Kapitel I: Die grundlegende Theorie
Die Leser mit einem philosophisch ausgerichteten Geist werden sich vielleicht über den Titel des ersten Kapitels ›Die grundlegende Theorie‹ wundern, da sie erwarten, dass das ganze Werk der Theorie gewidmet ist. Doch der Maharshi hat sich, wie jeder spirituelle Meister, viel mehr mit der praktischen Seite der Schulung der Sucher beschäftigt als mit der Erklärung der Theorie. Theorie ist wichtig, aber nur als Grundlage der Praxis.
F: »Es heißt, dass Buddha Fragen über Gott ignoriert hat.«
B: »Ja, und deswegen hat man ihn als Agnostiker bezeichnet. Buddha wollte vielmehr die Sucher dahin führen, die Seligkeit hier und jetzt zu verwirklichen, als sich mit akademischen Diskussionen über Gott usw. zu befassen.« (M.G., S. 42)
F: »Ist das Studium der Wissenschaften, der Psychologie, Physiologie usw. für die Erlangung der Yoga-Befreiung oder für das intuitive Verstehen der Einheit der Wirklichkeit hilfreich?«
B: »Nur begrenzt. Fürs Yoga ist etwas theoretisches Wissen nötig und kann in Büchern gefunden werden. Aber was wirklich nötig ist, ist die praktische Anwendung. Das persönliche Beispiel und die persönliche Anleitung sind die besten Hilfen. Was das intuitive Verständnis betrifft, kann ein Mensch sich zwar mühsam von der Wahrheit, die man durch Intuition erfassen muss, von ihrer Funktion und Natur intellektuell überzeugen, aber die wirkliche Intuition gleicht eher einem Empfinden und benötigt praktischen und persönlichen Kontakt. Nur aus Büchern zu lernen nützt wenig. Nach der Verwirklichung ist alle intellektuelle Fracht ein nutzloser Ballast, den man über Bord werfen muss.« (T. 28)
Die hauptsächliche Beschäftigung mit der Theorie, der Lehre und der Philosophie kann sogar insofern schaden, als sie den Menschen von der wirklich wichtigen Arbeit einer spirituellen Anstrengung ablenkt, indem sie eine einfachere Alternative anbietet, die rein mental ist und seinen Charakter deshalb nicht verändern kann.
»Was nützt das Lernen denen, die nicht danach trachten, die Schrift des Schicksals (von ihrer Stirn) auszulöschen, indem sie sich fragen: ›Woher kommen wir, die wir die Schriften kennen?‹ Sie sind auf die Stufe eines Grammophons gesunken. Was sonst sind sie, oh Herr Arunachala?
Die Ungebildeten werden eher gerettet als die Gelehrten, deren Ego trotz ihrer Gelehrsamkeit nicht kleiner geworden ist. Sie bleiben von den unerbittlichen Klauen des Dämons der Selbstverliebtheit, von einer Unzahl von krankhaft umherwirbelnden Gedanken und Worten und vom Streben nach Wohlstand bewahrt. Sie bleiben vor mehr als einem Übel bewahrt.« (F.V.S., Verse 35f)
Er sah in rein theoretischen Diskussionen keinen Sinn.
»Aufgrund der Illusion, die aus der Unwissenheit entsteht, können die Menschen das nicht wahrnehmen, was immer und für jeden die ihm innewohnende Wahrheit ist, die in seinem natürlichen Herzzentrum wohnt, und können nicht darin verweilen. Stattdessen streiten sie sich darüber, ob es existiert oder nicht, ob es eine Gestalt hat oder nicht, ob es eins oder zwei ist.« (F.V., Vers 34)
»Kann sich denn irgendetwas getrennt vom Ewigen und Vollkommenen offenbaren? Diese Art der Auseinandersetzung ist endlos. Beteilige dich nicht daran, sondern wende deinen Geist vielmehr nach innen und höre mit all dem auf. Derartige Diskussionen sind endlos.« (T. 132)
Letztendlich sind sogar die Schriften nutzlos.
»Die Schriften dienen dazu, auf die Existenz einer höheren Kraft oder des Selbst hinzudeuten und den Weg dorthin aufzuzeigen. Das ist ihr eigentlicher Zweck. Abgesehen davon sind sie nutzlos. Dennoch sind sie so umfangreich, um der Entwicklungsstufe eines jeden Suchenden zu entsprechen. Wenn ein Mensch höher steigt, stellt er fest, dass die Stufen, die er bereits erreicht hat, nur Trittsteine zu höheren Stufen sind, bis er schließlich das Ziel erreicht. Wenn das geschieht, bleibt nur noch das Ziel übrig, und alles andere, einschließlich der Schriften, wird nutzlos.« (T. 63)
Es stimmt, dass er manchmal die Philosophie in all ihrer Komplexität erläuterte. Aber das war eher ein Zugeständnis an die Schwäche jener, die dem »vielen Denken verfallen sind«, wie er sich in seiner Schrift ›Selbstergründung‹ ausdrückt. Ich wollte hier ein Beispiel dafür anführen, fand dann aber, dass es in folgendem Abschnitt enthalten ist:
»Das komplizierte philosophische Labyrinth der verschiedenen Schulen soll die Dinge erklären und die Wahrheit enthüllen, aber in Wirklichkeit schafft sie unnötige Verwirrung. Um irgendetwas zu verstehen, ist das Selbst nötig. Das Selbst ist offensichtlich. Warum also verbleibt man dann nicht als das Selbst? Wozu muss man das Nicht-Selbst erklären?«
Und über sich selbst fügt er hinzu:
»Glücklicherweise habe ich mich der Philosophie nie zugewandt. Hätte ich es getan, wäre ich wahrscheinlich nirgendwo. Aber meine Neigungen haben mich direkt dazu geführt, mir die Frage: ›Wer bin ich?‹ zu stellen. Was für ein Glück!« (T. 392)
Die Welt – Wirklichkeit oder Illusion?
Trotzdem ist etwas Theorie als Grundlage für die praktische Arbeit der spirituellen Schulung nötig. Der Maharshi lehrte Nicht-Zweiheit [Advaita]. Seine Lehre steht in völligem Einklang mit den Lehren des großen Weisen Shankara. Diese Übereinstimmung bedeutet jedoch nicht, dass Bhagavan von Shankara »beeinflusst« war, wie ein Philosoph es ausdrücken würde, sondern lediglich, dass er Shankaras Lehre als eine richtige Darlegung dessen erkannte, was er verwirklicht hatte und durch direkte Erfahrung wusste.
F.: »Lehrt Bhagavan dasselbe wie Shankara?«
B.: »Bhagavans Lehre ist ein Ausdruck seiner eigenen Erfahrung und Verwirklichung. Andere finden, dass sie mit Sri Shankaras Lehre übereinstimmt.« (T. 189)
F.: »Die Upanishaden sagen, dass alles Brahman ist. Wie können wir dann behaupten, dass die Welt unwirklich oder illusorisch ist, wie Shankara es tut?«
B.: »Shankara sagt ebenfalls, dass diese Welt Brahman oder das Selbst ist. Er widerspricht nur der Vorstellung, dass das Selbst durch Namen und Formen, die die Welt ausmachen, begrenzt ist. Er sagt lediglich, dass die Welt nicht unabhängig von Brahman existiert. Brahman oder das Selbst ist wie die Leinwand, und die Welt ist wie der Film auf ihr. Du kannst die Bilder nur sehen, wenn es die Leinwand gibt. Aber wenn der Betrachter selbst zur Leinwand wird, bleibt nur noch das Selbst übrig.« (D.D., 29.5.1946)
Shankara wurde wegen seiner Philosophie über maya (Illusion) kritisiert. Man hat ihn nicht verstanden. Er macht dreierlei Aussagen: Brahman ist wirklich, die Welt ist unwirklich und Brahman ist die Welt. Er beließ es nicht bei der zweiten Feststellung. Die dritte Aussage erklärt die beiden ersten. Das bedeutet, dass wenn die Welt getrennt von Brahman betrachtet wird, dies eine falsche und illusorische Sichtweise ist. Er will damit sagen, dass die Erscheinungsformen wirklich sind, wenn sie als Selbst erkannt werden, aber illusorisch, wenn sie vom Selbst getrennt betrachtet werden.« (R.M., S. 92)
»Nur das Selbst existiert und ist wirklich. Die Welt, das Individuum und Gott sind Vorstellungen im Selbst, wie das Silber, das man im Perlmutt sieht.1 Sie tauchen zusammen auf und verschwinden auch wieder zusammen. In Wirklichkeit ist einzig das Selbst die Welt, das Ich und Gott. Alles, was existiert, ist lediglich eine Manifestation des Höchsten.« (W., §16)
F.: »Was ist die Wirklichkeit?«
B.: »Die Wirklichkeit muss immer wirklich sein. Sie hat weder Namen noch Formen, sondern ist das, was ihnen zugrunde liegt. Sie liegt allen Begrenzungen zugrunde und ist doch selbst grenzenlos. Sie ist in keiner Weise gebunden. Sie liegt dem Unwirklichen zugrunde und ist doch selbst wirklich. Sie ist das, was ist. Sie ist, wie sie ist. Sie überschreitet die Sprache und kann weder als Sein noch als Nicht-Sein beschrieben werden.« (T. 140)
Er ließ sich nicht in Meinungsverschiedenheiten verwickeln, die nur von einer anderen Sichtweise oder einer anderen Ausdrucksweise herrührten.
F.: »Die Buddhisten leugnen die Welt, während die Hindu-Philosophie ihr eine Existenz zugesteht, sie aber unwirklich nennt. Ist es nicht so?«
B.: »Das sind nur verschiedene Standpunkte.«
F.: »Es heißt, dass die Welt von der göttlichen Energie (shakti) erschaffen wurde. Rührt das Wissen um die Unwirklichkeit von der Enthüllung der Illusion (maya) her?«
B.: »Alle gehen davon aus, dass die göttliche Energie die Welt erschaffen hat. Aber was ist das Wesen dieser Energie? Sie muss mit dem Wesen ihrer Schöpfung übereinstimmen.«
F.: »Gibt es Abstufungen in der Illusion?«
B.: »Illusion ist selbst illusorisch. Sie muss von jemandem außerhalb von ihr wahrgenommen werden. Wie aber kann ein Sehender ihr unterliegen? Wie also könnte er von Abstufungen sprechen?
Du siehst auf der Kinoleinwand verschiedene Szenen. Feuer scheint Gebäude zu Asche zu verbrennen, Wasser scheint Schiffe zu zerstören, aber die Leinwand, auf die der Film projiziert wird, verbrennt nicht und bleibt trocken. Warum? Weil die Bilder unwirklich sind, während die Leinwand wirklich ist.
Auf ähnliche Weise gibt ein Spiegel Reflexionen wieder, wobei er weder durch ihre Anzahl noch durch ihre Qualität beeinträchtigt wird.
Ebenso ist die Welt ein Phänomen auf der Grundlage der einzigen Wirklichkeit, die auf keinerlei Weise von ihr beeinträchtigt wird. Es gibt nur eine Wirklichkeit.
Wenn man von Illusion spricht, ist das durch den Standpunkt bedingt. Ändere deinen Standpunkt zu dem der Erkenntnis, und du wirst das Universum nur als Brahman wahrnehmen. Weil du jetzt in die Welt versunken bist, betrachtest du sie als wirklich. Gehe darüber hinaus, und sie verschwindet, und nur die Wirklichkeit bleibt übrig.« (T. 446)
Wie der letzte Auszug zeigt, verlangt das Postulat einer einzigen universellen Wirklichkeit nach dem Konzept eines Prozesses von Illusion oder Schöpfung, um die scheinbare Wirklichkeit der Welt zu erklären.
»Die Welt wird als eine augenscheinliche, objektive Wirklichkeit wahrgenommen, wenn der Geist sich nach außen wendet und dabei seine Identität mit dem Selbst aufgibt. Wenn man die Welt auf diese Weise wahrnimmt, wird die wahre Natur des Selbst nicht offenbar. Und umgekehrt: Wenn man das Selbst verwirklicht, erscheint die Welt nicht mehr als eine objektive Wirklichkeit.« (W., § 8)
»Illusion ist, was uns dazu verleitet, das, was immer da ist und alles durchdringt, was vollkommen, aus sich selbst leuchtend und tatsächlich das Selbst und das Herz unseres Seins ist, für nicht-existent und unwirklich zu halten. Und umgekehrt ist Illusion, was uns dazu verleitet, das für wirklich und aus sich selbst bestehend zu halten, was nicht existiert und unwirklich ist, nämlich die Dreiheit von Welt, Ich und Gott.« (S.I., II, § 5)
Die Welt ist wirklich, aber nicht als eine unabhängige Wirklichkeit, die sich selbst unterhält, sondern wie die Person, die du im Traum siehst. Sie ist als Traumfigur, nicht aber als Person wirklich.
»Für jene, die das Selbst nicht verwirklicht haben, wie auch für jene, die es verwirklicht haben, ist die Welt wirklich. Aber für erstere ist die Gestalt der Welt die Wirklichkeit, während für letztere die Wirklichkeit als gestaltlose Vollendung und Grundlage der Welt erstrahlt. Das ist der einzige Unterschied zwischen beiden.« (F. V., Vers 18)
»Das erinnerte mich [i.e. Devaraja Mudaliar] daran, dass Bhagavan sagte, mithya (unwirklich, imaginär) bedeute satyam (wirklich), aber ich habe das nie recht verstanden. Deshalb fragte ich ihn.
B.: ›Ja, das habe ich gelegentlich gesagt. Was verstehst du unter »wirklich« (satyam)? Was nennst du wirklich?‹
Ich: ›Nach der Lehre des Vedanta ist nur das wirklich, was dauerhaft und unveränderlich ist. Das ist die Definition von Wirklichkeit.‹
B.: ›Die Namen und Formen, die die Welt ausmachen, verändern sich ständig und finden ihr Ende. Deshalb nennt man sie mithya (unwirklich). Wenn man das Selbst begrenzt, indem man es als Namen und Formen betrachte...