
- 196 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Erhard Doubrawa arbeitet seit vielen Jahren als Gestalttherapeut. Er ist Gründer und Leiter der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK), wo er auch als Ausbilder tätig ist.In diesem Buch versammelt der Autor Geschichten, die er vielfach in seiner Arbeit erzählt hat - einzelnen Klientinnen und Klienten, in Workshops und Gruppen. Sie haben schon oft dazu beigetragen, dass Menschen sich wieder öffnen und so von anderen seelisch berühren lassen konnten. Ein Klassiker der Gestalttherapie in einer erheblich erweiterten Neuauflage.
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Information
DIE ARBEIT DER KLIENTEN
AUCH ICH WAR EINST KLIENT
Das Konzept des existentiellen Augenblicks umfasst rührende und bewegende Erfahrungen, die einen heilenden Einfluss ausüben. Ein interpersonaler existentieller Augenblick ist gekennzeichnet durch gegenseitige Achtung und eine Qualität des Kontakts, die auch spirituelle Züge besitzt. Er vereinigt Komplexität und eine naive Schlichtheit, die ihm seine Schönheit verleiht. Solche Augenblicke besitzen eine ganz besondere und heilende Qualität.
Len Bergantino
Erst beim letzten Workshop im ersten Jahr meiner gestalttherapeutischen Ausbildung bin ich »richtig« ans Arbeiten gekommen. Ich war mit einer großen Verzweiflung in mir in Kontakt gekommen. Ich weiß eigentlich nicht, wie es geschah, jedenfalls fand »es« statt, als wir einen Workshop mit einer Gastlehrtrainerin hatten. Auf einmal war meine große Verzweiflung spürbar. Ich musste weinen.
Ich erinnerte mich an meine Kindheit in Schweden, daran, wie es sich anfühlte, als »deutsches Nazi-Kind« geschmäht zu werden. Weil die schwedischen Kinder nicht mit mir »Nazi-Kind« spielen durften, musste ich meist allein spielen. Ronni, den ich über alles liebte, spielte trotzdem mit mir. Seine Mutter bekam das einmal mit und lief schreiend auf uns zu. Ronni stieß mich unter einen Strauch, um mich vor den Augen seiner Mutter zu verbergen. Natürlich hatte sie mich schon längst erblickt. Sie strafte ihn mit vielen harten Schlägen direkt vor dem Strauch, unter dem ich mich versteckt hielt. Ich sah ihn. Ich hörte ihn – zuerst laut schreien, später nur noch leise wimmern. Trotzdem haben Ronni und ich uns auch weiterhin getroffen. Heimlich…
…dies erzählte ich damals heftig weinend meiner Ausbildungsgruppe. Das Zeitgefühl hatte ich dabei völlig verloren. Ich war erschüttert, als ich nach der Arbeit feststellte, dass sie mehr als eineinhalb Stunden gedauert hatte. Ich entsinne mich heute gar nicht mehr an weitere Inhalte. Nur noch an meinen Schmerz, an meine Verzweiflung. Nach der Arbeit war ich so erschöpft, dass die anderen Teilnehmer des Workshops mich in Decken hüllten und mir heißen Tee zu trinken brachten. Aber ich war gleichzeitig auch erleichtert, und alles um mich herum erschien mir heller.
Nach diesem Erlebnis habe ich mich entschieden, mit meiner Lehrtherapie zu beginnen. Mein damaliger Ausbilder, Willy Berns, schickte mich dafür zu Manfred Ley. Bei ihm versuchte ich, an meine Erfahrung von diesem Wochenendworkshop anzuknüpfen, was zuerst nicht gelingen wollte. Mindestens ein halbes Jahr lang konnte ich mir das Wort »Verzweiflung« nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Als es mir jedoch wieder ins Bewusstsein trat, kam auch die große Traurigkeit wieder. Für mich begann eine tränenreiche Zeit. Das war am Anfang auch noch ganz in Ordnung für mich. Mit der Zeit fing ich aber an, mich für meine Tränen zu schämen.
Ich schämte mich meiner Tränen, die in dieser Zeit oft »zu laufen anfingen« – nicht nur in der Therapiesitzung, sondern auch im Alltag … Und so ging ich wieder einmal zu Manfred Ley. Ihm hatte ich noch nichts von der Scham über meine Tränen gesagt. Dafür schämte ich mich obendrein. Ich setzte mich bei ihm auf die Couch und erwähnte noch nichts, sondern dachte nur an meine Scham wegen des häufigen Weinens. Plötzlich begann er, von sich selbst zu erzählen.
Er berichtete völlig unerwartet davon, dass er am letzten Samstag auf einmal heftig habe weinen müssen. Ich war wie vom Blitz getroffen. Er habe seinen beiden Söhnen beim Spielen zugeschaut und sei davon so tief berührt gewesen, dass ihm die Tränen gekommen wären. Seine beiden kleinen Söhne wären erschrocken, wären zu ihm gekommen und hätten ihn getröstet. Er hätte ihnen – so fuhr er dann fort – versichert, dass es für ihn ganz in Ordnung sei zu weinen. Sie bräuchten sich keine Sorgen um ihn zu machen. Das hätte die beiden tatsächlich beruhigt, und sie hätten dann einfach ihr Spiel fortgesetzt. Er habe ihnen weiter zugesehen und weiter geweint. Sie hätten gespielt und ihn hin und wieder liebevoll angeschaut. Damit endete sein Bericht – und zugleich meine Scham wegen meiner eigenen Tränen.
Wärme breitete sich in mir aus, Vertrauen zu meinem Lehrtherapeuten. Ich habe in der Folgezeit begonnen, mich ihm gegenüber zu öffnen, also ihm mein Inneres schamfrei – oder zumindest schamfreier – mitzuteilen. Und ich habe meine Seele von ihm berühren lassen.
DIE SEELE BERÜHREN
Existentielle Augenblicke müssen nicht zwangsläufig zu Tränen führen, aber bei mir war das einige Male der Fall. Diese Augenblicke waren deshalb zu bewegend, weil ich damals mit tiefen Gefühlserlebnissen Schwierigkeiten hatte und nicht leicht zum Weinen zu bringen war. Viele Menschen, besonders Männer, isolieren sich emotionell und halten diese Isolation fälschlich für Freiheit. Sie sublimieren ihre Gefühle und versperren sich ihren emotionalen Bedürfnissen, bis sie schließlich an Herzinfarkten, Schlaganfällen oder anderen Krankheiten sterben.
Len Bergantino
Ralf, der Roboter
Ralf, ein Mittdreißiger, erschien an einem Sommertag vor vielen Jahren zum Vorgespräch in meiner Praxis. Eine frühere Teilnehmerin meiner Gruppen hatte ihm meine Telefonnummer gegeben. Auf meine Frage, wie ich ihm weiterhelfen könnte, schwieg er zunächst. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, was ich will.« Auf Nachfrage beschrieb er, dass er überhaupt nicht wisse, was er gern esse. Dass er auch nicht wisse, mit wem und wie er seine Wochenenden verbringen wolle. Seine Frau sei für die Organisation seiner sozialen Kontakte zuständig. Er lebe fast ausschließlich für seine Arbeit. Er habe als Jurist eine Führungsposition in der Wirtschaft inne. Seine Stimme war monoton, während er berichtete. Langweilig. Leise. Die räumliche Entfernung zwischen uns schien riesig. Unser Kontakt war von der Sachlichkeit unseres Gespräches bestimmt. Keine Gefühlsäußerungen. Ich fragte ihn nach seinen augenblicklichen Empfindungen. Dass er nichts spüre, antwortete er. Ich jedoch wurde traurig. Spürte Schmerz und meine eigenen Tränen hinter meinen Lidern.
Eine sehr zähe und spröde Zeit folgte dem Vorgespräch. Nur kurz, ein einziges Mal in etwa zwölf Monaten, zeigte er Gefühle. Es war Rührung, die ihn überkam, als er von der Geburt seiner dritten Tochter vor zwei Jahren erzählte, bei der er dabei gewesen war. Er weinte in meiner Anwesenheit. Kurz. Unmittelbar darauf folgten Scham und Rückzug. Scham ist mir inzwischen eine vertraute Begleiterin in meinen Therapiesitzungen. Blitzschnell taucht sie auf, wenn wir – Klient und Therapeut – Neuland betreten. Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden dieses Phänomen kennen: Wenn Sie beispielsweise zum ersten Mal in einem neuen Urlaubsland essen gehen und noch nicht mit den dort herrschenden Sitten und Umgangsformen vertraut sind und deshalb schüchtern in der Hoffnung um sich blicken, durch Beobachtung Sicherheit zu bekommen. Ralf also hatte Neuland betreten. Für einen Augenblick spürte er Rührung, und in mir stieg Wärme für ihn auf.
Gut erinnere ich mich noch an den Druck, den ich als Therapeut empfand, wenn Ralf – unzufrieden über die kaum merklichen Veränderungen – den »Therapieerfolg« zu quantifizieren versuchte. Stichworte auf seinem Schreibblock notierend, wollte er »Fortschritt« erzwingen. Oft befürchtete ich, dass seine Ungeduld (wieder ein Gefühl!) die Oberhand gewinnen könnte, und er die Therapie abbrechen würde. Doch alles änderte sich, als er sich entschied, an einem meiner Workshops auf Kreta teilzunehmen.
Ich sehe das Bild noch klar und lebendig vor mir: Aufgeregt, ja aufgelöst erschien Ralf zur dritten Gruppensitzung. Es war am Vormittag. Er hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Viel geweint. Weinte immer noch. Jung sah er dabei aus, wie ein Jugendlicher. Er habe entdeckt, dass er Mitgefühl habe, sagte er zwischen zwei heftigen Tränenwellen. »Dieses Gefühl habe ich schon seit Jahren nicht mehr empfunden. Zuletzt als Kind oder Jugendlicher. Ich kann den Schmerz der anderen Teilnehmer mitfühlen, als sei es mein eigener Schmerz.« Wieder musste er weinen. »Ich fühle mich so sehr verbunden. In Beziehung. In Kontakt. Dazugehörig. Und nicht mehr einsam.« Während seine Tränen wieder flossen, blickte ich – auch mit Tränen in den Augen – in der Gruppe herum. Fast alle weinten mit ihm, waren ihm verbunden. Seelen berührten sich sanft und traurig. Martin Buber hat die seelische Verbindung zwischen Menschen das »Zwischen« genannt. Dieses »Zwischen« ist mehr als nur die Summe der anwesenden Personen. Das »Zwischen« hat eine eher spirituelle Qualität. Gerade in Gruppen, in denen Menschen sich vorbehaltlos und angstfrei in »Ich-Du-Beziehungen« treffen, bekommt dieser Kontakt, diese Seelenbegegnung eine besonders heilende Kraft.
Seit diesem Augenblick an jenem Morgen im Workshop auf Kreta hat sich Ralfs Leben grundlegend verändert. Einen Tag später sprach er von seiner Sehnsucht nach seiner Frau, seinen Töchtern und nach zuhause. Zurück in Deutschland fragte er telefonisch bei mir nach, ob er und seine Frau ab jetzt zusammen zur Therapie kommen könnten. Ich freute mich und sagte zu.
Tränen
Tränen sind also nicht gleich Tränen. Es gibt Tränen der Rührung. Tränen der Reinigung, etwa um Schmutzpartikel aus dem Auge zu waschen. Tränen der Trauer. Nicht gelebte Trauer lässt Menschen farblos und blass werden. Aktivität und Kreativität erlahmen. Soziale Kontakte schwinden. Und auch die berufliche Leistungsfähigkeit geht zurück. »Wenn ich jetzt weiterreden würde, dann müsste ich mit Sicherheit weinen, und dann befürchte ich, dass ich – in der nächsten Woche – nicht mehr in der Lage bin, meine vielfältigen beruflichen Anforderungen und Aufgaben zu erfüllen.« (So ein Teilnehmer, dem schon dann, wenn er die liebevolle Aufmerksamkeit der anderen teilnehmenden Männer auf sich ruhen spürte, gerührt die Tränen an den Wangen herabliefen.) Viele Männer, die – bedingt durch ihre Sozialisation – doch eher »Weltgestalter« denn »Innenarchitekten« sind, scheuen selbst vor einer bereits als notwendig anerkannten Therapie zurück, weil sie glauben, diese könne ihre Leistungsfähigkeit schmälern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Erfahrungsgemäß kostet die Auseinandersetzung mit vorhandenen Problemen, Ängsten, Sorgen… weniger seelische Kraft, als die Vermeidung der Auseinandersetzung.
Manchmal erleichtert die Sorge um die berufliche Leistungsfähigkeit sogar den Zugang zu der eigenen Seele. Berufliche Supervision und Führungs-Coaching sind neue Aktionsbereiche der Psychotherapie. Immer mehr Menschen in verantwortlichen Positionen nehmen diese Möglichkeiten gern wahr, wenn sie beispielsweise entdecken, dass Trainings in Arbeitstechniken und Zeitmanagement ihnen nicht ausreichen. Wenn sie feststellen, dass für Veränderungen im Berufsalltag mehr erforderlich ist, nämlich auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Person.
Menschen in Therapie
Männer, die heute in die Psychotherapie kommen oder an einem Männerseminar teilnehmen, sind keine Exoten mehr. Eher Durchschnittsmänner, die das Gefühl haben, an ihre persönliche Wachstumsgrenze gestoßen zu sein. Nur selten sind es »männer-bewegte« Männer. Und wenn doch, so haben sie mit den alten Männergruppen meist nicht nur gute Erfahrungen gemacht.
Die Geschichte über Ralf erschien ursprünglich unter dem Titel »Männer in Therapie«. Er hätte genauso gut »Menschen in Therapie« heißen können. Also – Thema verfehlt? Vielleicht hätte ich mehr über spezifische Männerthemen schreiben sollen – das Verhältnis zum Vater, das Verhältnis zu Frauen, Mann und Arbeit, Mann und Leistung, Mann und Körper, Mann und Sexualität, … Und doch würde ich diesen Text noch einmal ebenso schreiben. Denn wichtiger als die Inhalte ist die Form, wichtiger als die Therapiethemen ist der therapeutische Ansatz. Warum? Einmal sind sich die männlichen und weiblichen »Erdlinge« erfahrungsgemäß doch eher ähnlich als unähnlich. Und zweitens geht es im Gestalttherapie-Ansatz sehr stark um eine bestimmte Form der Erfahrung und Wahrnehmung.
Gestalttherapie arbeitet an einer Veränderung des Wahrnehmungsverhaltens. Wahrnehmung soll aktiver und selbstbestimmter werden. Aktive und selbstbestimmte Wahrnehmung fördert aktive und selbstbestimmte Handlungen. Gestalttherapie will den Alltag »dramatisieren«. Freude und Leid, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Geborgenheit und Sehnsucht, Oben und Unten werden intensiver empfunden. Der Wechsel zwischen diesen Gefühlspolen geschieht leichter, schneller, dünnflüssiger. Langeweile wird langweiliger. So ergibt sich die Notwendigkeit einer verändernden Handlung. Die Gestalt »Langeweile« wird auf diese Weise immer klarer und farbiger. Energie fließt kraftvoller. Und ebenso wird die Handlung entschiedener und wirkungsvoller. Gestalt fördert Gewahrsein. Und Gewahrsein fördert kräftige Handlungen.
Aber: Ist Therapie nicht doch nur eine künstliche Situation, die nichts weiter mit dem Alltag, dem normalen Leben zu tun hat? Ja, tatsächlich ist das therapeutische Setting eine künstliche Situation. Sie ist genauso künstlich wie die monadenhaften Kleinfamilien, in denen die meisten Menschen der Industrienationen leben. Künstlich, weil bedingt durch die Industrialisierung die bis dahin üblichen Mehrgenerationenfamilien aufgelöst wurden. Mit diesen Großfamilien starben auch wichtige soziale Funktionen, die diese Familien wahrnahmen und sicherten. Einsamkeit war dort jedenfalls kein Thema. Auch nicht für die Alten. Und heute sind diese fehlenden sozialen Funktionen häufig professionalisiert worden. Kranken- und Altenpflege sind ein Beispiel dafür. Ebenso Psychotherapie.
Hier ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass Therapie auch eine gesellschaftliche Verantwortung trägt. Ihre Aufgabe ist es nicht bloß, Leiden – auch das an der Gesellschaft – zu lindern, Menschen also einfach wieder funktionsfähig zu machen, sie in ihre gesellschaftlich vorgeschriebenen Lücken einzupassen und sie so im Nebel der gesellschaftlich opportunen Mittelmäßigkeit zu versenken. Therapie – jedenfalls Gestalttherapie, wie ich sie verstehe – muss manchmal genau das Gegenteil tun, wenn sie ethisch verantwortlich sein will. Sie muss Menschen im Prozess des Gewahrwerdens (bezüglich sich und anderen) unterstützen. Das kann bedeuten, dass Leid zuerst noch leidvoller erfahren wird. Ähnlich wie homöopathische Medikamente zuerst einmal die Krankheitssymptome verschlimmern können. Sensibilisierung ist demnach die Aufgabe der Gestalttherapie. Nicht Desensibilisierung. Und sensible Menschen sind keineswegs gesellschaftlich pflegeleichter. Eher werden sie zu lebendigen Mahnmalen eines vollen Menschseins, zu »Sand im Getriebe«, wenn sie nicht mehr bereit sind, sich mit den vorgefundenen »normalen« Gegebenheiten vorschnell zu versöhnen.
Tatsächlich kommen jetzt – und dies erfüllt mich mit großer Freude – immer mehr Männer in die Therapie. Aber nicht weil sie an besonderen Männerthemen arbeiten wollen, sondern weil sie sich in ihrem Menschsein eingeschränkt fühlen.
Dieser Text erschien in anderer Form zuerst unter dem Titel »Befreiung zum Menschsein. Gestalttherapie mit Männern« in der Zeitschrift »Aspekte«, 3. Jg., Heft 2, 15. Mai 1993.
ZWEI PAARE
Für viele Menschen beginnen Partnerschaften noch wie ein Märchen oder zumindest mit der Hoffnung – sei sie eingestanden oder nicht –, dass Träume wahr werden: Vom guten Leben miteinander, vom wechselseitigen Verstehen, von Sicherheit, von Innigkeit, vom Glück. Manchmal werden solche Märchen wahr, oft aber verfliegen die Träume, tritt die Ernüchterung ein oder gar Enttäuschung. Manchmal geschehen Märchen einfach. Oft aber, vielleicht meistens sogar, muss das Glück verdient, erarbeitet werden.
Hilarion Petzold
Renate und Martin
Renate und Martin habe ich über rund zwei Jahre begleitet. Ihre Beziehung war von Anfang an schwierig gewesen. Renate war wenige Monate, nachdem die beiden zusammengefunden hatten, schwanger geworden. Beide hatten sich für »das Kind« entschieden. Und die Zwillinge – Gesa und Meike – waren inzwischen zur Welt gekommen und fast zwei Jahre alt.
Die beiden waren kurz nach der Geburt der Zwillinge zu mir in die Praxis gekommen. Aber über die Therapie möchte ich gar nicht weiter berichten. Mir geht es hier viel mehr um das Ende der Begleitung der beiden. Die Paartherapie war nicht erfolgreich – in dem Sinne, dass die beiden besser zusammengefunden hätten. Es war zwar immer klar, dass die beiden sich liebten. Doch, wie wir wahrscheinlich alle schon erfahren mussten, reicht Liebe allein für eine glückliche Ehe nicht aus.
Irgendwann jedenfalls entschieden sie, ihr mühevolles Projekt »Beziehung« als gescheitert anzusehen. Sie fragten bei mir an, ob ich sie bei ihrer Trennung begleiten könne. Es war ihnen wichtig, sich auf eine gute Weise zu trenne...
Inhaltsverzeichnis
- Über den Autor
- Inhaltsverzeichnis
- Widmung
- Leserstimmen
- Weinen angesichts von Schönheit
- Heilung und Erzählen – einleitende Gedanken
- Was ist Gestalttherapie?
- Die Arbeit der Klienten
- Die Arbeit der Therapeuten
- Autobiographische Skizzen
- Bonus Tracks
- Weitere Informationen
- Impressum