1 Hinführungen
1.1 Menschen beten
Olaf Haladhara Thaler
Unterschiedlichste Rituale, eine Fülle von Gebärden und zahlreiche Farben wirken auf den Besucher ein, wenn er die Tempel der Welt besucht. Auf wunderbare und höchst vielfältige Weise wird von den Menschen immer der gleiche Gott geliebt, verehrt und angebetet.
Aus der Enge und Intoleranz des eigenen Dogmas, der eigenen religiösen Vorstellung, der Gewöhnung an ein bestimmtes Brauchtum oder der parteipolitischen Prägung herausscheinen die Unterschiede jedoch oft unüberwindlich zu sein.
Das Gebet, das Gespräch mit Gott, eint die Menschen auf sanfte, fast unmerkliche Weise. Es ist ein Rufen des Herzens, nicht etwa der Stimme oder der Lippen. Im Inneren ertönt es, Gott hört es. Im Gebet begegnen sich sinnbildlich jene, die zur gleichen Stunde und mit gleicher Intention beten. Es rührt an ihre Fähigkeit zu Liebe und Hingabe. Im Gebet sucht der Mensch die Begrenzungen zu überwinden, die ihm von seiner Umgebung, seinen sozialen Lebensbedingungen, der Gesellschaft, in der er lebt, und vor allem von ihm selbst, von seinen eigenen Vorlieben, Abneigungen und Ängsten gesetzt werden, um seinen Platz im Kosmos zu finden und in Beziehung zur allumfassenden Kraft zu gelangen. Nicht Gelehrsamkeit und hohe Bildung haben Einfluss auf die innere Kraft eines Gebetes. Ein Gebet ist ein zutiefst persönliches Erlebnis und deshalb vermag es kein noch so großer Zweifel, von außen herangetragen, den Betenden vom Beten abzuhalten. Im Gebet spricht der Mensch den Herrn des Weltalls aus geheimnisvoller Herzensnähe mit Du an, er sagt Ihm was ihn drückt, bewegt und auch beglückt. Er kann ein uraltes Gebet oder Mantra nutzen oder spontan improvisieren. Ein Gebet ist immer gültig. „In welcher Form auch immer man den Herrn kennt, so spricht man von Ihm. Daran ist nichts Falsches, denn alles ist in Gott möglich“, schreibt der indische Vaishnava Krishnadas Kaviraj Gosvami in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Und dieses „alles“ bezieht sich auf alles und auf alle, die Guten wie die Bösen.
Wir finden in der Welt unterschiedliche Praktiken des Betens. Gemeinsam ist ihnen ihr Zweck: dem Menschen auf seinem Weg zu einer bewussten Selbstbesinnung hilfreich zu sein. „Wie versöhnlich und wunderbar ähnlich sich der in Schweigen verharrende Indio, der gegen Mekka kniende Moslem, der in Reglosigkeit verweilende Zen-Meister, der das heilige Mantra summende Hindu, der mit gesenktem Haupte das Herzensgebet verrichtende Ostchrist, der den Rosenkranz abtastende Katholik, der andächtig das Ave Maria flüstert, und der Quäker, der schweigend seine Andacht hält, einander doch sind“, schreibt der Arzt Wladimir Lindenberg. Nicht alle Religionen verehren einen persönlichen Gott. Und doch sind diese Menschen keine Materialisten oder verneinen alle Glaubenslehren. Sie sind ebenso andächtig und ergeben sich, verneigen sich vor dem lebendigen Wirken des Alls.
Swami B. R. Shridhara aus Indien erzählte, wie er einmal, während seiner Studentenzeit die Universität verließ und auf einen nahegelegenen Hügel stieg. „Dort traf ich einen Sadhu und ich fragte ihn: ‚Hast du Gott gesehen? Kannst du mir Gott zeigen?‘ Der Sadhu antwortete auf so berührende und erleuchtete Weise: ‚Siehst du nicht? Siehst du Ihn nicht? Schau auf all die Dinge, die Umgebung, die Bäume, das Wasser, die Aussicht, all diese Dinge. Betrachte die gesamte Umgebung. Kannst du Ihn nicht fühlen? Kannst du Ihn nicht sehen?‘ Er sprach in einer solch erleuchteten, inspirierenden Weise, dass ich in diesem Moment das Bewusstsein hinter allem sah. Ich fand, dass hinter allem, was immer auch vorhanden sei, eine spirituelle Existenz anwesend ist. Auf solch eindrucksvolle Weise sagte er: ‚Siehst du Ihn nicht? Betrachte den Himmel, die Bäume, Er ist dort, Er ist überall. Siehst du nicht? Nur Er ist da.‘“
Am ehesten beten Menschen in der Not. „Leid ist der beste Kutscher zur Vollkommenheit“, schrieb Angelus Silesius. Menschen die auch im Überfluss der Freude beten, lehren dadurch, dass die Verbindung mit der helfenden göttlichen Kraft auch ohne Unterbrechung bestehen kann. Sie betreten im Gebet einen unsichtbaren Tempel, in dem sie sich bewusst der höheren Kraft ergeben.
Außer Dir habe ich keine Hoffnung, und ich hänge einzig von Deinem Willen ab. Ich lebe und sterbe in Übereinstimmung mit Deinem Willen.
So betete Bhaktivinoda Thakura, der in neuerer Zeit das Verständnis der Bhakti-Philosophie, der indischen Gottesliebe besonders tiefgründig vermittelte.
Höchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, sichere Hoffnung und vollkommene Liebe. Gib mir, Herr, das rechte Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle.
So betete der große Heilige der katholischen Kirche, Franz von Assisi.
Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, von den deutschen Nationalsozialisten zum Tode verurteilt, betete in der Todeszelle:
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Die Muslima Rabea Adwaia betete:
O Gott, was Du mir von der Welt geben willst,
gib es Deinen Feinden,
und was Du mir im Himmel geben willst, gib es
Deinen Freunden, denn Du selber genügst mir!
Wie verwandt klingen dazu die Worte des jüdischen Rabbi Salman, die er einmal mitten im Gebet sprach:
Ich will nicht Dein Paradies, ich will nicht Deine
kommende Welt,
ich will nur Dich allein!
Buddha empfahl seinen Nachfolgern:
Erhebe dich, zögere nicht!
Folge dem reinen Leben.
Wer der Tugend folgt, der lebt im Glück.
Einige der Betenden sprechen, denken und fühlen in Begriffen der hingebungsvollen Theologie, andere in Begriffen unpersönlicher Moralgesetze. Gemeinsam ist allen das Bestehen auf der Notwendigkeit sich vom Eigennutz zu lösen. Demut und Mitgefühl gegenüber jedem Lebewesen sind in allen Glaubensrichtungen die Grundlagen auf dem Weg zu geistiger Reife.
Die säkularisierte Welt mit ihrer Hast, ihrem Lärm, ihren Ablenkungen, Versprechungen und Oberflächlichkeiten hält den Menschen leicht davon ab, die Not anderer zu spüren. Sie hält ihn jedoch auch von dem wichtigsten Weg fern, dem Weg zu sich selbst, und da das Selbst ein Kind Gottes ist, verliert er auch den Weg zu Gott.
Der Materialismus, der mittlerweile die gesamte Erdbevölkerung erfasst hat, vertritt eine Abwendung von dem, was früher und auch heute für Milliarden Menschen unantastbare Wirklichkeit ist: Gott, Seine Gebote und die damit verbundenen moralischen und geistigen Werte. Ein fast unvorstellbarer Aufschwung der Wissenschaft und Technik seit Mitte des 19. Jahrhunderts, führte zu deutlichen Lebensveränderungen der Menschen in jeder Hinsicht. Die Wissenschaft geriet in der Folge mehr und mehr in den Bann materialistischer Anschauungen, in denen der Mensch an die Spitze der Schöpfung rückt. Fast unbemerkt erhielt der Raubbau an der Natur ein weltanschauliches Fundament. Der Materialismus ist in gewissem Sinn nicht nur Grundlage für eine Staatsform, sondern auch Religion geworden, eine Religion ohne Gott und ohne Geist.
Wir sind überzeugt, dass durch den materiellen Fortschritt niemand mehr zu hungern und zu frieren braucht. Die sozialen Sicherungssysteme sorgen dafür. Ob wir nun einer Kirche angehören oder nicht, wir legen damit die eigene Verantwortung in die Hände entsprechender Institutionen. Wir entfernen uns weit von der Weisheit der Religionen, die uns in den Mitmenschen und den Mitgeschöpfen Schwestern und Brüder erkennen lässt, Gottes Kinder.
Der Verlust der echten liebenden und dienenden Verantwortlichkeit ermöglichte es, dass im Zeitalter des „Humanismus“ und der „sozialen Gerechtigkeit“ die unerhörtesten Verbrechen an der Menschheit, den Tieren und der Natur begangen wurden und werden. Aldous Huxley sagte: „Es steht fest, dass die mystische Schau, das unmittelbare und intuitive Gewahren Gottes das Endziel des menschlichen Lebens ist, dass eine Gesellschaft nur insofern gut ist, als sie ihren Mitgliedern die Beschaulichkeit ermöglicht; und dass mindestens eine Minderheit von Beschaulichen für das Wohl jeder Gesellschaft unerlässlich ist.“
Verantwortungslosigkeit hat aber die Antwortlosigkeit im Gefolge.
Der Verlust der eigenen „Mitte“ ist ein Symptom unserer Zeit. In der Andacht, im Gebet sehen die weisen Männer und Frauen aller Kulturen nicht nur ein Gegengewicht, sondern den Weg zur Überwindung des kleinen Alltags-Ich, um eintauchen zu können in den weiten, bergenden Schoß Gottes, des Paramatman, des Kosmos‘. Es bedarf dazu der Aufrichtigkeit und einer nicht ermüdenden, gelassenen Selbstdisziplin. Alle Völker und Religionen kennen Praktiken um zur Ruhe zu gelangen, um im Gebet nicht abgelenkt zu werden. „Das Himmelreich ist zum Greifen nahe“, hat Jesus Christus gesagt. Dafür braucht es nach dem griechischen Bibeltext metanoia: Wandel im Denken.
1.2 Grundelement aller Religionen
Gunda Werner
Das Gebet ist Grundelement aller Religionen und Religionsformen. Können daher verbindende Kennzeichen und Merkmale gefunden werden? Was genau ist denn Gebet und was bedeutet es? Im Folgenden wird es um diese Fragen gehen und die Antworten suche ich in eher abstrakten Beschreibungen von Gemeinsamkeiten, die das Gebet als kommunikative Handlung ausmachen. Die Konkretisierungen werden im Weiteren für viele Religionen sowohl in der direkten Beschreibung als auch in den teilnehmenden Beobachtungen vollzogen.
Als übergreifendes Ordnungsschema für das Gebet bietet sich die Differenzierung zwischen Text, Akt und Interpretation an.1 Die Texte geben einen Einblick in die jeweilige sprachliche und bildliche Kultur und sie eröffnen Perspektiven auf die Begründung, die jeweilige Theologie sowie die zugrundeliegende Religion. Wie bereits der Text kulturell bedingt ist, ist es der Akt als ritueller ...