldbezieher, die ausschließlich von pflegenden Angehörigen versorgt werden. 2,08 Millionen Menschen wurden in Deutschland zu Hause versorgt. Weitere rund 783.000 Pflegebedürftige wurden in stationären Einrichtungen versorgt. Die Zahl wächst weiterhin.
Pflegeberatung als Marketinginstrument
Die Kranken, die Pflegebedürftigen und deren Angehörige werden immer mehr zu mit entscheidenden Kunden und darum müssen sich die klassischen Gesundheitsberufe noch weiter in Richtung Dienstleistungsberufe bewegen (Diedrichs et. al. 2008, S. 547–551).
EbeneStrukturAkteureIn Bezug auf die Pflegeberatung
Tab. 1.1: Überblick über die Ebenen der Gesundheitspolitik in Deutschland bezogen auf die Pflegeberatung (in Anlehnung an Rosenbrock 2000 S. 187–215)
Bei der Pflegeberatung sollten die Informationen nicht nur in eine Richtung, sondern wechselseitig fließen. Beispielsweise kann ein Pflegedienst die Zufriedenheit bezüglich der bisher genutzten Leistungen abfragen (Qualitätssicherung) und die noch offenen Wünsche sammeln. Die Ergebnisse der Befragung von Patienten und deren Angehörigen zur Zufriedenheit im Rahmen der Evaluation könnten z. B. den Ergebnissen der MDK-Begutachtung gegenübergestellt werden. Entsprechende Informationen sollten langfristig erhoben, gesammelt, ausgewertet und eingesetzt werden.
Pflegeberatung ist gesetzlich im Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) festgeschrieben. Der weitere Ausbau von Pflegeberatung ist in den letzten Jahren erfolgt und weiterhin im Fokus der Gesundheitspolitik. Mit Blick auf den weiter steigenden Fachkräftemangel ist heute allerdings eher die Frage von Bedeutung, welcher Pflegedienst die Betroffenen in Krisensituationen noch kurzfristig versorgen kann.
Die pflegenden Angehörigen von heute sind die Pflegebedürftigen von morgen oder übermorgen. Im Rahmen von Pflegeberatung könnte hier ebenfalls eine Befragung stattfinden, die auf das Bereitstellen von weiteren Dienstleistungen abzielt. Welche Dienstleistungen bzw. welche Bedingungen benötigen die pflegenden Angehörigen für ihre spätere Versorgung? Da pflegende Angehörige in der Regel eine konkrete Vorstellung von den Belastungen der Pflege haben, setzen sie sich meist auch mit der eigenen Zukunft auseinander. Die so gewonnenen Informationen sind sehr wertvoll. Zudem wird den pflegenden Angehörigen Wertschätzung und Akzeptanz entgegengebracht.
Mit einer gesetzlich festgeschriebenen Erweiterung des Aufgabenspektrums von Pflegeberatung kann der Kontakt zu pflegenden Angehörigen aufgebaut und gehalten werden. Die Pflegewünsche und -bedürfnisse der Zukunft unterliegen regionalen Unterschieden, die genauer zu ermitteln wären.
Mit den Pflegestärkungsgesetzen I–III hat jeder Pflegebedürftige bei einem Erstantrag auf eine Pflegeeinstufung einen Anspruch auf eine kostenlose und individuelle Pflegeberatung. Auch pflegende Angehörige können sich beraten lassen. Das ist sinnvoll, denn gerade bei dem zu erwartenden Eintritt in Pflegebedürftigkeit sind der Pflegebedürftige und seine Angehörigen vor eine Vielzahl von Entscheidungen und Herausforderungen gestellt (Thomas & Wirnitzer 2003, S. 105; Georg & Georg 2003, S. 84–86; Gittler-Hebestreit 2006, S. 17–18; Büscher 2010 S. 4).
Auch Pflegeberater sollten sich regelmäßig fragen: »War die Pflegeberatung aus ihrer Sicht erfolgreich?« oder »Konnten durch die Pflegeberatung höhere Kosten (z. B. durch den längeren Verbleib in der Häuslichkeit) vermieden werden?« Um die Qualität der Pflegeberatung sicher zu stellen, ist eine umfangreiche Schulung, weitergehende regelmäßige Weiterbildungen, kollegialer Austausch und Supervision erforderlich.
Pflegeberatung hat ebenfalls den Auftrag, die Kosten im Gesundheitswesen langfristig zu senken. Fachlich gute Pflegeberatung kann dies leisten (Hugo Mennemann, Bundeskongress DGSV, Vorstellung des »Ahlener Modells«, 29.10.2009 in Münster). Zu den Kosten sollten dabei nicht nur die aktuell entstandenen Beträge gesehen werden (Kosten für Pflege, ärztliche Versorgung, Medikamente und Hilfsmittel), sondern auch die Kosten, die durch langfristige Verhinderung einer Überlastung von pflegenden Angehörigen vermieden werden konnten (Burnout-Gefahr).
Kommt es zur Pflegebedürftigkeit, treten bei den Betroffenen, deren Angehörigen oder Betreuern viele Fragen auf. Der Dschungel der Entlastungsangebote, die vielen Begriffe, die gesetzlichen Ansprüche und die notwendigen Hilfsmittel sind Gründe, um Pflegeberatung in Anspruch zu nehmen. Fakt ist: Viele Menschen sind gern bereit, den ...