Ich begrüße Sie und freue mich, dass dieses Buch den Weg zu Ihnen gefunden hat. Der Einfachheit halber und um des persönlichen Tones willen möchte ich so tun, als seien Sie eine meiner Seminarteilnehmerinnen. Dieses Buch ist als Ratgeber und Nachschlagewerk von mir für Sie gedacht, aber da Sie einen guten Sprachstil sicher ebenso schätzen wie ich, finden Sie zu jedem Stichwort einen Fließtext, aufgebaut wie ein Seminarmodul, mit Beispielen aus der Praxis und Übungen. Da ich eine gute, geschlechterbewusste Ansprache wichtig finde, spreche ich bewusst unterschiedlich von Männern und Frauen, verzichte aber der Lesbarkeit zuliebe auf komplizierte Konstruktionen.
Dieses Handbuch soll Ihnen alles Rüstzeug vermitteln, damit Sie gut und mit Freude vorlesen. Dabei habe ich vor allem jene im Blick, die ehrenamtlich Kindern in Bildungseinrichtungen vorlesen, aber auch Eltern, Lehrerinnen und Erzieherinnen oder auch Personen, die anderen Zielgruppen wie zum Beispiel Senioren vorlesen.
Vorlesen kann doch jeder, der lesen gelernt hat – so denken viele. Und tatsächlich gilt dieser Satz für alle, die Kinder ganz nah bei sich haben, als Eltern, Großeltern, Verwandte, Tageseltern. Denn Sie haben bereits eine vielfältige Beziehung zu Ihren Zuhörern, und meistens kleben sie an Ihren Lippen, auf Ihrem Schoß und wollen nur eines: „Noch ein Kapitel!“ Wenn es mit dem Zuhören mal nicht klappt, kann Ihnen dieses Buch insbesondere in den Bereichen Rituale und Buchauswahl weiterhelfen.
Wer jedoch einem größeren Publikum vorliest, zu dem die Bindung (noch) nicht so eng ist, der sollte an ganz vielen Dingen ansetzen, um eine für Vorleser und Zuhörer gleichermaßen vergnügliche Vorlesestunde zu gestalten. Vielleicht waren Sie als begeisterte Leserin ja auch schon mal bei der Lesung eines berühmten Autors, die Sie bitter enttäuscht hat, obwohl im Buch doch die schönsten Sätze standen? Selbst wer also ein anerkannter Schriftsteller ist und einen tollen Text vor sich hat, kann nicht automatisch gut vorlesen!
Das Vorlesen, dass Sie und ich meinen, hat nichts mit dem sturen „Flüssig-Schnell-Schnell“-Vorlesen im Klassenzimmer zu tun, das viele auch später noch praktizieren, aber auch nichts mit Talent. Naturtalente mag es auch unter Vorlesern einige geben (sie profitieren meist einfach von einer schönen Stimme), aber ich bin der festen Überzeugung, dass Vorlesen gelernt werden kann, durch Tun und Üben, ohne jahrelange Stimmausbildung, wie sie viele professionelle Hörbuchsprecher (selbstverständlich) absolviert haben.
Dieses Buch wird aus Ihnen keinen zweiten Rufus Beck machen, keine falschen Erwartungen bitte! Sie werden es jedoch mithilfe meiner Ratschläge schaffen, Ihren Zuhörern Freude zu bereiten, an der Geschichte, an der Art Ihrer Präsentation; und Sie selbst werden es ebenfalls genießen. Und wissen, mit welchen Mitteln Sie was erreichen. Entweder blättern Sie einfach um oder Sie springen in das Kapitel, dass Sie gerade brauchen. Dieses Handbuch begleitet Sie hoffentlich durch viele Jahre des Vorlesens! Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei.
Dezember 2014
Melanie Friedrich
Darauf haben Sie sicherlich Ihre persönliche Antwort gehabt, bevor Sie in dieses Buch geschaut haben. Wahrscheinlich, hoffentlich!- hat sie mit Spaß zu tun: Freude an Büchern, erwartungsvollen Gesichtern, leuchtenden Kinderaugen.
Weshalb ich Sie trotzdem dazu einladen möchte, mit mir weitere Antworten zu erforschen, liegt daran, dass ich Ihre Motivation erhöhen möchte. Wenn Sie erst mal wissen, was Vorlesen alles bewirken kann, werden Sie auch Momente überstehen, in denen es mal nicht so gut läuft.
Ich möchte Ihnen jetzt die Leseblume vorstellen, eine Gattung, die gerne ebenso unterschätzt wird, wie die Brennnessel in der Kräutermedizin. Im Gegensatz zur Brennnessel ist sie leider auch noch nicht so weit verbreitet…
Was passiert eigentlich beim Vorlesen? Der Grafik zufolge wächst dabei in jedem eine besondere Blume mit vier Blütenblättern:
Herz - Das Herz steht für die körperliche Nähe zum Vorleser. Eine Vorlesestunde ist ganz einfach erst einmal eine Begegnung in einem geborgenen Rahmen. Man teilt damit gemeinsam eine Geschichte und kommuniziert, der Zuhörer wird wahrgenommen und erfährt Aufmerksamkeit und Achtung für die eigene Person.
Gesicht - Das lachende Gesicht steht für das Erlernen sozialer Kompetenz: für Kinder ist es leichter, anhand fiktionaler Geschichten Situationen, Konflikte, Probleme, Gefühle kennen zu lernen und über mögliche Konsequenzen zu reflektieren – Stichwort Empathie!
Spiegel - Der Spiegel steht für die Identifikation mit dem Buchhelden/heldin, über die Kinder erkennen können: So wäre ich auch gern, oder: So bin ich gar nicht. Der Spiegel ist aber auch ein magisches, märchenhaftes Symbol für die Vorstellungskraft und die Fantasie, die durch Geschichten angeregt werden.
Kerze - Die Kerze mit ihrem Licht steht für Wissenserwerb („Da geht mir ein Licht auf!“). Durch Vorlesen bekommen bereits Kleinkinder wertvolle Informationen und Anregungen für ihre kognitive Entwicklung. Das Interesse und die Neugier an neuen Sachverhalten wird spielerisch und kreativ geweckt, ihr Wortschatz, ihr Gedächtnis und ihre Konzentrationsfähigkeit werden gefördert. Deshalb ist auch die Wiederholung so wichtig, und deshalb lieben es viele Kinder, ein Buch mehr als einmal zu hören!
Also:
Durch Vorlesen erfahren die Kinder Liebe. Sie erfahren die Welt und andere Menschen. Sie lernen sich selbst kennen. Vorlesen macht schlau und erhöht die Sprachgewandtheit – und Kinder erhalten einen Schlüssel zu ihrem „inneren Fernseher“.
Die Leseblume zeigt auch ganz deutlich, was fehlt, wenn das Vorlesen durch Hörbücher, Fernsehen, Computerspiele etc. ersetzt wird!
Lange wurde Vorlesen in den Bereich der „Kuschelpädagogik“ verwiesen. Seit der PISA-Studie, die deutlich zeigte, dass erschreckend viele Kinder über keine ausreichende Lesekompetenz verfügen, hat sich die Forschung verstärkt mit dem Thema Lesen auseinandergesetzt. Dass dabei das „Vorlesen die Mutter des Lesens“ ist, wusste aber schon Johann Wolfgang von Goethe.
Durch den Vorgang des Vorlesens, so einfach er einem Erwachsenen auch vorkommen mag, machen Kinder wichtige, prägende Erfahrungen und haben nachweisbar Vorteile in vielen Bereichen:
Eine Studie der Pädagogischen Hochschule Weingarten1 zeigte, dass regelmäßiges Vorlesen selbst bei Achtklässlern noch signifikant deren Lesefähigkeit erhöht. Darüber hinaus zeigte sich in der Versuchsanordnung – Lehrer lasen ihrer Klasse zwei- bis dreimal mal pro Woche ca. zehn Minuten vor – dass sich auch das Klassenklima erheblich verbesserte und die Schüler in ihrer Freizeit mehr lasen. Eine andere Studie2 ergab, dass Kinder, denen vorgelesen wird, auch bessere Noten in Deutsch und Mathematik erzielen.
Also: Vorlesen macht schlau. Nicht nur im Herzen, sondern auch im Hirn!
Unbestritten ist, dass Vorlesen eigentlich Hauptaufgabe der Eltern sein sollte. Ergebnisse von Studien der Stiftung Lesen3 seit dem Jahr 2007 zeigen aber, dass regelmäßiges Vorlesen in der Familie für ein Drittel der Eltern nicht selbstverständlich ist und insbesondere nach dem Schuleintritt ein Bruch einsetzt. Dabei fordern Wissenschaftler, dass Eltern ihrem Kind von ca. acht Monaten bis über das Grundschulalter hinaus vorlesen sollten (ich habe auch gute Erfahrungen mit Teenagern gemacht!). Auch die Studie der Pädagogischen Hochschule Weingarten ergab, dass der Zuwachs der Lesefähigkeit durch regelmäßiges Vorlesen bei den Zweit- und Drittklässlern am größten war – ein Alter, in dem viele Kinder als fähig gelten, selbst zu lesen, aber oft noch nicht den Stoff schaffen, der sie auch intellektuell herausfordert.
Die These, dass vor allem in der Unterschicht zu wenig vorgelesen wird, revidierte die Untersuchung der Stiftung Lesen von 2008, in der Kinder befragt wurden: „Alle Schichten sind betroffen: Mehr als ein Drittel der Eltern liest aus der Sicht der Kinder nicht vor – Einkommen und Bildungsgrad spielen dabei fast keine Rolle.“
In Schulen und Kindergärten gehört Vorlesen zwar zum Bildungsauftrag. Doch in der Praxis geben viele Erzieherinnen und Lehrerinnen zu, dass sie nicht so oft dazu kommen, wie sie eigentlich möchten. Zudem wird das Vorlesen eines Buches oft mit dem Bildungsplan verbunden – Lesen um der reinen Lust am Buch willen kommt selten vor. Deshalb wird das Vorlesen durch Ehrenamtliche von Bildungseinrichtungen fast immer als Bereicherung begrüßt. „Da kommt extra jemand mit einem Buch!“ lautete die Rückmeldung einer Kindergartenleiterin, die von den Reaktionen ihrer Kinder erzählte. „Kommt die auch wieder?“ fragen Kinder oft nach der ersten Vorlesestunde.
Häufig sind diese Ehrenamtlichen über 60 Jahre alt, was somit ein generationenübergreifendes Miteinander fördert. Der Anteil männlicher Vorleser kann in regionalen Netzwerken überdies höher sein als der Anteil vorlesender Väter (neun Prozent lt. Stiftung Lesen) und als der Männeranteil von Pädagogen in Kindergärten und Grundschulen (max. 15 Prozent)4: in Vorlesenetzwerken liegt er meiner Erfahrung nach zwischen zehn und 25 Prozent. Vorlesende Männer zeigen Kindern, dass das Medium Buch nicht ausschließlich weiblich besetzt ist. Das finde ich nicht nur für die Jungen wichtig, die gerade sehr in den Fokus gerückt werden. Auch Mädchen sollten erleben, dass Bücher jedem Geschlecht offen stehen und diese Erfahrung später ihren Kindern weitergeben, indem sie Vorlesen vom Vater selbstverständlich einfordern!
Was Ehrenamtliche besonders qualifiziert: Sie sind ein greifbares Vorbild dafür, dass Lesen um seiner selbst willen Spaß macht und inspirierend ist. Umgekehrt sollten Sie als Mensch, der anderen die Welt der Bücher aufschließen möchte, neben Ihrer Begeisterung für Literatur auch Begeisterung für das Miteinander mitbringen. Nicht jede Leseratte mag die Dynamik von Gruppen, die Lebhaftigkeit von Kindern, Diskussionen und Austausch. Gerade das bringt Vorlesen aber mit sich!
Ich werde Sie jetzt nicht damit langweilen, Ihnen Motivationsgründe aufzuzählen, die bei Ihnen vielleicht zutreffen oder auch nicht. Im direkten Kontakt mit Vorlesern habe ich aber festgestellt, dass ein Punkt ganz wesentlich ist, war...