Von hinten gesehen
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Von hinten gesehen

Streifzüge durch die Geschichte

  1. 204 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Von hinten gesehen

Streifzüge durch die Geschichte

Über dieses Buch

Der Kirchenhistoriker Dieter Leutert fasst in diesem Buch eine Anzahl seiner Texte aus über 40 Jahren publizistischer Tätigkeit zusammen. Es sind überraschende Interpretationen, die er in vier Hauptkapiteln vorlegt: I. Geschichte(n) – II. Figuren – III. Religionen – IV. Perspektiven. Der Autor spannt den Bogen vom Untergang Nordafrikas und Vorderasiens als christlichem Kulturraum über die Reformation und Menschen wie Martin Luther, Kaspar von Schwenckfeld, Ignatius von Loyola, John Wesley und Rousseau – bis Karl Marx und Friedrich Engels und in die Gegenwart. Er wendet sich den großen Weltreligionen zu und entwirrt Geschehnisse, die er auf verblüffend klare Strukturen reduziert. In seinen Texten zu Deutschland und Europa geht es um Deutschlandentwürfe nach 1945, um 'Morbus Stasi', um die Frage 'Brauchen Staaten eine Leitkultur?', um die imperiale Logik und die Bibel, um Überlegungen zur christlichen Sozialismussicht, um Rosa Luxemburg und Che Guevara – und um die Perversion des Opfers im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. 'Von hinten gesehen' ist nicht der Rückblick auf längst Vergangenes, sondern zeigt sich aktuell und zukunftsweisend. Intellektuell und sprachlich beeindruckend – und doch eher schlicht und bescheiden in Form gefasst. Ein Plädoyer für den Perspektivwechsel.

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Information

Die Geschichte spricht das letzte Wort. Deutschlandentwürfe nach 1945: Jakob Kaiser, Kurt Schumacher, Konrad Adenauer

Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 war die große, ganz unerwartete Überraschung für fast alle Politiker und Historiker. Man braucht nur einen Blick in gängige Publikationen der letzten Jahre zu werfen (Propyläen-Weltgeschichte, die Schriften Marion Gräfin Dönhoffs oder Sebastian Haffners), um zu erkennen: Die Teilung galt als gegeben, als faktisch endgültig.
Der 3. Oktober 1990 hat all jene Darstellungen, wenn nicht entwertet, so doch als Beispiele für die prinzipielle Unmöglichkeit geschichtlicher Vorhersagen erwiesen. Im Folgenden soll der Bogen geschlagen werden in die Nachkriegsjahre, als deutsche Politiker versuchten, dem Schicksal in die Speichen zu greifen und die Spaltung zu verhindern. Es gehört – wenn wir uns den Zynismus erlauben wollen – zu den Witzen der Weltgeschichte, dass ausgerechnet derjenige, der allen Einheitskonzepten absagte, das Fundament für die spätere Wiedervereinigung legte: Konrad Adenauer.
Zwischen 1945 und 1947 war die Deutschlandpolitik sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion noch verschwommen, ja widerspruchsvoll. Unter Präsident Roosevelt hatten linke Politiker starken Einfluss. Sie strebten nach einem ‚Karthago‘-Frieden. Ihren extremen Ausdruck fand diese Politik im Morgenthau-Plan (Umwandlung Deutschlands in einen Kartoffelacker), gemäßigter artikulierte sie sich in der grundlegenden Anweisung für die Besatzungspolitik JCS 1067 vom 26. April 1946: gemeinsame Zusammenarbeit mit „unserem heldenhaften sowjetischen Verbündeten“ zur Beseitigung von Militarismus, Junkertum und Großkapital.
Von solchem Geist war noch der Kontrollratsbeschluss vom 25. Februar 1947 getragen: Preußen sei aufzulösen, weil es „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist“. Die Anweisung JCS 1067 hätte, strikt angewandt, zur Feindschaft zwischen Deutschen und Amerikanern und zum wirtschaftlichen Ruin der amerikanischen Zone geführt.
Im Spätsommer 1946 erkannten General Clay und seine Mitarbeiter, dass diese Politik nicht nur inhuman, sondern auch wirtschaftlich und politisch unsinnig war. Sie hätte vom amerikanischen Steuerzahler finanzierte Lebensmitteleinfuhren nötig gemacht, ja die Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs Westeuropas und einer kommunistischen Machtübernahme heraufbeschworen. Clay und andere amerikanische Offiziere begannen, die Direktive JCS 1067 still zu sabotieren. In Washington sank der Einfluss der ‚Karthago‘-Schule: 1947 wurde George Marshall Außenminister, er übernahm George F. Kennans Eindämmungs-Doktrin und etablierte 1948 das Europäische Wiederaufbau-Programm (Marshallplan). Im Herbst l947 beschloss die amerikanische Regierung, die Gründung eines westdeutschen Staates zu betreiben, der mit den Westmächten eng verbunden sein sollte. Seit Herbst 1946 folgten die Engländer dem amerikanischen Kurs, seit 1948 auch die Franzosen (an die Stelle ihres ursprünglichen Planes der Zerstückelung Deutschlands und der Verhinderung zentraler Verwaltungsbehörden trat mit Außenminister Robert Schuman die Versöhnung im Geiste eines ‚Neuen Europas‘).
Die Rekonstruktion des sowjetischen Konzepts ist angesichts der Quellenlage vorerst schwierig. Wahrscheinlich gab es auch bei den Sowjets eine Anfangsphase des Schwankens. Eine von Oberst Tulpanow, dem politischen Chef der Sowjetischen Militäradministration (SMA), und einigen Spitzenpolitikern unter dem Politbüromitglied Shdanow gebildete Gruppe soll eingesehen haben, dass Rassenhass, und Antikommunismus in Deutschland viel zu groß seien, als dass eine Machterweiterung über die sowjetische Zone hinaus – formell: die Beibehaltung der deutschen Einheit – reale Chancen hätte.
Eine andere Gruppierung, mit Botschafter Semjonow, dem Vertreter des Außenministeriums in Berlin, und unter maßgebendem Einfluss des Sicherheitschefs Berija „setzte einige Hoffnung auf die Schaffung zentraler deutscher Organe, die sie entweder zu beherrschen hoffte oder die sie zumindest verwenden konnte, die sonst unvermeidliche Integration Westdeutschlands in den antisowjetischen Block ... zu verhindern“ (Klaus Epstein). Stalin scheint eher dieser Konzeption zugeneigt zu haben. Erst 1955 hat die Sowjetunion sie endgültig aufgegeben. Ihre wiederholten Vorstöße zur Herstellung der deutschen Einheit litten an dem Mangel an innerer Konsequenz, an überzeugender Konkretheit und Geradlinigkeit. Man wich in Detailfragen aus, man provozierte bei der Gegenseite das Misstrauen, eine gesamtdeutsche Lösung im sowjetischen Sinne laufe auf eine Volksdemokratie ost- oder südosteuropäischen Typs hinaus. Freilich hatten wohl auch die Sowjets die Sorge, dass eine tatsächlich freie deutsche Regierung letztendlich von Antikommunisten beherrscht sein würde. Kurz, die Sowjetunion steckte in dem Dilemma, entweder ein Deutschland zu haben, das von ihr abdriftete, oder ein solches Maß an Sicherungen einzubauen, dass den Deutschen die Moskauer Vorschläge eher als Schreckgespenst erscheinen mussten.
Nur vor diesem Hintergrund sind die deutschen Konzepte 1945 bis 1947 zu verstehen. Sie sind verbunden mit den Namen Jakob Kaiser, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer. Für jeden deutschen Politiker war damals das Agieren extrem schwierig. Einmal wegen der Unausgereiftheit der Deutschlandpolitik der Siegermächte, zum anderen und vor allem, weil deutsche Politiker kaum eine Chance hatten, beachtet oder gar respektiert zu werden. Sie hatten faktisch keinen Handlungsspielraum.
Die interessanteste Konzeption stammt von Jakob Kaiser (vor 1933 führender Gewerkschafter, dann im Widerstand gegen Hitler, verfolgt, von 1945 bis 1948 Vorsitzender der CDU in der Ostzone). Jakob Kaiser, der die Entwicklung im Osten hautnah miterlebte, versuchte, die wohl einzige Möglichkeit auszuschöpfen, die drohende Spaltung Deutschlands und die Sowjetisierung der Ostzone abzuwenden. Sein Plan war ein blockfreies, neutrales Deutschland, das zur westlichen Wertegemeinschaft gehören und am Marshallplan teilnehmen sollte, aber als Brücke zwischen Ost und West fungieren konnte, im Innern in der Gestalt eines „christlichen Sozialismus“ („ohne westlichen Kapitalismus und östlichen Totalitarismus“). 1947 schlug er eine „Nationale Repräsentation“ vor, einen zentralen deutschen Konsultativrat aus den Führern aller Parteien als Vorstufe einer gesamtdeutschen Regierung.
Jakob Kaiser wurde am 20. Dezember 1947 von den Sowjets abgesetzt. Im Grunde saß er zwischen allen nur denkbaren Stühlen. Die Westmächte hielten sein Programm für anmaßend. Adenauer misstraute einem christlichen Sozialismus, der weder Fisch noch Fleisch war, und hielt überdies einen neutralistischen Balanceakt für selbstmörderisch. Schumacher hätte sich nie neben Pieck und Grotewohl gesetzt. Für Moskau war Kaiser schlicht ein Feind, weil er den Marshallplan wollte und in die Politik der SMA hineinkritisierte (z. B. Ablehnung des ‚Volkskongresses‘ im Dezember 1947, auf dem die Politik der USA verurteilt werden sollte). Kaiser scheiterte am Kalten Krieg. Hans Schwarz urteilt:
Für die deutsche Nachkriegspolitik war Kaisers Scheitern ein Testfall und eine Art Alibi. Wenn es nicht einmal ihm, dem relativ schmiegsamen kompromißbereiten, Rußland mit Sympathie begegnenden Propagandisten einer Blockfreiheit Deutschlands gelang, die Sowjetunion von dem Vorhaben abzubringen, ganz Deutschland oder zumindest ihre Besatzungszone zu sowjetisieren, so war den Möglichkeiten dieser Politik damit das Urteil gesprochen.
Das Deutschlandkonzept Kurt Schumachers, des Vorsitzenden der SPD in den Westzonen, ähnelte dem Jakob Kaisers: ein neutrales, demokratisch-sozialistisches Gesamtdeutschland als Teil einer dritten Kraft zwischen dem kapitalistischen Westen und der kommunistischen Sowjetunion. – Nach dem Krieg konnten sich nur wenige Politiker vorstellen, dass der Wiederaufbau Europas anders als sozialistisch gelingen könnte. Zu den wenigen gehörte Ludwig Erhard.
Eine interessante Nebenvariante von Kaiser und Schumacher lieferte Rudolf Nadolny (1928 bis 1933 Botschafter in der UdSSR), den einige für den sowjetischen Kanzlerkandidaten in einer deutschen Regierung hielten. Immerhin wurde er 1946 von Botschafter Semjonow in Karlshorst empfangen und konnte 1947 seine Gedanken schriftlich Molotow unterbreiten. Nadolny versuchte die Sowjets davon zu überzeugen, dass ein vereinigtes, freundschaftlich verbundenes, aber nichtkommunistisches Deutschland ihren Interessen besser diente als eine kommunistische Ostzone. Zu den praktischen Einzelvorschlägen Rudolf Nadolnys gehörte, dass die Privilegierung der SED aufgehoben werden sollte.
Adenauers Konzept ist allgemein bekannt: Besser ein halbes Deutschland ganz als ein ganzes halb (oder schließlich gar nicht!) – mit der Hoffnung, später den anderen Teil zurückzubekommen. Einen anderen Weg konnte es wohl nicht geben. Man hat Adenauer vorgeworfen, ‚rheinbündisch‘ zu denken, kein Sensorium fürs ganze Deutschland zu haben. Er soll vor 1933, wenn er von Köln nach Berlin fuhr, die Vorhänge zugezogen haben, wenn die Bahn die Elbe passierte. Solche Geschichtchen dürfen nicht überinterpretiert werden. Der Tatsachenmensch Adenauer sah, dass nur die unzweideutige Option für die Marktwirtschaft und den Westen Zukunft bringt. Mit Geschick und Zähigkeit hat er Stück für Stück die deutsche Souveränität zurückgeholt.
Golo Mann bemerkt, es hätte damals eines Odysseus bedurft, um durch die Scylla und Charybdis des Kalten Krieges hindurch, Ost und West gleichermaßen überlistend, die Einheit zu gewinnen. Solch ein listenreicher und phantasievoller Odysseus sei Adenauer aber nicht gewesen. Wirklich nicht? War er nicht vielmehr ein Nüchterner, bei aller Schläue kein Spieler, einer, der allein vom rational Machbaren ausging? Wäre das Volk 1945 bereit gewesen, erneut einem Spieler zu folgen? Golo Mann räumt selbst ein, dass die Schwierigkeiten einer deutschlandpolitischen Odyssee jeder Vorstellung spotteten. „Wir entscheiden nicht, ob diese Hoffnung, diese Möglichkeit überhaupt real war; vielleicht war sie es von Anfang an nicht ...“ Dass Konrad Adenauer spätere sowjetische Angebote nicht prüfte, ist ihm schwer vorgeworfen worden. Wahrscheinlich konnte er gar nicht anders; konnte und wollte er nicht das Risiko westlichen Misstrauens eingehen. Wie dem auch sei, die Geschichte spricht das letzte Wort, und sie hat ihm Recht gegeben. Zur Ironie der Geschichte gehört es, sich vorzustellen, wie Jakob Kaisers und Rudolf Nadolnys Adressat heute deren Vorschläge aufnehmen würde.

Morbus Stasi

Die Psychiatrie ist um eine neue Krankheit bereichert: den Morbus Stasi – beschränkt allerdings auf Deutschland. In über 40 Jahren kommunistischer Herrschaft ist mit deutscher Gründlichkeit eine gigantische Aktenpyramide aufgetürmt worden: Spitzelberichte noch und noch, Protokolle von Verhören, Lageberichte, Analysen, Anweisungen ...
Eine eigene, nur schwer entschlüsselbare Terminologie durchwuchert das Monstrum. Von den Kreisstädten über die 14 Bezirksmetropolen bis hinauf zur Berliner Zentrale: riesiger Verwaltungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit. Kein anderes Land des ‚sozialistischen Lagers‘ hatte solchen Überwachungsgiganten aufgebaut. Und die Gestapo (Geheime Staatspolizei) der Nazis gar nimmt sich dagegen eher winzig an.
Gemeinden, Schulen, Betriebe, Büros, Theater, Museen, Hotels, Kirchen – überall wurde gelauscht, überwacht, wurden heimlich Fäden gezogen. Das System war perfekt und versagte doch kläglich schon bei der ersten Bewährungsprobe, dem Aufstand vom 17. Juni 1953. Schließlich erstickte es an sich selbst und fiel im Herbst 1989 wie ein Kartenhaus zusammen. Was bleibt, ist der Gestank, ist der grassierende Morbus Stasi: täglich neue Enthüllungen und Verdächtigungen, täglich neue Angst, täglich neu die Frage: Bin ich‘s? Erwiesenermaßen unschuldige Menschen haben sich das Leben genommen. Ein Heilmittel scheint es nicht zu geben. Trotzdem könnten einige sachliche Überlegungen punktuell helfen.
Wer den real existierenden Sozialismus nicht am eigenen Leibe erfahren hat, begreift kaum, dass die eigentliche Macht immer und überall bei der Partei lag. Der Parteisekretär war allmächtig. Alle staatlichen ‚Organe‘ einschließlich Staatssicherheitsdienst, Polizei und Armee, wurden – wenngleich im Schatten – von der Partei gelenkt. Die Parteileitungen wiesen auf allen Ebenen noch einmal, wie in einem verkleinerten Spiegelbild, die Struktur des Staats- und Wirtschaftsapparates auf (da gab es Abteilungen für Landwirtschaft, Volksbildung, Kultur, Kirchen, Verkehrswesen, Handel, Sicherheit usw.). Dort, nur dort wurde wirklich regiert, oft bis in die Details hinein. Es gab keinen Staat im Staate wie etwa die spanische Inquisition oder die Opritschnina Zar Iwans IV. Nur aus Bequemlichkeit wird heute die Stasi zum Sündenbock gemacht. Die Parteifunktionäre waren die eigentlich Verantwortlichen. Doch auch sie waren Menschen mit ihrem Widerspruch, auch unter ihnen gab es Anständige, redlich um Hilfe und Verständnis bemüht.
Die Stasitexte, mit denen wir heute überschwemmt werden, erforderten zur richtigen Interpretation sorgfältigste Hermeneutik (Wissenschaft der Textauslegung). Leider haben die meisten Enthüller und Leser wenig oder keine Ahnung von Textwissenschaft. Es gibt Hermeneutiken für die Bibel, aber keine für Stasidokumente. Viele Texte wollen primär nicht informieren, sondern performieren. Mancher Informant wollte verschleiern oder gar täuschen. Es gab zum Beispiel Pastoren, denen sich Gemeindeglieder, zum Spitzeldienst erpresst, in ihrer Not offenbarten. Vor den ‚Einbestellungen‘ ließen sie sich vom Pastor sagen, was sie ‚berichten‘ sollten – der Auszuspähende als Späher.
Was macht man als Pastor, wenn ein Ministerialbeamter an der Tür steht, seinen Dienstausweis zeigt und höflich bittet, eintreten zu dürfen? Wenn dann Fragen kommen wie: „Wie geht es Ihnen?“, „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, „Werden Ihnen staatlicherseits Schwierigkeiten gemacht?“, „Können Sie uns etwas über Ihren Glauben sagen? Uns ist das eine andere Welt, aber wir möchten Sie besser verstehen lernen.“ Stasi-Offiziere kamen auch getarnt als Polizeibeamte. Konnte man sie einfach hinauswerfen? Die Alternative wäre nur die Republikflucht gewesen. Doch dies wünschten die deutschen Brüder und Schwestern westlich der Elbe ja auch nicht.
Gewiss, es gab zwei Möglichkeiten, sich zu schützen: kein Gespräch ohne Zeugen; kein Eingehen auf die Forderung nach Verschwiegenheit. Von entscheidender Bedeutung war die zweite Sicherung. Geheimdienste gedeihen nur im Geheimen. Sobald man Vertraulichkeit fest ablehnte, ließ einen die Stasi fallen wie eine heiße Kartoffel. Doch wer war so klug? Wer hatte gute Freunde, zu denen er in der Not gehen, von denen er Rat holen konnte? Wer dachte immer an die weise Regel, die Luther 1521 in Worms praktizierte: Bedenkzeit erbitten, Zeit, in der man sich sammeln, einen Entschluss vorbereiten konnte? Viele wurden bedroht und erpresst, wussten nicht, dass die Drohungen der Geheimdienste meist Bluff sind.
Die Kirchen stehen im Zwielicht. Eben noch mit dem Lorbeer der ‚friedlichen Revolution‘ geschmückt, sehen sie sich heute dem Verdacht ausgesetzt, Stasiagenturen gewesen zu sein. Die Hysterie ist kaum noch zu überbieten. Das Verhalten der Kirchen in der DDR ist nur von der Theologie her zu verstehen. Christen versuchen, der Bibel zu folgen. Die aber sagt zum Staat weder ein absolutes Nein noch ein absolutes Ja. Sie akzeptiert den Staat prinzipiell, auch den Staat Neros oder Hitlers, stellt aber im konkreten Einzelfall Gottes Gebot über Menschengebot. Im Konfliktfall bleiben der Kirche drei Möglichkeiten: das mahnende Wort, die Distanz (bis zur äußersten Distanz), die Verweigerung. Alle drei Handlungen tragen das Risiko des Martyriums.
Die Kirchen konnten es nicht als ihre Aufgabe ansehen, zum ‚Marsch auf Berlin‘ zu blasen. Der Weg zwischen dem absoluten Ja und dem absoluten Nein war schwierig, ist manchmal missglückt und verleitet den, der die theologischen Voraussetzungen übersieht, zum Missverstehen. Wer Freiräume bewahren und erweitern wollte, kam um Gespräche nicht herum.
Politiker und Journalisten, die sich nun als Moraltrompeter gebärden, vergessen ihr Antichambrieren in Berlin und Leipzig. Es gehörte zur Imagepflege, oft von Honecker oder wenigstens einem Politbüromitglied empfangen zu werden. Strahlenden Gesichts ging man aufeinander zu oder ließ sich im Gewandhaus ein Ständchen bringen. Keiner ahnte ja, wie schnell dann alles kommen sollte ...
Natürlich ging es um Frieden, um Koexistenz, vor allem um die Bewahrung und Erweiterung von Freiräumen (siehe oben)! All das ist legitim. Aber wir sollten von ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Hinweise
  2. Vorwort des Herausgebers
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. I. Geschichte(n)
  5. II. Figuren
  6. III. Religionen
  7. IV. Perspektiven
  8. Anhang
  9. Biografisches
  10. Nachweis der Erstveröffentlichungen
  11. Danksagung
  12. Impressum