1. Einweisung
(„Soso, du bist also Kai, hm?“)
„So, Kai. Willkommen im Heim Sonnenthal1. Setz dich doch.“
Eine Frau, so um die 40, dachte ich mir, konnte es aber nicht so gut einschätzen, stand von ihrem Schreibtisch auf und tat diese typische Handbewegung, die einen Sitzplatz anbot. Sie machte auf mich einen doch sehr netten Eindruck, bis jetzt jedenfalls. Ich setzte mich auf einen der zwei Stühle, Frau Müller nahm ebenfalls Platz. Mein Päckchen nahm ich auf meinen Schoß, meine Mütze anstandshalber vom Kopf.
„Na? Wie geht’s dir denn? Tut dein Arm noch weh?“
„Nein. Nicht mehr. Geht schon wieder.“
„Klasse. Das freut mich sehr. Hast ja leider sehr viel durchmachen müssen in letzter Zeit. Das tut mir sehr leid.“
Ich gucke irritiert zu Frau Müller. Ich hatte so einen „Hey, wo her weiß die denn, was mit mir passiert ist?“ Gesichtausdruck, doch Frau Müller lächelte nur.
„Keine Angst, Kai. Ich habe es ihr erzählt. Und das ist auch gut so. Sie muss bescheid wissen über dich. Nur so kann sie dir optimal helfen.“
Ich nickte leicht und sah wieder zu ihr.
„Mein Name ist Frau Berger. Ich habe hier die Leitung im Heim. Und ich bin auch so eine Art Seelsorger für die Kinder. Wenn du also Probleme oder Sorgen hast, komm einfach zu mir. Ich werde dir dann helfen. Dafür bin ich da.“ Ich nickte wieder. Ich weiß, du hast schlimmes durchgemacht, und es wird am Anfang bestimmt nicht leicht werden. Aber wenn du dich erstmal hier eingewöhnt hast, dann wirst du dich bestimmt sehr wohl fühlen. Es sind ne Menge Kids in deinem Alter hier. Da findest du bestimmt schnell Freunde. Ganz sicher.“ Und wieder nickte ich und lächelte. Allerdings war ich mir da nicht so sicher. Das mit dem schnell Freunde finden. Schließlich versuche ich das schon seit 8 Jahren in der Schule. Und da hat es auch kaum funktioniert. Wie soll dass dann hier klappen? Ich senkte den Blick.
„Sieh mal, Kai. Soviel wird sich gar nicht ändern. Ich meine, sicher, du wohnst jetzt hier und so weiter, aber wenigstens gehst du weiter auf deine Schule. Und nachmittags kannst du im Prinzip auch das machen, was du möchtest. Auch außerhalb des Heims. Selbstverständlich gibt’s bei uns Regeln, an die du dich halten musst. Sonst funktioniert das Ganze nicht. Ist klar oder?“ Schon wieder nickte ich nur. Da gab mir Frau Müller einen Stups in die Seite. Ich erschrak leicht und sagte:
„Ja. Klar, Frau Berger.“
„Gut. Also, Aufstehen ist um 7 Uhr. Dann gibt’s Frühstück und ab zur Schule. Wenn du Schluss hast, melde dich bitte wieder am Eingang bei Herrn Schobert zurück. Auch wenn du das Gelände verlässt, musst du dich immer abmelden bei ihm. So wissen wir immer, wer da ist und wer nicht. Das ist ganz wichtig, hörst du? Du darfst es nicht vergessen.“
„Okay. Ist klar.“ sagte ich.
„Nach der Schule gibt’s Mittagessen und dann werden die Hausaufgaben gemacht. Danach darfst du bis 18 Uhr machen was du willst. Dann gibt’s nämlich Abendbrot. Und bis 22 Uhr ist auch Freizeit. Allerdings nicht mehr außerhalb des Geländes. Wir haben hier einen großen Aufenthaltsraum mit vielen Spielmöglichkeiten, oder einfach zum Quatschen. Ne große Wiese ist ebenfalls da. Basket- oder Fußball kannst du auch spielen. Unten im Keller steht ein Billardtisch und ein Dartautomat. Kosten tun die nix. Aber bitte pfleglich behandeln, sonst...“ Sie drohte scherzhaft mit dem Finger. Ich grinste.
„Ja, wie gesagt. Bis 22 Uhr und dann ist Licht aus. So läuft das hier. Ist gar nicht schwer, oder?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Um dir den Einstieg etwas leichter zu machen, hab ich Jasmin gebeten, dass sie dich ein wenig herumführt. Sie wird dir dein Zimmer zeigen, wo der Speiseraum ist und so weiter. Hast du noch Fragen?“
„Äh... nein, bis jetzt nicht.“
„Gut. Dann hol ich jetzt mal Jasmin. Kleinen Moment.“ Frau Berger stand auf und ging zur Tür hinaus. Frau Müller sah mich an und strich mir über die Haare.„Na siehst du“ sagte sie, „ist doch alles halb so schlimm, hm? Das wird schon.“ Ich hob die Schultern.
„Hab` ich da ein Zimmer für mich alleine?“ fragte ich nicht unneugierig. In meiner Fantasie sah ich schon eine kleine Hotelsuite mit großem Bett und Farbfernseher. Mit Dusche und Badewanne und all so was. Ach so, und einer Minibar natürlich.
„Nein. Wie kommst du denn darauf? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube es sind immer sechs Bett Zimmer. Also, drei Stockbetten halt. Und einen Waschund Duschraum auf jeder Etage.“ Ich kniff die Augen zusammen.
„Wie? So Gemeinschaftsduschen oder wie? Mit all den anderen nackig da...“
„Hey, hey. Du bist hier nicht im Hotel, junger Mann. Du wirst dich schon dran gewöhnen.“ Ich atmete laut durch. Dann ging die Tür auf und in Begleitung von Frau Berger kam ein junges Mädchen ins Zimmer. Sofort ging sie auf mich zu und streckte die Hand aus.
„Hallo. Ich bin Jasmin.“ Völlig perplex schüttelte ich ihre Hand und grinste blöde. Ich hatte eigentlich eine Erwachsene erwartet und keinen Teenager. Ich sah sie mir intensiv an. Sie hatte schöne, schulterlange, blonde Haare. Ihr blauen Augen strahlten hell und ihrer Stupsnase war so richtig niedlich. Dazu grinste sie frech.
„Na, nun geh schon mit ihr, Kai. Sie wird dir alles zeigen.“
„Äh... ja. Okay.“ Ich wurde leicht rot, setzte meine Mütze auf und erhob mich. „Deine Sachen kannst du erstmal hier lassen. Entweder du holst sie nachher ab oder wir bringen sie in dein Zimmer. Es hat die Nummer 134. Im ersten Stock. Je nachdem, wer schneller von uns beiden ist. Wir haben noch was zu besprechen. Frau Müller und ich. Wir sehen uns dann später. „Komm Kai. Ich führ dich rum.“
„Ja ich komme.“ Und so verließen wir das Zimmer.
„Was haben Sie für einen Eindruck von ihm?“ fragte sie Frau Berger und schlug die Beine übereinander.
„Na ja, einen recht guten muss ich sagen. Er wirkt auf mich eigentlich wie ein ganz normaler Junge. Es fällt mir fast schwer zu glauben, was ich alles über ihn gelesen habe.“ Sie rückte Kais Akte auf dem Schreibtisch zurecht, schlug sie auf und überflog ein paar Seiten.
„Tja, vielleicht ist er jetzt soweit, das er doch schon über den Dingen steht, Abstand gewinnt sozusagen.“ Frau Müller schüttelte den Kopf. „Nein, das glaub ich nicht. Das wirkt nur so. Meine Kollegin in Minden verfasste dies Akte. Ich habe nicht so ausführlich mit ihr über Kai sprechen können, aber er hat wirklich schlimmes durchgemacht. Und es ist ja auch nicht so lange her. So was steckt man nicht auf die schnelle weg. Meine Kollegin erzählte, Kai wäre wahnsinnig sensibel. Er sehne sich sehr nach Zuwendung und Geborgenheit. Die erhielt er nur von seiner Mutter, die ja leider schon so früh sterben musste. Nach dieser Zeit „verhungerte“ er fast vor fehlender Wärme. Und die Gewalt seitens seines Vaters ließ das Fass dann endgültig überlaufen. Umsonst wollte er sich nicht auf der Autobahn das Leben nehmen.“ Sie atmete hörbar durch und sagte nach einer kurzen Pause kopfschüttelnd:
„Und das mit 14.“
„Nun ja“ sagte Frau Berger, „ich werde ihn auf alle Fälle morgen erstmal zum Arzt schicken. Er soll ihn mal gründlich durchchecken.“
„Selbstverständlich. Ich bin davon überzeugt, das Sie das Richtige tun werden. Ist ja nicht ihr erster Fall.“
Die Heimleiterin lachte kurz.
„Ja. Da haben Sie recht.“ Frau Müller erhob sich und nahm Kais Tasche und das Päckchen auf.
„Ich denke, soweit ist alles klar. Ich bring die Sachen noch auf sein Zimmer. 134, richtig?
„Richtig. Das Zimmer mit Jan und Pierre.“ Frau Müller stockte kurz.
„Sind sie sicher? Gerade mit Jan und Pierre?“
„Tut mir leid. Ein anderes ist nicht mehr frei. Das war das einzige freie Bett.“
„Ich kenn die beiden noch von letzten Jahr. Ich weiß nicht...“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Das klappt schon. Da lernt er gleich, sich durchzusetzen.“
„Wie Sie meinen. Auf Wiedersehen, dann. Bis zum nächsten Mal.“
„Auf Wiedersehen Frau Müller.“
*
„Soso, du bist also Kai, ja?“ fragte Jasmin während wir nebeneinander hergingen.
„Ja. So ist es.“
„Und wie alt bist du?“
„14. Und du?“
„Ich bin schon 15. Wohn` schon immer hier.“ Ich bekam große Augen. „Echt? Wow. Dein ganzes Leben?“
„Klar. Meine Eltern wollten mich nicht haben. Ganz einfach. Ich war zwar schon in ein paar Pflegefamilien, aber das war auch nicht so das Wahre.“ „Warum nicht?“ fragte ich nicht unneugierig. Sie zuckte mit den Schultern. „Ach weißt du, es sind halt immer fremde Leute. So. Hier ist also der Speisesaal.“ Wir betraten einen großen Raum. Viele, lange Tische waren sauber mit je 10 Stühlen bestückt in 2er-Reihen aufgestellt. An der rechten Seite des Saals war an der Wand so eine Art riesiges Fensterbrett angebracht. Bestimmt einen halben Meter breit und 10 Meter lang. Das polierte Metall blitzte. Wie auf einer großen Rutschbahn auf dem Spielplatz.
„Guck. Du holst dir da dein Tablett und Besteck.“ Jasmin zeigte mit dem Finger auf einen Rollwagen, gleich neben der Tür. „Dann stellst du dich einfach an und bekommst dein Essen. Wo du dich hinsetzt, ist egal. Bis auf ein paar Plätze sind alle frei.
„Und welche sind das?“ Sie lachte. Das kriegst du schon noch raus. Komm weiter.“
Wir gingen wieder hinaus und betraten einen langen Gang mit vielen Türen, die rechts und links angebracht waren. Sie waren alle mit Nummer beschriftet.
„Hier sind die Mädchenzimmer. Im Erdgeschoss sind nur Mädchen. Ihr Jungs seid im ersten Stock.“ Abwechselnd von links nach rechts schauend liefen wir an den Zimmern vorbei und betraten dann über eine Treppe den ersten Stock.
„Hier sind also eure Zimmer. Ich weiß, ganz schön viele Türen. Also vergiss ja deine Zimmernummer nicht.“ Sie grinste wieder.
„Dort hinten sind die Waschräume, Klos und so weiter. Wir Mädchen haben natürlich unsere eigenen Duschen und so. Ist ja klar.“
"Logo“ sagte ich und lächelte.
„Wenn du nach unten gehst, am Speisesaal vorbei, kommst du in den Aufenthaltsraum. Da gibt’s auch Fernsehen und so. Ach so, es gibt pro Etage, also Erdgeschoss und erster Stock einen Computer mit Internet. Der steht immer ganz hinten im letzten Zimmer. Ist aber abgesperrt. Du musst dich in die Liste im Aufenthaltsraum eintragen, wenn du surfen willst. Wenn du dran bist, kriegst du dann den Schlüssel. Alles klar?“ „Denke schon ja.“
„Na dann viel Spaß noch. Ich muss zu einer Freundin. Tschüß.“
„Tschüß. Ach..., vielen Dank... Jasmin“ rief ich ihr noch nach und hob kurz die Hand. Aber da war sie schon um die Ecke verschwunden.
134... das war meine Nummer. Die darf ich nicht vergessen, sagte sie. Ich musste grinsen. Ich drehte mich um und las 136. Also zwei Zimmer daneben. Ich ging eine Tür weiter und las 137. Verdammt. Falsche Richtung. Ich machte kehrt und lief zurück. Ob meine Sachen schon dort waren, fragte ich mich. 136... 135... 134... da ist es. „Mein“ Zimmer. Ich fing an zu schwitzen. Klopfen? Sofort reingehen. Ist doch „mein“ Zimmer, oder? Ich legte die Hand auf die Klinke.
2. Zimmer 134
(Bist das einzige Baby hier...)
Langsam öffnete ich die Tür. Ich zitterte ein wenig. Mein Herz schlug schnell und heftig. Ich wusste nicht genau, vor was oder vor wem ich plötzlich solche Angst hatte. Aber sie war da. So ein verdammt komisches Gefühl. War es überhaupt Angst? Ich wusste es nicht. Auf alle Fälle war mir sehr unwohl.
Waren meine Sachen schon da? Musste ich sie selber holen? Finde ich dann wieder zu meinem Zimmer zurück? Was ist, wenn ich mich dann verlaufe? Wäre extrem peinlich. Lauter solch wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wenn sie mich nun nicht mögen? Ach was. Blödsinn. Sei einfach du selbst. Dann wird das schon werden. Sind doch auch genauso Teenager wie du. Und keine Übermenschen. Mach dir keine Sorgen.
Ich lugte zuerst durch den Türspalt, konnte aber nicht so richtig erkennen, ob jemand da war. Und dann nahm ich allen Mut zusammen und öffnete die Tür ganz. Es war niemand im Zimmer. Ich ging hinein und sah mich um. Da standen drei Stockbetten. Zwei davon waren hintereinander l...