An einem Frühlingstag des Jahres 1709 fuhr der würdige und fromme Schweidnitzer Physikus Thieme von Liegnitz heim und pochte in Striegau auf der Neugasse bei seinem Kollegen Günther an. Von der Magd in den Garten gewiesen, traf er allda den Doktor Günther nebst der Doktorin. Es war dies seine dritte Ehefrau, die er erst vor zwei Jahren heimgeführt hatte. Zwischen ihnen stand Johann Christian, sein Sohn aus zweiter Ehe, ein vierzehnjähriger Knabe von mittelmäßiger Statur und wohlproportionierten, gesunden und geschickten Gliedern. Sein freundliches und annehmliches Angesicht hatte etwas Reizendes an sich, was besonders aus seinen tiefen, träumerischen, schwarzbraunen Augen sprach. Auch trug er dunkle Locken, so dass er dem Physikus wohl auf den ersten Blick gefallen konnte.
Die beiden Eltern aber schienen dem Knaben weniger wohlgesinnt zu sein, denn ihre Mienen zeigten deutlich, dass sie ihn eben heftig ausgescholten hatten. Nun aber, angesichts des Gastes, schwiegen sie etwas betroffen.
„Ei, Ei“, sprach der Physikus, „ich komme doch nicht zur Unzeit? Ist dies Euer Sohn, Herr Kollege? Tut er nicht gut?“
„Er ist ein Taugenichts!“, rief die Doktorin erbost. „Den ganzen Tag liegt er auf den Büchern, ob er gleich kräftig genug ist, schon etwas mit zu verdienen. Ruft man ihn, hockt er hinter den Büschen oder gar drüben auf dem Kirchhof und träumt. Und wir können ihn durchaus nicht studieren lassen. Dazu reicht es nicht und andere Kinder sind auch noch da.“
„Packe dich, du ungeratener Sohn!“, herrschte ihn der Vater an und entriss ihm ein Blatt Papier.
Johann Christian sprang davon, froh diesmal so leichten Kaufes davongekommen zu sein, die beiden Doktoren aber traten in das Haus und setzten sich bei einem Krug Striegauer Bitterbier nieder.
„Hier lest!“, seufzte der Doktor Günther schmerzlich. „Dies Papier hat er eben wieder hinter dem Busch vollgeschmiert. Auf solche brotlose Bettelkunst ist er mit allen Sinnen erpicht. Alle Ermahnungen schlägt er in den Wind. Im Guten und im Bösen habe ich es schon mit ihm versucht. Er verspricht es hoch und heilig, treibt es aber hinterher ärger als zuvor. Denn er hat einen schwachen, schwankenden Charakter. Es ist ein Hang, den man ausrotten muss, sonst wird er noch ein Tagedieb. Und dabei hat er einen ganz vortrefflichen Kopf und ist zum Studium sonderlich geschickt.“
Inzwischen hatte der Physikus das Blatt eingehend geprüft und hob nun verwundert seine Augen.
„Ein Poeta!“, rief er vergnügt. „Es ist ein ganz artiges Poem, ein geistlich Lied, wie es unser Pastor Schmolcke kaum besser macht. Habt Ihr es denn schon gelesen?“
Der Doktor hob abwehrend seine Hände.
„So will ich es Euch vorlesen!“, lächelte der Physikus, klärte mit seinem roten Nastüchlein das Augenglas und begann:
Der Doktor Günther schüttelte ärgerlich den grauen Kopf.
„Mich dünkt“, meinte der Physik, „Ihr tut Euerm Sohn Unrecht. Sein Sinn ist vielmehr auf die Frömmigkeit und den Glauben gerichtet. Freuet euch vielmehr dieses Kindleins! Wer weiß, wozu es der Herr aufgespart hat?“
„Wie gerne wollt ich ihn auf die Schulen schicken“, lenkte der Vater ein, „allein der Mangel, seine Wohlfahrt weiterhin zu fördern, lässt es nicht zu. Sein fertiger Kopf, sein aufgeräumtes Gemüt und seine eifrige Begierde zu lernen, sind genugsam Zeugnisse, dass aus ihm durch gute Führung ein vortrefflicher Merkurius könnte geschnitzt werden. Allein hier in Striegau ist keine Gelegenheit dazu.“
„So gebet ihn nach Schweidnitz“, schlug der Kollege vor, „helft ihm mit dem Geringen, was Ihr entbehren könnt. Und so er nur fleißig und strebsam ist, werden sich Freunde und Gönner genugsam finden. Als Kirchen-und Schulvorsteher bin ich wohl imstande, ihm eine Freistelle zu verschaffen. Es gibt in unserm Stande gar zu viel Windmacher, als dass man einen fähigen Kopf von dem Studium zurückhalten dürfte. Er kann in meinem Hause wohnen. Und ihm außerdem ein paar Freitische zu schaffen, wird nicht sonderlich schwerhalten. Und so er erst tiefer in die Wissenschaften eindringt, wird er das Versemachen ganz von selbst dahinterlassen.“
Diesem freundlichen Drängen vermochte der Doktor auf die Dauer nicht zu widerstehen, obschon die Doktorin sehr dagegen war und es zuletzt gar mit Tränen versuchte.
„Was Ihr wollt, tuet bald!“, mahnte der Physikus, der wohl merkte, dass den Kollegen die Zusage schon reute. „Sitzet mit auf und fahret mit mir hinüber.“
Als man Johann Christian, den man aus dem hintersten Winkel des Gartens holen musste, den Entschluss seines Vaters mitteilte, fiel er vor ihm auf die Knie, küsste seine Hände und rief unter Freudentränen: „Lieber Herzensvater, ich will Euch dieses ewiglich gedenken!“
Der Physikus aber fuhr ihm über die braunen Locken und sprach: „Werde ein tüchtiger Medikus, das wird uns alle bass erfreuen!“
Noch vor dem Abend kamen sie in Schweidnitz an.
„Ruhet Euch aus, lieber Kollege!“, sagte der Physikus. „Und bringet ihn morgen früh zum Rektor Leubscher. Gehet auch zum Herrn Pastor Schmolcke und zum Primarius Fuchsius. Auch ein Gang zu dem Herrn Advokaten Crusius, dem der Kaiser den Titel eines Polyhistors verliehen hat, wird nur nützen, dieweil er eine große Bibliothek besitzt, woraus er generös jedem, dem er wohlwill, das Nötige herleiht.“
Bei dem Rektor Leubscher stellte sich Johann Christian erst etwas einfältig, wollte nicht mit der Sprache heraus und tat auf die Frage „Bist du der neue Schüler?“ nur mit einem recht kleinstädtischen Kratzfuß Bescheid.
„Du hast“, fuhr der Rektor fort, „gar ein aufrichtiges und munteres Gesicht, sei nur unerschrocken, wir werden einander schon besser kennenlernen.“
Darauf prüfte er ihn und ließ ihn einen Abschnitt aus dem Turtio übersetzen, wobei Johann Christian ohne Scheu seine regen Kräfte zeigte und besonders auf die natürliche Ordnung der deutschen Wörter Acht nahm.
„Kannst du auch was vom Griechischen?“, fragte der Rektor erstaunt und sagte ihm einen Spruch aus dem Euripides, den der neue Schüler mit solcher Leichtigkeit wiederholte und übertrug, dass der Rektor sich höchlichst darüber verwunderte und zu dem Vater sagte: „Herr Doktor! Sie sind nicht einer von denen Vätern, die ihre Kinder als ungehobelte Klötze in die Schule schicken und den Lehrmeister eine unsägliche Arbeit an ihren dummen und unverständigen Kindern überlassen. Ich sehe, dass bei ihm der Grund vollkommen gut gelegt ist, wir wollen itzo darauf weiter bauen. Ich kann ihn auch nicht anderswohin tun, als zu mir in die oberste Klasse nehmen.“
Der Doktor bedankte sich vielmals bei dem Rektor, gab Johann Christian noch ein halb Schock gute Lehren mit auf den beschwerlichen Weg der Wissenschaften und ging zu dem Polyhistor Crusius.
Das war ein kleines, verhutzeltes und vertrocknetes Männlein, ein Bücherwurm und Stubenhocker, von einer so großen Gelehrsamkeit besessen, dass er zum Beispiel alle Gelehrten, die mit dem Vornamen Johannes hießen, an den Fingern herzählen konnte.
„Ei, ei“, sprach er etwas spöttisch, nachdem ihm der Doktor mit wohlgesetzten Worten den neuen Lateinschüler ans Herz gelegt hatte, „ein Ingenium von vierzehn Jahren! Ist das nicht ein wenig zu hoch gegriffen? Aber dem getreuen Vater mag es verziehen sein. Sehet, ich liege schon vierzig Jahre an den Brüsten der Weisheit, so mich aber einer ein Ingenium nennen würde, möchte ich ihm sehr höflich danken. Seid aber getrost, ich will ein wachsames Auge auf den Buben haben, damit er nicht etwann auf Abwege gerät.“
Darauf trat der Doktor zu dem Pastor Benjamin Schmolcke, der in ganz Schlesien einen lauten Ruf als Kirchenliederdichter hatte.
Er hörte den Vater ruhig an, legte das Doppelkinn selbstgefällig auf das blütenweiße Bäffchen und sagte: „Ei, ei, ein Poeta? Und das mit vierzehn Jahren! Und er scheut sich nicht, die heiligen Dinge zu bedichten! Ich habe mit vierzehn Jahren den Katechismo gelernt und in der Heiligen Schrift geforscht. Es ist ein Geist der Vermessenheit und der Überhebung in die heutige Jugend gefahren, und man wird guttun, ihn mit Sanftmut und Geduld wieder auszutreiben.“
Beglückt eilte der Doktor nun zu dem alten, weißhaarigen Pastor Fuchs, der keine langen Worte machte, sich den Namen notierte und dem Vater eine glückliche Heimfahrt wünschte.
So kam Johann Christian auf die Lateinschule nach Schweidnitz, gewann sich seine Lehrer durch Fleiß und Geschicklichkeit zu Freunden, insbesondere den Primarius Fuchsius, blieb fünf Jahre allda und ließ nicht vom Versemachen, nur dass er gar bald die weltlichen Dinge bevorzugte. Und als er erst auf einer Hochzeit, zu der er das Karmen gedichtet hatte, die holde Jungfrau Magdalena Eleonora Jachmann kennen lernte, da wurde ihm endlich kund, dass es zweierlei Geschlecht gab und dass Liebe Leben war, und er wusste nun, an wen er seine Lieder zu richten hatte.
Kurz bevor er die lateinische Schule verließ, wurde sein Schauspiel „Die von Theodosio bereute Eifersucht“ von der Schweidnitzer Schuljugend dargestellt. Es war dies eine Auszeichnung, zu der ihm der Primarius verholfen hatte. Leider aber schloss er noch vor der Aufführung die Augen für immer, und Benjamin Schmolcke rückte an seine Stelle auf. Dieser war dem jungen Dichter nicht wohlgesinnt, weil er sich im Laufe der fünf Jahre allmählich seiner väterlichen Zucht entzogen hatte und nun seine eigenen Wege wandelte. Nicht viel anders verhielt es sich mit dem Polyhistor Crusius. Dem war der aufkeimende Ruhm des jungen Dichters, der zu jedem Ereignis in den Mauern der Stadt ein Gedicht machen musste, so sehr in die Krone gefahren, dass er gewiss im Verein mit dem neuen Primarius die Aufführung des Güntherschen Stückes hintertrieben hätte, wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre.
Also wurde das Schauspiel am 24. September 1715 öffentlich dargestellt, und alle, die es anhörten, waren des Lobes voll. Nur die beiden Feinde Günthers übten scharfe Kritik, der eine an der historischen Treue, der andere an den Versen. So kam zum ersten Male der Neid, der ihre Herzen schon seit langem erfüllte, ans Tageslicht und unter die Leute.
Johann Christian aber, der sich mit seinen neunzehn Jahren schon als ein rechter Mann und als ein erwählter Jünger der Musen fühlte, dichtete alsobald auf diese beiden nicht nur in Schlesien hochberühmten Männer einige scharf gepfefferte Stachelreime, die zur unstillbaren Wut der Betroffenen gar schnell von Mund zu Mund flogen.