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SECHSTER VORTRAG - Stuttgart, 17. Juni 1921
Gerade die Betrachtungen, die wir anstellen müssen bei der Aussicht, nun auch die älteren Schüler und Schülerinnen unterrichten und erziehen zu wollen, die müssen uns wenigstens für die heutige Stunde in etwas tiefere Gebiete der Menschen- und Weltkunde hineinführen. Ohne solche tiefere Begründungen für das Leben können wir eigentlich gar nicht mit wirklich gutem Gewissen uns einer solchen Aufgabe unterziehen, wie diejenige wird, die sich ergibt, wenn wir die Waldorf schule nach oben hin ausbauen wollen. Wir müssen uns ja klar sein darüber, dass das Leben in Wirklichkeit doch ein einheitliches ist, dass wir aus dem Leben nur zum Schaden dieses Lebens selbst ein Stück herausnehmen können. Das Leben bietet uns zunächst dasjenige dar, in das wir als Menschen von Kindheit auf hineinwachsen. Wir werden so hereingestellt in die Welt, dass wir in sie zunächst hereinschlafen. Bedenken Sie nur, wie das Kind in den ersten Lebensjahren in völliger Unbewußtheit der Welt gegenübersteht. Dann wird es immer mehr und mehr bewußt. Was heißt das aber: es wird bewußt? Das heißt, es lernt sich mit seinem inneren Leben an die äußere Welt anpassen. Es lernt die äußere Welt auf sich beziehen, sich auf die äußere Welt beziehen. Es lernt eben die äußeren Dinge bewußt kennen, sich von ihnen unterscheiden. Das tritt ihm dann immer mehr und mehr, je mehr es heranwächst, entgegen. Es schaut hinauf in den Umkreis des Erdenlebens, sieht die kosmische Welt, ahnt ja wohl, dass in dieser kosmischen Welt eine Gesetzmäßigkeit ist; aber es wächst doch in das Ganze hinein wie in etwas, in das es aufgenommen wird, ohne irgendwie völlig fertig zu werden mit dem Geheimnis, das besteht zwischen dem Menschen und der kosmischen Welt. Dann wächst das Kind heran, wird immer mehr und mehr in die bewußte Sorgfalt der übrigen Menschen aufgenommen. Es wird erzogen, es wird unterrichtet. Es wächst so heran, dass aus seiner ganzen Individualität das hervorgeht, dass es selbst in irgendeiner Weise in das Weltgetriebe eingreifen muß.
Wir erziehen es dadurch für das Weltgetriebe heran, dass wir es zunächst spielen lassen, dass wir dadurch also seine Tätigkeit wecken. Wir bemühen uns in irgendeiner Weise, alles dasjenige, was wir mit dem Kinde tun, auf der einen Seite so zu vollbringen, dass den Anforderungen der Menschen Wesenheit Genüge getan wird; dass wir also hygienisch, gesund erziehen, dass wir also den Unterricht in leiblicher, seelischer und geistiger Beziehung pflegen. Wir suchen ein zweites. Wir versuchen uns hineinzuleben in die Anforderungen des sozialen und technischen Lebens. Da wurde versucht, das Kind so zu erziehen und zu unterrichten, dass es später arbeiten, eingreifen kann in das Getriebe, dass es sich sozial hineinstellen kann in das Menschenleben, mit den übrigen Menschen auskommt. Wir versuchen, ihm Geschicklichkeiten und Kenntnisse beizubringen, wodurch es in das technische Leben hineinwächst, so dass seine Arbeit für die Gesellschaft wie für das menschliche Leben etwas bedeuten kann, und dass es selbst einen Lebensweg findet im Zusammenhang mit dem übrigen sozialen Leben der Menschheit. Alles das vollbringen wir. Und dass wir es in der richtigen Weise vollbringen, dass wir tatsächlich auf der einen Seite den Anforderungen der menschlichen Natur Rechnung tragen können, so dass wir den Menschen nicht hineinstellen in die Welt als einen geistig, seelisch und physisch kranken oder verkümmerten Organismus, müssen wir auf der anderen Seite uns sagen können, dass der Mensch so in die Gesellschaft hineinwächst, dass er irgendetwas anfassen kann, wodurch er sich und die Welt vorwärtsbringen kann. Dass beidem auf diese Weise genügt wird, das muß unsere Sorge sein. Aber wir müssen uns doch sagen: es verursacht uns heute eine gewisse Mühe, in dieser zweifachen Sorge irgendwie etwas dem Kinde entgegenzubringen. Und es verursacht uns eigentlich, wie ein unbefangener Blick in die ganze Lage, in der wir als Unterrichtende und Erziehende sind, uns lehrt, nicht nur eine gewisse Mühe, sondern sogar eine gewisse Skepsis, einen gewissen Zweifel. Es ist ja leicht einzusehen, dass in unserer Zeit in der mannigfaltigsten Weise debattiert wird: Wie soll man eigentlich die Jugend erziehen, was soll man machen? -Das sind im Grunde genommen alles Fragen, die in dieser Schärfe, in dieser Ausgeprägtheit, wie sie heute auftreten, mit diesem Extrem in älteren Kulturen eigentlich durchaus unmöglich gewesen waren. Wenn Sie nur unbefangen die geschichtliche Entwickelung betrachten, werden Sie sich sagen müssen: in älteren Kulturen herrschte natürlich außerordentlich viel, was uns heute unfaßbar erscheint. Wir brauchen nur auf die Stellung der leitenden Klassen und der Sklaven- und Helotenklassen im alten Griechenland zu sehen, so bietet sich uns ein Bild dar, das wir von unserem heutigen Gesichtspunkte aus mit Recht nicht billigen. Wenn wir uns aber bekanntmachen mit den Anschauungen, welche die Griechen gehabt haben über die Jugenderziehung, so wäre es undenkbar, dass unter ihnen solche Debatten stattgefunden hätten, wie wir sie heute über die Erziehung der Jugend erleben, wo der eine das vollständige Gegenteil von dem anderen meint mit Bezug auf die Art und Weise, wie man das Kind, den Jüngling und die Jungfrau heranziehen und der sozialen Ordnung einverleiben soll. Es ist also nicht nur, dass uns das Unterrichten und Erziehen Mühe macht, wir müssen eine Pädagogik, eine Didaktik haben. Wir glauben, dass wir uns durch so etwas wie Pädagogik und Didaktik dasjenige aneignen können, was uns als Erziehenden und Unterrichtenden notwendig ist. Aber wenn wir wiederum sehen, wie die Debatten sich gegenseitig entladen, wie durchaus nicht irgendwie Aussicht ist auf eine Verständigung von der einen oder anderen Seite, wie diejenigen, die mehr die körperliche Erziehung betonen, und die anderen, die mehr das Geistig-Seelische betonen, sich nicht miteinander verständigen können, so kommen wir gerade über die Erziehungsaufgaben - und dann beim Spezialisieren in die Didaktik hinein - nicht nur dazu, zu sagen: Es ist mühevoll, zu erziehen -, sondern es ist so, dass wir gar nicht über ein gewisses Ignorabimus in bezug auf unsere Stellung als Erziehende und Unterrichtende hinauskommen können. Das müßten wir eigentlich durchaus fühlen in der Gegenwart, und es wird sich, glaube ich, diese Empfindung noch verschärfen, wenn wir die Sache mit einem etwas weiteren Blick betrachten. Dieser weitere Blick wird sich Ihnen ergeben, wenn Sie zum Beispiel, sagen wir, so einen richtigen Ausfluß von Erziehungsprinzipien, Erziehungsideen sehen und durchstudieren, wie so etwas hervorgegangen ist aus, sagen wir, der mitteleuropäischen Welt. Ich möchte Sie hinweisen darauf, einfach einmal zur Probe sich mit allem bekanntzumachen, was über geistige, seelische, physische Erziehung gesagt worden ist von Leuten, die ganz herausgewachsen sind mit ihrer Bildung aus Mitteleuropa. Nehmen Sie das Buch des Dittes oder des Diesterweg und lesen Sie sich durch, was da für Ansichten entwickelt werden über das Erziehungswesen. Ich weise Sie zum Beispiel auf den interessanten Aufsatz hin, der sich in Karl Julius Schröers Büchlein «Unterrichtsfragen» findet, das, wie ich glaube, in richtiger Weise die Frage behandelt über die Stellung des Turnens im Unterricht, wo bis ins einzelne hinein dieser Abschnitt «physische Erziehung» entwickelt wird. Ich möchte, dass Sie dabei, indem Sie so etwas auf sich wirken lassen, Rücksicht nehmen, aus welcher Denkweise und Gesinnung so etwas hervorgegangen ist. Wie da durchaus, trotzdem ein wirkliches, inneres Verständnis für die physische Menschennatur vorhanden ist und überall darauf Rücksicht genommen wird, dass der Mensch als physisches Wesen tüchtig in die Welt hineinwachsen muß, wie dennoch ein starkes, ich möchte sagen, ein durchdringendes Bewußtsein vorhanden ist, dass der Mensch ein seelisches Wesen ist, dass man überall auf seine Seele Rücksicht zu nehmen hat. Und ich möchte bitten, lesen Sie vergleichend - nicht nach Äußerlichkeiten, über solche Dinge sollen Sie hinaus sein, da Sie auf anthroposophischem Boden stehen -, lesen Sie, indem Sie die grundlegende Gesinnung verfolgen, das heißt das Untergründliche der Seele überhaupt, irgendeine der zahlreichen Abhandlungen über - man muß schon sagen, nicht Erziehung, sondern eben - Education aus der anglo-amerikanischen Literatur. Sie werden da überall Kapitel über intellektuelle Erziehung und ästhetische Erziehung, über physische Erziehung finden. Aber nehmen Sie Rücksicht auf das Untergründliche, aus dem das herauswächst. Sie werden geradezu das Gefühl haben, Sie können gar nicht das Wort Erziehung in eine Beziehung bringen mit dem, was da Education bedeutet, denn es liegt überall, selbst da, wo vom Geist, dass wir Geist in unserer Kultur haben, wo von intellektueller Erziehung die Rede ist, zugrunde, dass der Mensch eine Art Mechanismus ist; dass man seinen leiblich-physischen Mechanismus pflegen und ausgestalten muß, und dass sich, wenn wir diesen leiblich-physischen Organismus oder Mechanismus nur richtig ausgestalten, schon alles Moralische und alles Intellektuelle wie von selbst ergibt. Es ist ein viel stärkeres Hinneigen zu diesem Leiblich-Physischen. Man möchte sagen, in den Erziehungs- und Unterrichtswerken der ersten Art wird die Voraussetzung gemacht, dass man doch dem Menschen geistig-seelisch beikommen kann. Und wenn man ihm eben richtig geistig-seelisch beikommen kann, dann ergibt sich durch dieses geistig-seelische Beikommen auch ein richtiges Behandeln der Physis des Menschen. Bei den Werken über Education ist dagegen überall die Voraussetzung, dass man in leiblich-physischer Beziehung erziehen muß, wenn man richtig erzieht; dann ist in dem Menschen drinnen noch so irgendein kleines Kämmerchen, um das man sich eigentlich nicht recht kümmern soll. Man erzieht an der Peripherie der Physis herum und setzt nur immer voraus: Es ist da so ein Kämmerchen, um das man sich nicht kümmern soll, da ist eingesperrt der Intellekt, die Moral, die Religion; da ist noch eine Art instinktiver Moral, Religion, instinktiver Logik drinnen. Und wenn man die Physis genügend rundherum erzogen hat, dann gehen die Kräfte nach dem Inneren; sie lösen die Umwandungen dieses Kästchens auf und dann sprüht der Intellekt, die Moral und die Religion heraus, und das kommt dann schon von selber. Man muß dieses eben so lesen, dass man überall zwischen den Zeilen liest und auf das, was da eigentlich zugrunde liegt, Rücksicht nimmt. Es ist eben durchaus notwendig, dass man heute auf solche Differenzierungen über die Welt hin Rücksicht nimmt. Es ist durchaus viel wichtiger als das, was man heute gewöhnt ist, obenhin zu beobachten, wenn man diese Symptome, die sich unter der Oberfläche beobachten lassen, in Erwägung zieht. Denken Sie doch nur einmal, das Symptom in unserer Übergangskultur in der Weise zu erfassen, dass Sie etwa die außerordentlich wichtigen Debatten verfolgen, die sich in den letzten Wochen in England abgespielt haben unter dem Einfluß der aller-schlimmsten sozialen Verhältnisse, der hereinbrechenden umfassenden Streiks, die das ganze soziale Leben aufwühlten. Da haben Debatten stattgefunden, die die Zeitungen füllten. Und da sehen wir plötzlich in den letzten Wochen in dieser ganzen Journalistik, die mit diesen wichtigen Angelegenheiten beschäftigt ist, einen ganz anderen Ton hereinbrechen. Es ist auf einmal so: alles erklingt in dieser Journalistik aus einer ganz anderen Ecke. Und was ist denn das eigentlich? Es beginnen die verschiedenen - ich weiß schon wirklich gar nicht, wie sie alle heißen -Ballspiele und Tennisspiele. Das ist etwas, was anfängt die Leute so viel zu interessieren, und was das ganze Interesse hinweghebt über die allerwichtigsten sozialen Angelegenheiten. Die Debatten nehmen plötzlich den Charakter an: sehen wir nur, dass wir möglichst bald hinauskommen, wo die großen Plätze sind, wo die großen Spiele aufgeführt werden, wo wir uns so bewegen als Menschen, dass unsere Muskeln möglichst stark werden und dass wir unser Interesse auf diese wichtigen Tatsachen werfen, dass man - ich schildere vielleicht etwas dilettantisch, aber ich kann mich schon nicht auf genaue detaillierte sachgemäße Schilderungen dieser Kulturerscheinungen einlassen -, dass man seine besondere Aufmerksamkeit darauf wendet, dass, wenn einer vielleicht irgendwo so etwas wie eine Kugelgestalt wirft, der andere sie in der richtigen Weise mit der großen Zehe auffängt oder irgendwie. Es ist tatsächlich etwas ganz Merkwürdiges, was man da als Anschauung bekommt, wenn man gar auf Differenzierungen eingeht. Es nützt einem heute gar nichts, wenn man das Eigenartige unserer zeitgenössischen Journalistik liest. Was sie sagen wollen, das ist unbedeutend; das, was sie charakterisiert, ist, warum sie dazu kommen, dies oder jenes zu sagen. Das ist heute unendlich viel wichtiger. Aber mit den Leuten sich über dasjenige zu unterhalten, was sie meinen, das ist eine Sache, die heute von keiner Wichtigkeit ist; viel wichtiger ist, heute überall darauf zu sehen, aus welchen Untergründen die Leute dieses oder jenes tun, wie sie da dazu kommen, dieses oder jenes zu behaupten, warum dieses oder jenes da ist. Das ist es, worum es sich heute handelt. Was für ein Unterschied ist zwischen dem deutschen Aufbauminister und dem französischen Minister, wie man den Argumenten des einen oder anderen Recht gibt, das ist alles Wischiwaschi. Darum kann es sich nicht handeln für diejenigen, die an dem Fortschritt der heutigen Zivilisation teilnehmen wollen, sondern allein darum, dass man ergründet, wa rum der eine in einer ganz besonderen Weise unwahrhaftig ist und warum die Unwahrhaftigkeit des anderen einen ganz anderen Charakter hat. Das, was sich durch die beiden Unwahrhaftigkeiten ankündigt, diese Verschiedenheit, das ist dasjenige, was wir ins Auge fassen müssen. Wir müssen uns schon klar sein darüber, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem die Worte, die die Leute sprechen, keine Bedeutung haben in ihrem Inhalt, sondern allein die Kräfte, die drinnen walten und wirken. In einer solchen Art muß derjenige, der Jünglinge und Jungfrauen zu unterrichten hat, in sein Zeitalter hineinwachsen. Und er muß in einer noch tieferen Weise in sein Zeitalter hineinwachsen: er darf nicht jenen Grundcharakter behalten, den das Denken und die ganze Gesinnung des Menschen in der Gegenwart hat. Wenn man heute herumgeht und hat sich etwas durchdrungen mit anthroposophischem Bewußtsein - man findet nicht mehr Menschen, man findet Maulwürfe, die sich im engsten Kreise desjenigen bewegen, worin sie hereingesteckt sind, die sich so benehmen, dass sie in dem allerengsten Kreise denken und nicht hinausdenken über diesen Kreis, auch gar kein Interesse haben, sich zu bekümmern um dasjenige, was außerhalb dieses Kreises vorgeht. Wenn wir nicht die Möglichkeit finden, aus diesem Maulwurfdasein gründlich herauszuwachsen, wenn wir nur immer dieselben Urteile von einem anderen Standpunkt zustandebringen, die uns anerzogen sind durch die Vorgänge vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, dann können wir nicht fruchtbar teilnehmen an demjenigen, was gemacht werden soll, um aus der Misere hinauszukommen. Und wenn einer ganz durchdrungen sein soll von einer solchen Sache, wie ich sie jetzt geltend gemacht habe, so ist es der Lehrer, so ist es derjenige, der die Jugend erziehen will, so ist es besonders derjenige, welcher das Kind hinaufführen will in das mehr reifere Alter des Knaben und Mädchens, die da sind, wenn wir von der 9. in die 10. Klasse hinüberkommen. Wir müssen die ganze Schule so einrichten, dass so etwas in der Schule drinnen sein kann, und dazu ist es notwendig, dass Sie die Sache noch tiefer auffassen, dass Sie vor allen Dingen jetzt bei diesem wichtigen Wendepunkt unserer Schule - das betrifft nicht bloß diejenigen, die in den höheren Klassen unterrichten, sondern das betrifft die ganze Lehrerschaft - sich klarmachen: es handelt sich darum, die ganze Pädagogik und die ganze Didaktik in ein elementares Gefühl zusammenzufassen, so dass Sie gewissermaßen in Ihrer Seele die ganze Schwere und Wucht der Aufgabe empfinden: Menschen hineinzustellen in diese Welt. Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß sein werden, dass wir gar keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen. Das können wir nur, wenn wir ganz tief und gründlich in der Lage sind, den Erzieherberuf zu erfassen. Und da müssen wir uns doch sagen: Was sind wir denn eigentlich als Menschen der Gegenwart? - Wir sind hingestellt worden in diese Gegenwart durch dasjenige, was an uns heranerzogen worden ist durch die Ereignisse der Zivilisation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Und, meine lieben Freunde, was sind Sie heute? Die einen haben Philologie, Geschichte gelernt, so wie man es gelernt hat in den Mittel- und Hochschulen vom Ende des 19. und im Beginne des 20. Jahrhunderts. Die anderen haben mathematisch-realistische Fächer gelernt. Der eine ist durch diese oder jene Methode des Singens und Turnens hineingewachsen in dasjenige, was er ist, der andere durch eine andere Methode. Der eine hat durch die besondere Vorliebe seiner Lehrerschaft mehr sich hineingefunden in ein aber mehr physisch-körperliches Auffassen des Gentleman, der andere hat sich mehr hineingefunden in dasjenige, was man nennen könnte den verinnerlichten Menschen, aber verinnerlicht durch den Intellektualismus. Dasjenige alles, was da an uns heranerzogen ist, das ist ja bis in die Fingerspitzen hinein unsere Menschheit geworden. Und wir müssen uns klar sein darüber, dass dasjenige, was da an uns heranerzogen ist, jetzt in unserer Zeit wirklich sich erfassen muß, dass sich das gründlich selber in die Hand nehmen muß. Und das kann nur durch eine über das Individuelle hinausgehende, zeitgemäße Gewissenserforschung geschehen. Ohne diese zeitgemäße Gewissenserforschung können wir nicht über dasjenige hinauswachsen, was uns die Zeit geben kann. Und wir müssen hinauswachsen über dasjenige, was uns die Zeit geben kann. Wir dürfen nicht Hampelmänner der Zeitrichtung sein, die sich am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Wir müssen vor allen Dingen durch ein Geständnis dessen, was wir aus der Zeitbildung heraus sein können, durch eine universelle Gewissenserforschung uns in richtiger Erkenntnis auf unseren Platz hinstellen. Und da fragen wir uns: Ist denn nicht alles, was wir geworden sind, infiziert von der materialistischen Gesinnung, die heraufgekommen ist? - Gewiß, guter Wille ist in mannigfaltiger Weise vorhanden. Aber dieser gute Wille ist infiziert worden von der Anschauung, die aus der naturwissenschaftlichen Weltanschauung hervorgegangen ist. Und aus dieser Anschauung ist dann auch dasjenige hervorgegangen, was wir über körperliche Erziehung kennengelernt haben. Im Grunde genommen wollte es die Menschheit immer vor sich selber verhüllen, dass sie eine große Gewissenserforschung notwendig hat, etwas, was gründlich aufwühlen sollte alles Innerliche mit der Frage: Wie stehen wir denn heute eigentlich als Ältere da vor der Jugend? - Und da kann sich keine andere Antwort als diese ergeben, wenn wir den Knaben und das Mädchen in dem Lebensalter betrachten, in dem sie sind, wenn sie in sexueller Beziehung reif werden, wenn wir sie uns entgegenkommen sehen nach diesem Reifwerden, dann müssen wir uns sagen, wenn wir tief innerlich ehrlich sein wollen: Wir wissen nichts mit ihnen anzufangen, wenn wir die Erziehung und den Unterricht nicht aus neuen Grundelementen heraus in die Hand nehmen. Wir stehen so da, dass wir eine Kluft aufgerichtet haben zwischen uns und dieser Jugend. Das ist die große Frage, die auch heute praktisch wird. Sehen Sie sich die heutige Jugendbewegung an, wie sie sich herausgebildet hat. Was ist sie anders als das Lebensdokument dafür, dass die Führung durch Erziehung und Unterricht, durch alles Experimentieren völlig verlorengegangen ist. Sehen Sie sich an, was geworden ist: mit einer rapiden Schnelligkeit hat sich in diesem Zeitmoment gerade diese Jugend, von der wir hier sprechen, innerlich gedrängt gefühlt, sich loszusagen von der Führung der Alten, um in einer gewissen Weise die Führung in die eigene Hand zu nehmen. Ja, dass das einmal heraufgekommen ist, dass in der Jugend dieser Trieb sich entfacht, das müssen wir nicht der Jugend zuschreiben. Zu diskutieren, wie das in der Jugend heraufgekommen ist, hat ein großes geisteswissenschaftliches Interesse, aber es hat zunächst nicht ein pädagogisches Interesse. Das pädagogische Interesse kann nur an der Tatsache haften, dass die Alten schuld gewesen sind, dass sie die Führerzügel verloren haben, dass sie das Verständnis verloren haben für die heranwachsende Jugend. Und da die Alten im Hause die Jungen nicht mehr aufhalten konnten, wurde die Jugend Wandervögel, suchte in einem Unbestimmten dasjenige, was die Alten nicht mehr geben konnten. Die Gedanken, die Worte waren stumpf geworden; man hatte für die heranwachsende Jugend nichts mehr, und so wanderte sie hinaus und suchte in den Wäldern, suchte im Zusammensein mit sich selbst dasjenige, was sie nicht finden konnten in den Worten, in den Vorbildern der Alten. Das ist eine der allerbedeutsamsten Erscheinungen unserer Gegenwart: die Jugend stand auf einmal vor einer großen Frage, die in allen vergangenen Zeitaltern doch in einer Weise von den Alten beantwortet worden ist und die jetzt von den Alten nicht mehr beantwortet werden konnte, weil die Sprache, die die Alten führten, von der Jugend nicht mehr verstanden wurde. Sehen Sie auf Ihre eigene Jugend zurück. Sie waren vielleicht braver als die Wandervögel, Sie waren vielleicht ein bißchen weniger aufs Wandern aus. Damit ich nicht ein besonderes Wort gebrauche: Sie haben sich gehalten, Sie haben so getan, als ob Sie auf die Alten hinhören würden, Sie sind geblieben. Und die anderen haben nicht mehr so getan, als ob sie auf die Alten hinhören würden; sie haben sich den Alten entrissen und sind hinausgewandert. Das haben wir gesehen. Wir haben auch das ganze Ergebnis der Jugendbewegung gesehen. Es entstand vor gar nicht langer Zeit in dieser Jugendbewegung ein Anschlußbedürfnis an sich selbst. Sie wollten durch sich, für sich selbst dasjenige finden, was die Alten nicht geben konnten. Sie wollten fort in die Natur. In einem Unbestimmten wollten sie dasjenige finden, was ihnen die Alten nicht mehr geben konnten. Und da haben sie den Anschluß gefunden, der eine an den anderen. Sie haben kleine Cliquen gebildet. Im Grunde genommen ist da eine merkwürdige Einzelerscheinung aufgetreten, die eigentlich ungeheuer lehrreich ist: die Alten haben die Führung verloren, sie sind Philister geworden. Die Alten haben es nicht geglaubt: in der Jugend ist die große Sehnsucht erwacht, die im Wandervogel da ist. Und was haben die Alten dazu gesagt, die nun selber etwas angestochen waren von der neuen Zeit? Die haben nicht gesagt, wir müssen jetzt suchen, in uns die Möglichkeit zu finden, in uns selbst den Anschluß zu gewinnen; wir müssen zu einer großen Gewissenserforschung vorrücken; wir müssen vom Alter her den Weg finden zur Jugend. - Sie haben etwas ganz anderes gesagt: Nun, da die Jugend nichts mehr von uns lernen will, wollen wir von der Jugend lernen. Und da sehen wir von den Landerziehungsheimen bis zu den anderen Dingen die Alten sich dem anpassen, was die Jugend will und fordert. Wenn Sie unbefangen die Sache, die entstanden ist, ins Auge fassen, so ist es doch nichts anderes, als dass die Alten geführt sein wollten von der Jugend, dass sie immer mehr und mehr kapituliert haben, dass sie mehr und mehr von ihrer Führung abgegeben haben, bis in einer besonders aufgeregten Zeit nicht aus der Lehrerschaft, sondern aus der Schülerschaft heraus gewählte Betriebsräte in den einzelnen Unterrichtsanstalten kamen. Nun, diese Phase, die die Sache der Alten angenommen hat, die ist wirklich in einer tiefen Weise zu bedenken. Aber, was ist bei der Jugend selber geworden? Die Jugend ist übergegangen vom Anschlußbedürfnis, von dem Sich-selber-Finden in der Clique zum seelischen Sich-Finden im Eremitentum. Die letzte Phase ist, dass sich jeder auf sich selbst zurückgewiesen fühlt, dass jeder einzelne eine gewisse Furcht hat vor dem Anschluß. Es ist eine atomisierende Sehnsucht eigentlich dasjenige, worinnen man noch mit einer Gewißheit gefühlt, gesucht und geglaubt hat, man finde nun etwas in der Welt. Das hat sich verwandelt in ein Brüten darüber: Wie kann es sein, dass man mit sich als Mensch nicht zurechtkommt? - Und das letztere Gefühl sehen Sie heute immer mehr und mehr heraufziehen, wenn Sie mit wachem Sinn auf dasjenige hinsehen, was heute überall geschieht. Sie sehen als heranwachsende Ungewißheit überall eine Zersplitterung der menschlichen Seelenkräfte. Sie sehen überall eine besondere Furcht, einen Horror vacui, so dass der Jugend graut, schaudert vor dem, was werden soll, wenn sie immer mehr und mehr heranwächst. Sie hat einen Horror vor dem Leben, in das sie hineinwachsen soll. Und demgegenüber gibt es im Grunde genommen nur eins, eben dasjenige, was ich nennen mochte: die große Gewissenserforschung. Und die kann nicht an Äußerlichkeiten hängen, sondern die kann doch nur auf das abzielen, dass man sich fragt: Ja, wie ist es eigentlich gekommen, dass wir, wenn wir die Führung haben wollen, mit den Kräften des Alters die Jugend gar nicht mehr verstehen? Wir können da auf ein ferneres Zeitalter zurückblicken, sagen wir auf die Griechen. Bei den Menschen von Griechenland, von denen uns die Geschichte erzählt, finden wir noch ein gewisses Verstehen der älteren Leute mit den jüngeren Leuten. Insbesondere können Sie im griechischen Leben, wenn Sie es suchen so recht zu begreifen, ein merkwürdiges Verstehen finden zwischen den Menschen, die so zwischen 14, 15 und am Anfange der Zwanziger jähre sind, also im 3. Lebensalter, und den Menschen in demjenigen Lebensalter, das ich als das 5. bezeichnet habe, das so zwischen den Achtundzwanziger- und Fünfunddreißigerjahren liegt. Das ist das Eigentümliche in der Griechenzeit und auch in der älteren römischen Kultur, dass sich die Leute, die 35, 36, 37 Jahre alt waren, mit denjenigen verstanden haben, die so alt waren wie heute unsere Volksschüler alt sind, und dass sich diejenigen, die in das reifere Alter eingetreten sind, besser verstanden haben mit denen, die in den Anfang der Dreißiger jähre eingetreten sind. Es war ein Verstehen zwischen den Älteren und der Jugend gerade nach Altersstufen. Es ist gar nicht leicht, hinter die Geheimnisse der Menschheitsentwickelung zu kommen; es ist tatsächlich so, dass wir im Griechen noch deutlich spüren können: Wenn der Jüngling, das Mädchen in das sexuell reifere Alter kommen, schauen sie hin auf diejenigen, die so 28, 29 Jahre alt geworden sind. Sie wählen sich von da aus diejenigen, die ihnen besser gefallen, denen sie nun frei nachstreben. Sie können nicht mehr einer selbstverständlichen Autorität folgen, aber gerade diesem Alter nachstreben. Und wir sehen das, indem die Menschheit sich heraufentwickelt durch das Mittelalter bis zur Gegenwart, immer mehr und mehr verschwinden. Die Menschen werden gewissermaßen durcheinandergewürfelt. Man möchte sagen: ein Chaos entsteht aus der geistgegebenen natürlichen Ordnung. Und da in der Welt ist das dann eine soziale Frage, innerhalb unserer Welt der Erziehung und des Unterrichtes, eine pädagogisch-didaktische Frage. Ohne da auf die ganzen Weltverhältnisse zu sehen, kommen wir wirklich nicht vorwärts. Ich möchte Sie ...