XVI
„Hast du dir für heute etwas vorgenommen, Gabriele?“, fragte Maria und blätterte zufrieden in dem Roman Lichtenstein von Wilhelm Hauff.
„Ich spiele mit dem Gedanken meine Familie zu besuchen.“ Ein leichter Windzug spielte mit dem saftigen Grün der dicken Eiche, welche den beiden Schwestern an diesem heißen Augustmorgen Schatten spendete.
„Wie geht es ihnen? Du hast zwar Briefe bekommen, aber kein Wort über ihren Inhalt verloren.“
„Sie leiden weiterhin unter den Einschränkungen. Wenn Mama die Kleinen noch durchfüttern muss, bleibt kaum was für sie selbst übrig.“
„Das tut mir leid.“ Gabriele schüttelte den Kopf.
„Dem ganzen Land geht es schlecht und trotz allem dürfen wir nicht verzagen.“
„Arbeiten deine Schwägerinnen noch in der Rüstungsfabrik?“
„Nur noch Gertrud. Hedwig ist seit zwei Monaten als Wickelmacherin tätig.“
„Oh Gott“, raunte Gabis Freundin entsetzt. „Die Arbeitszeiten sollen unmenschlich sein.“
„Zwölf Stunden täglich. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für ihr Kind, aber…“ Gabriele schwieg und sprang von der Bank in die Höhe, als sie das Motorenklacken der Rote-Kreuz-Fahrzeuge vernahm, die hinter der mannshohen Buchsbaumhecke vorbeifuhren.
„Seit Monaten erschrickst du, wenn das Geräusch eines Transporters ertönt. Ich glaube nicht, dass er plötzlich unter den Verwundeten ist“, versuchte Maria sie zu beruhigen.
„Dann hätte ich aber endlich Gewissheit. Immerhin hat Walter versprochen zu schreiben.“
„Wir haben noch keine Gelegenheit gehabt darüber zu reden. Du empfindest mehr für ihn?“, fragte Maria.
„Du irrst dich. Ich wollte ihm nur einen Grund geben, auf sich aufzupassen. Mein Herz gehört unserem Herrn.“ Maria legte ihr Buch zur Seite.
„Das stelle ich auch nicht in Frage. Doch was wirst du tun, wenn er eines Tages vor dir steht?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Gabi zögerlich.
„Denk darüber nach, Gabriele. Es bringt nichts vor der Situation davonzulaufen.“
„Ich werde nachdenken. Doch nicht jetzt und auch nicht morgen.“ Die beiden machten sich auf den Weg zurück zum Hospital und als Gabriele gerade das Gebäude betreten wollte, hielt Maria sie fest.
„Du wolltest deine Eltern besuchen.“ Gabi schaute den Sanitätern nach, welche verwundete Soldaten die Treppen hochführten und trugen.
„Glaubst du, dass die Station heute auf mich verzichten kann?“
„Es ist unser freier Tag. Fahr nach Hause und wir sehen uns später beim Abendessen.“ Widerwillig verabschiedete sich Gabi von ihrer Freundin und ging mit einem schlechten Gefühl in der Magengrube auf die waldgesäumte Straße zu.
Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dass meine Freundinnen erneut schuften müssen, während ich meine Freizeit versuche zu genießen, dachte sie und drehte sich noch einmal um, bevor der Stift hinter der Hecke verschwand und sie den Bushalteplatz erreichte. Obwohl eine weitere halbe Stunde verging, war Gabriele froh, dass das dichte Laubwerk an diesem heißen Tag Schatten spendete und der Gesang der Vögel sie von allen Sorgen und Nöten ablenkte. Erleichtert schweifte ihr Blick zur langgezogenen Kurve. Der nahende Bus war schon zu hören. Nachdem sich die Tür geöffnet hatte, stieg Gabi die beiden schmalen Stufen hinauf und lächelte, als sie den alten Richard Bläser sah. Richard war bereits berentet, suchte aber nach dem Tod seiner Frau die Gesellschaft seiner Mitmenschen. Aus diesem Grund fuhr er dreimal in der Woche die Strecke nach Saarlouis.
„Guten Morgen, Schwester Gabriele. Wollen Sie Ihre Eltern besuchen?“, fragte er und richtete seine Brille. Gabi gab ihm eine Pfennigmünze und antwortete gut gelaunt: „Ja, Herr Bläser. Ich war schon ewig nicht mehr zu Hause.“
„Dann wird es Zeit.“ Seine humorvolle Art wirkte ansteckend, denn wenn er lachte legte sich seine hohe Stirn in Falten und sein runder Bauch bewegte sich auf und nieder. Gabi setzte sich auf die Bank hinter dem Busfahrer, so dass sie besser mit ihm ins Gespräch kommen konnte.
„Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen, Schwester. Sie haben bestimmt viel zu tun.“
„Da haben Sie Recht. Es waren schwere Monate. Aber nichts im Vergleich zu letztem Jahr.“
„Das glaube ich gerne. Meine Erlebnisse beschränken sich, Gott sei Dank, nur auf die Fahrten zum Bahnhof. Wenn die armen Teufel wieder an die Front müssen oder geschunden in ihre Heimat zurückkehren.“ Gabi schwieg kurz.
„Sie können sich glücklich schätzen. Die grauenhaften Anblicke wünsche ich keinem. Und erst die damit verbundenen Schicksale.“
„Ich sehe nur die verschlissenen Uniformen, an denen die Hosenbeine und Hemdsärmel umgeschlagen sind. Oder die Verbände, welche ihre Köpfe bedecken. Wie gerne würde ich mit den Männern ins Gespräch kommen, doch ihre Mienen lassen mein Blut gefrieren. Außerdem weiß ich nicht, worüber ich sprechen könnte, ohne ihnen zu nahezutreten.“
„Wir haben es besser, Herr Bläser. Die Soldaten sind dankbar für die Hilfe und das macht es leichter sich zu unterhalten.“ Der Alte gab ein wenig mehr Gas und schaltete in einen höheren Gang. Es war ihm anzumerken, dass ihm diese Erlebnisse schwer zu schaffen machten. So wechselte er schnell das Thema.
„Wie geht es Ihrem Vater?“
„Meine Mutter hat geschrieben, dass es ihm gut gehe. Er muss sich schonen und das fällt ihm sehr schwer.“ Richard lachte leise vor sich hin.
„Da kann ich ihn verstehen. Seit meinem Rentenbeginn merke ich, dass die Grubenarbeit nichts für gesunde Lungen ist.“ Durch die lebhafte Unterhaltung bemerkte Gabi nicht, dass Sie bereits die Hauptstraße von Saarlouis erreicht hatten.
„Fahren Sie heute Abend noch die Strecke zurück zum Stift?“, fragte sie ihn.
„Nein, Schwester. Die Rückfahrt hat mein junger Kollege heute übernommen.“
„Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen.“
„Ich Ihnen auch, Schwester und bis bald.“
Die Franziskanerin ging ein Stück die wenig befahrene Straße entlang und schaute sich bedrückt um. Viele der alteingesessenen Geschäfte waren verwaist und Schilder mit der Aufschrift „Geschlossen“ hingen in den Eingangstüren. Auch die Gesichter der Stadtbewohner hatten sich verändert. Das Lachen und die Leichtigkeit war Hunger, Trauer und Krankheit gewichen. Die wenigen Männer, welche ihren Weg kreuzten, würdigten sie keines Blickes und verloren kein Wort. Wie lebende Tote huschten sie vorbei. Gabriele spürte die Kälte und Verbitterung der Menschen. Eilig, als wollte sie vor all dem davonlaufen, bog sie in die Seitengasse ab, wo sich einst Madame Dumas´ Laden befunden hatte. Mittlerweile diente das Gebäude als Suppenküche und während Gabriele die Menschenschlange beobachtete, welche sich im zähen Fluss voran bewegte, dachte sie, so gut sorgt unser geliebter Kaiser für euch. Er raubt euch die Männer, Väter, Söhne, lässt euch mit Trauer, Ungewissheit und Sorge allein. Doch er gibt euch ein Schälchen warme Suppe. Ist das nicht ein Zeichen von Großzügigkeit und Güte? Ich muss weitergehen. Bei all diesen Gedanken und dem grässlichen Anblick würde ich am liebsten vor Zorn schreien. Die Franziskanerin lief forschen Schrittes weiter, am Bahnsteig vorbei, an welchem zahlreiche Veteranen aus den Zügen stiegen und gleichgültigen Blickes in den engen Gassen verschwanden. Die gedrückte Stimmung, welche wie eine schwere Glocke über Saarlouis hing, machte Gabriele nur noch wütender. Als sie die lange Straße zum Haus ihrer Eltern entlanglief, hob sich ihre Laune. Das Glück Fritz, Anna und die Kleinen wiederzusehen drängte die gesehene Not beiseite. Gabi wollte gerade an der Haustüre schellen, als sie aus dem Schuppen, welcher am Ende des schmalen Hofes, neben dem Garten stand, ein lautes metallisches Scheppern vernahm. Von Neugier getrieben ging sie die Einfahrt hinab und öffnete die quietschende Pforte. Im hellen Lichtkegel der einfallenden Mittagssonne saß ihr Vater auf einem alten Holzstuhl.
„Gabriele?“, fragte er mit heiserer Stimme. Geschwächt von seiner Krankheit stand Fritz auf und nahm seine Tochter in den Arm. „Meine Kleine. Wie geht es dir?“
„Gut, Papa“, antwortete Gabi und fuhr sanft über Friedrichs schmale Hand, aus welcher Sehnen und Adern bereits hervortraten. „Was tust du hier?“
„Ich trenne das Eisen von den Schaufeln, vom Rechen und der Harke. Wir geben das Blech und Eisen an Erwin Freche.“ Gabi wirkte überrascht.
„Herr Freche besitzt die Wirtschaft in der Grubengasse.“
„Er hat schließen müssen. Es kam keine Kundschaft mehr.“ Fritz schüttelte den Kopf. „Wer kann es sich auch noch leisten in ein Gasthaus einzukehren? Jetzt geht er mit seinem Haflinger und einem Hänger durch die Dörfer und sammelt Metall.“
„Ich verstehe kein Wort, Papa.“
„Die Armee braucht das Material. Der Krieg hat uns ausgeblutet. So kann ich wenigstens unseren Buben ermöglichen noch einige Schüsse abzugeben.“
„Es wird für Granaten und Munition eingeschmolzen. Damit unterstützen wir diesen Krieg.“
„Solange ein paar Pfennig rausspringen.“ Gabi jedoch entgegnete: „Aber ihr hattet immer so viel Spaß an der Gartenarbeit.“ Fritz nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und sägte mit zittriger Hand weiter die Holzstiele ab.
„Meine Liebe, wir sind nicht mehr die Jüngsten. Deine Mutter ist mit der Hausarbeit und der Betreuung der Kinder bereits ausgelastet und ich bin schon nach wenigen Handgriffen so erschöpft, dass ich mich ausruhen muss. Es war eine schöne Beschäftigung und eine schöne Zeit. Doch alles geht einmal zu Ende. Damit müssen wir uns abfinden.“ Gabi schwieg. Natürlich wusste sie, dass ihr Vater im Recht war und dennoch bedauerte sie diesen Schritt. So schwelgte die Franziskanerin in Erinnerungen, als plötzlich das grelle, monotone Läuten einer Handglocke ertönte.
„Erwin! Ich bin im Schuppen!“, rief Fritz lautstark in Richtung der Straße.
„Morgen, Fritz“, begrüßte der ehemalige Wirt seinen alten Freund, während er die Glocke an seinen Ledergürtel hing. Erwin Freche war ein kantiger Haudegen. Ein Überlebenskünstler mit einem außerordentlich großen Herzen. Demütig verbeugte sich der kleingewachsene, kräftige Mann vor der Ordensschwester und nahm seine Filzkappe ab.
„Gabriele. Ich habe dich schon ewig nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“
„Danke, Herr Freche. Ich will nicht klagen.“ Erwin nickte zögerlich und wandte sich dem alten Meschenbier zu. Gerne hätte er weiter mit Gabi über deren Arbeit im Stift gesprochen, doch er wusste, dass es in diesen Zeiten eine traurige Konversation geworden wäre.
„Na, Fritz? Bist schon fleißig am Aussortieren.“
„Natürlich“, antwortete er und wies auf den Metallhaufen, der bereits auf dem staubigen Boden lag. „Hol den ganzen Kram mit.“ Erwin ging in die Hocke, breitete die Arme aus und stemmte alles auf einmal in die Höhe.
„Es macht dich bestimmt traurig, nicht mehr in deinem schönen Garten zu werkeln?“ Fritz ließ die Arme baumeln und schaute bedrückt zu Freche auf: „Nutzt doch alles nichts. Schau mich an. Ich habe keine Kraft mehr die Beete in Schuss zu halten. Also, schaff das Zeug weg und lass ein bisschen Geld da.“
„Lass mich nur gerade zum Hänger gehen.“ Während Erwin das Alteisen wegbrachte, hockte sich Gabriele vor ihren Vater.
„Ich werde nach Mutter sehen. Kommst du auch gleich?“
„Ja, meine Kleine. Ich brauche nur noch einen Moment.“ Sie küsste ihren alten Herren auf die Wange und verschwand im Hausflur. Langsam ging sie auf die Küche zu. Die Tür war nur angelehnt und außer dem dumpfen Ticken der Standuhr, war kein Mucks zu hören.
„Mama?“, flüsterte sie leise, während sie eintrat. Anna war mit ihrem Gemüseeintopf beschäftigt und erschrak, als sie aufschaute.
„Entschuldige, ich war in Gedanken, mein Schatz.“ Sie wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab und umarmte ihre Tochter, die nach den Kindern fragte.
„Sie kommen heute später aus der Schule. Nimm doch Platz.“ Gabi kam der Aufforderung nach und schaute aus dem Fenster. Fritz und Erwin standen vor dem Schuppen und Gestikulierten wild umher. Ihre Gesichter waren ernst und Gabi wusste, dass es nur ein Thema gab, welches die Gemüter so stark erhitzte.
„Wo bleibt dein Vater?“, fragte Anna lautstark und stellte scheppernd die Teller auf den Tisch.
„Er kommt auch gleich, Mama. Er redet noch mit Herr Freche.“ Doch ihre Mutter reagierte nicht. Es wirkte, als würde sie ihre Tochter ignorieren, während sie den Eintopf in die Porzellanschüssel füllte. „Hast du gehört?“, fragte Gabi nach. „Mama? Du hast kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe.“ Anna setzte sich neben ihre Tochter und beugte sich vor. Unter Tränen der Angst und Verzweiflung gestand sie, dass sich ihr Gehör zunehmend verschlechterte.
„Ich fürchte, dass ich bald taub sein werde.“ Plötzlich betrat Friedrich die Küche, riss seinen Stuhl zurück und setzte sich mit verbissener Miene hin.
„Ist alles in Ordnung, Papa?“
„Er hat mir für den ganzen Schrott gerade mal fünfzig Pfennig gegeben.“ Anna konzentrierte sich auf seine Lippenbewegung und antwortete: „Besser ein paar Pfennig, als gar nichts.“
„Das ist zu wenig. Immerhin waren es teure Gerätschaften“, pflichtete Gabriele ihrem Vater bei.
„Lieber habe ich fünfzig Pfennig in der Haushaltskasse, statt alles verrosten zu lassen.“ Friedrich war unzufrieden mit dem Verkauf, obwohl er der Meinung seiner Frau war und sie wusste, wie sie ihrem Gatten wied...