TEIL I
Einladung zum Gespräch
1. Von der Anstrengung zur Leichtigkeit
Wir sind nie vereinzelt; wir sind eine Konversation.
(Original: We are never one thing; we are a conversation; eigene Übersetzung)
David Whyte (2012)
Gespräche sind Lebensqualität: Sie machen glücklich und sind alt wie die Menschheit. Alles, was wir brauchen, ist schon da – es ist nur freizulegen!
Was wir tun, wenn wir reden
In einem Artikel über den Berliner Flughafenbus TXL beschreibt Tobias Rüther unter anderem ein Gespräch zwischen zwei sich bis dahin fremden Frauen:
»Einmal saßen zwei ältere Damen im hinteren Teil des Busses nebeneinander. Die eine beugte sich vor und fragte, ob die nächste Station denn der Hauptbahnhof sei? ›Thank you, my dear‹, sagte sie dann und seufzte, ihr Englisch klang warm und träge wie der amerikanische Süden. ›Ich steige auch am Hauptbahnhof aus, ich nehme Sie dann einfach mit‹, sagte da die Dame auf dem Platz neben ihr, und deren Englisch […] klang wie aus einem Film von Aki Kaurismäki. ›Woher sind Sie denn?‹, fragte die Amerikanerin. ›Aus Finnland‹, sagte die Finnin, und dann unterhielten die beiden sich darüber, dass die Amerikanerin aus Texas sei und zum ersten Mal in ihrem Leben in Europa und dass sie am Hauptbahnhof in einen Zug nach Polen steigen würde, um dort ihre Verwandtschaft zu besuchen, und dann fragte die Texanerin, woher genau denn in Finnland die Finnin sei, und die Finnin nannte den Namen ihrer kleinen Stadt hoch im Norden, und der klang wiederum wie ein Filmtitel von Aki Kaurismäki im Original. […] Schließlich stiegen sie gemeinsam aus und zogen ihre Koffer Seite an Seite hinter sich her.« (Rüther 2018)
Wir Menschen sind erstaunliche Geschöpfe. Wir treffen uns als Fremde, tauschen uns mit Gesten, Worten und Tonlagen aus – und dann haben wir einen Eindruck davon, ob wir einander trauen können oder nicht. Die Sprache prägt unsere Beziehungen: die zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden, Verwandten, Kolleginnen und Kollegen und auch die zwischen Fremden.
Tiere haben ebenfalls Sprache. Wir kennen Schreie, Grunzen, Miauen, Bellen, Wiehern. Doch die menschliche Kommunikation ist einzigartig. Tiere können sich vor einem gefährlichen Raubtier warnen. Ein Mensch kann einem anderen erzählen, dass er beim Waschen am Fluss ein merkwürdiges Raubtier bemerkt hat; eines, das er noch nie gesehen hat. Er kann den Ort und den Weg zu diesem Ort beschreiben, auch das Aussehen des seltsamen Tieres. Er kann über die Angst reden, die ihn gepackt hat, als er ihm plötzlich gegenüberstand. Und er kann mit seinem Stamm beraten, was zu tun ist, damit das Dorf vor gefährlichen Tieren besser geschützt ist.
Über die Sprache können wir große Mengen an Informationen und unglaublich komplexe Zusammenhänge verarbeiten und weitergeben, also teilen. Das bietet uns in unseren Beziehungen Entwicklungsmöglichkeiten, die auch hoch entwickelte Säugetiere nicht haben:
Wir denken gemeinsam, indem wir miteinander reden.
Wir legen unsere Leistungsvermögen zusammen, indem wir uns über Sprache verständigen. Dadurch schaffen wir einzigartige Dinge: Wir können Hochhäuser bauen, Theorien entwickeln, Kochrezepte weitergeben, die Zukunft beschreiben.
Wozu wir mit Sprache fähig sind, das zeigen in einem einfachen Gespräch die beiden Frauen, die wir am Anfang des Kapitels belauscht haben. Sie treffen sich unterwegs, auf Reisen in einem deutschen Ballungsgebiet, in dem sie beide fremd sind. Die eine kommt aus den amerikanischen Südstaaten, die andere aus dem Norden Finnlands. Den großen Abstand zwischen ihren Lebenswelten überbrücken sie mit einem Austausch in Englisch, der Sprache, die in der westlichen Welt am wahrscheinlichsten eine Verständigung ermöglicht. Sehen wir einmal en détail hin: Was genau passiert in dieser Begegnung, die mit diesem kleinen Dialog beginnt?
1. Die Redenden tauschen Informationen aus
Ist das der richtige Weg zum Hauptbahnhof? Ja! Mühelos wandert das Wissen zu einer weiteren Person und wird geteilt. Das spart die womöglich mühsame eigene Orientierung in einer unbekannten Umgebung.
Über gesprochene und geschriebene Sprache lernen wir, ohne Erfahrungen unbedingt selbst machen zu müssen. Wir können einfach anderen folgen, die sie bereits hinter sich und womöglich sogar ausgewertet haben. Schnell und leicht sichern und teilen wir Erkenntnisse über Wissensgebiete und neue Welten, die wir uns erschließen. Das gibt uns Zeit und Raum, um uns ungelösten Fragen zu widmen. Aller menschliche Fortschritt – im Leben des Einzelnen und gesellschaftlich – ist nur über sprachliche Vermittlung von Bestehendem und Neuem vorstellbar.
2. Das Gespräch schafft Sicherheit
Die beiden Frauen sind im Transit und somit verletzlicher als in ihrem heimischen Umfeld. Die Amerikanerin wird in der unbekannten Umgebung sanft aufgefangen: Eine nicht weiter erwähnte Person vor ihr bestätigt ihr, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Ihre finnische Sitznachbarin bietet ihr an, sie persönlich zu begleiten. Der Effekt: Da, wo vorher Unsicherheit war, ist eine doppelte Sicherheit entstanden – über Worte vermittelt. Über die Signale, die sich die beiden senden, wird deutlich: Sie können sich vertrauen. Also vermutet die Amerikanerin, dass die Finnin sie tatsächlich zum Hauptbahnhof lotsen wird (und nicht etwa in eine dunkle Ecke der Stadt, um sie in Ruhe auszuplündern).
Wenn wir miteinander reden, macht das die Unwägbarkeiten des Lebens ein wenig berechenbarer.
3. Das Gespräch macht die Redenden stärker und effektiver
Die Finnin und die Amerikanerin haben mit ihrem Austausch eine neue Gemeinschaft gebildet: die der beiden Zum-Hauptbahnhof-Reisenden. Sie koordinieren sich. Und sind zu zweit stärker als allein. Indem sie sich helfen, sich Zeit und Gehör, Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken, bekommen sie beide Vorteile, die sie allein nicht hätten.
Gemeinsames Überlegen, das Zusammenrücken im Reden darüber und das darauffolgende Handeln machen uns stark. Mit Sprache können wir leicht kooperieren. Menschen, die sich noch nie begegnet sind, können in kürzester Zeit etwas gemeinsam bewirken, und zwar viel mehr als dort, wo sie auf sich allein gestellt sind. Sprache macht also erfolgreich – und uns Menschen ziemlich einzigartig. Über die Entwicklung der Sprache vor ca. 70 000 Jahren wurde dann auch das gemeinsame Jagen oder das Miteinander in größeren Gemeinschaften möglich: mit entsprechend größeren Resultaten. Nicht mehr ein Büffel wurde getötet, sondern eine ganze Büffelherde in einen Talkessel getrieben. Fundstellen für Früchte und Pilze konnten ebenso beschrieben werden wie eine Bärenhöhle in der Nähe.
Informationen aller Art konnten ausführlich geteilt und im Anschluss Strategien entwickelt und koordiniert werden. Das konnten Warnungen sein, Lösungen für Probleme, Hinweise auf Gefahren oder das Verhalten von Gruppenmitgliedern. Durch das Teilen von Wissen wurden Überleben und Fortpflanzung einfacher.
All dies ist gleich geblieben, seit wir mit dem Reden begannen. Neue Gemeinschaften brauchen selbst in digitalen Zeiten Raum und Gespräche, um zu wachsen. Wenn sich etwa durch Heirat zwei zuvor fremde Familien näherkommen, geschieht das dadurch, dass die Familienmitglieder mit den Menschen der anderen Familie zu reden beginnen. Ein neues Projektteam braucht Begegnungen mit Worten, um zusammenzuwachsen. Auch die Gemeinschaft von Freunden oder Verwandten gewinnt erst durch das Gespräch an Substanz. Das Gleiche gilt für religiöse, politische, kulturelle und weltanschauliche Kreise bis hin zu sehr bodenständigen Gemeinschaften mit sehr konkreten Anliegen (z. B. Schrebergartenvereine ). Ein formales Miteinander ersetzt niemals die echte Begegnung. Und die passiert immer im Gespräch. 4. Es entsteht glückliche Nähe
Nachdem die ursprüngliche Frage – der Weg – geklärt ist, tauschen die beiden Frauen persönliche Informationen aus. Das Gespräch bewegt sich über das Problem (Wo ist der Hauptbahnhof?) hinaus. Denn die Frauen gehen nun zu persönlichen Fragen über: Woher kommen Sie? Wohin reisen Sie? Warum? Die beiden nähern sich über diesen freundlichen Austausch einander an und gehen mit dem Teilen von Informationen aus ihrem Leben vorsichtig weiter. ...