1. AKT
Die neueren filmischen Entwicklungen scheinen vor allem die Vielfalt zu fördern: Auffällig ist die thematische wie ästhetische Bandbreite internationaler, modern erzählter Serien wie GAME OF THRONES, HOUSE OF CARDS oder DIE BRÜCKE; daneben existiert die interaktive Welt der Games mit Geschichten, die sich besonders für ein transmediales Storytelling eignen; im öffentlich-rechtlichen Fernsehen dominieren Krimiserien und TV-Movies; in der deutschen Kinoproduktion lässt sich eine Kluft feststellen zwischen publikumsstarken Kinokomödien wie FACK JU GÖHTE und WILLKOMMEN BEI DEN HARTMANNS sowie einer Fülle von kleinen Produktionen mit einer jeweils begrenzten Zielgruppe. Nur selten gibt es internationale Festivalgewinne wie bei TONI ERDMANN, der außerdem, mit knapp 900.000 Zuschauern, ein beachtenswerter Publikumserfolg ist. Die Erzählweisen, Nutzungsarten und Aufmachungen dieser Produktionen scheinen grundsätzlich nur noch wenig miteinander gemein zu haben.
Die Entwicklung von der Einheit zur Vielfalt spiegelt sich auch in der Dramaturgie. In einem chronologischen Abriss und in groben Zügen werde ich zu Beginn den Werdegang des dramaturgischen Verständnisses und dessen Rezeption in Deutschland seit den 90er Jahren nachvollziehen. Dabei wird deutlich, dass sich durch gängige, aber auch neuere dramaturgische Handbücher, so von John Truby und anderen, im Laufe der Zeit zwar unterschiedliche Herangehensweisen etabliert haben. Doch bleiben diese letztlich einer zentralen Perspektive verhaftet, bei der wesentliche dramaturgische Aspekte wie Empathie, Raumgestaltung oder Stil nur in Einzelfällen erwähnt werden.
RÜCKBLICK AUF DIE GROSSEN EINHEITSSTIFTER
Ende der 80er Jahre wächst in Europa und Deutschland das Bedürfnis, Drehbuchschreiben nicht mehr nur als Mischung aus Talenten und Erfahrungswerten zu verstehen, sondern auch als Handwerk. Erste Orientierung bieten amerikanische Handbücher, allen voran „Screenplay. The Foundations of Screenwriting“ 3 und andere Bücher von Syd Field. Damit etablieren sich auch im deutschsprachigen Raum dramaturgische Ideale mit dem Anspruch, ein Modell für alle Geschichten aufzuzeigen. Sie zeigen die Freude an dem Gedanken, dass es tradierte Grundprinzipien guten Erzählens gibt, die es zu ergründen und anzuwenden gilt. Robert McKee propagiert: „Wir brauchen eine Wiederentdeckung der grundlegenden Lehrsätze unserer Kunst, der Leitprinzipien, die Talente freisetzen.“ 4 Dahinter steht die Vorstellung, dass Erzählen in bestimmten Mustern universales menschliches Erleben spiegelt – oft zurückgeführt auch auf die Mythosstudien von Joseph Campbell und die spirituell ausgerichtete Psychologie von Carl Gustav Jung. So schreibt Robert McKee: „Die archetypische Story bringt eine universale menschliche Erfahrung ans Licht und findet dann einen einmaligen kulturspezifischen Ausdruck.“ 5 Noch über die individuelle Biografie hinaus meint „universal“ im Kontext einer solch „archetypischen Story“ oder Heldenreise zumeist eine hinter dem Wahrnehmbaren existierende, für alle gleichermaßen geltende Wahrheit. Nach Campbell ist diese in ganz unterschiedlichen tradierten Geschichten aus allen Kulturen und Zeiten (Mythen) zuverlässig zu erkennen.6 Für den auch in Deutschland viel gelesenen Filmdramaturgen Christopher Vogler entsteht der Eindruck, dass „die Reise des Helden tatsächlich irgendwo existiert – als ewige Wirklichkeit, als platonische Urform des Seienden, als göttlicher Entwurf.“ 7 Seinen Erfolg in der Stoffentwicklung bezieht nicht nur Voglers Modell aus dem Gedanken, dass die Zuschauerin dieselbe „ewige Wirklichkeit“ oder Wahrheit in sich trägt. Anders gesagt: Die Zuschauerin durchläuft auf dem Weg zur Entwicklung ihres Selbst dieselben Stadien wie der Held, der im Laufe der Reise seine anfängliche Charakterschwäche überwindet. Die Zuschauerin berühren deshalb Geschichten tief und nachhaltig, wenn deren Plot stark am Modell dieses sogenannten Monomythos orientiert ist und deren Figuren nach archetypischen Mustern entwickelt sind. Grundlage für zahlreiche Drehbuchmodelle bildet also ein mystisches Menschenbild, für das die Weiterentwicklung oder Reifung des sogenannten Selbst etwas dem Menschen a priori Gegebenes ist – nicht nur eine mögliche Interpretation oder Dramatisierung von zumeist episch erzählten Mythen oder eine weit verbreitete Sehnsucht oder ein häufiges, aber nicht notwendiges Streben. Eine weitere Begründung erfährt diese Prämisse nicht.
Die andere, etwas greifbarere Bezugsgröße, auf die sich viele Modelle beziehen, ist Aristoteles. Er schreibt in der „Poetik“ 8 über die griechische Tragödie, die sich auch aus den lokalen Mythen speist. Aristoteles definiert die Tragödie als geschlossene Handlung mit einem Helden, der sein Unwissen oder seine Charakterschwäche nicht überwindet, sondern gerade durch sie ins Unglück stürzt (im Gegensatz zur Heldenreise). Beim Zuschauer erregt dies Furcht und Mitleid und führt schließlich zu seiner Katharsis.9 Der Autor Gustav Freytag veröffentlicht 1863 mit „Die Technik des Dramas“ ein viel beachtetes Lehrbuch, in dem er die aristotelische Tradition als Ausgangspunkt der Theaterdramaturgie10 beschreibt. Er fasst das ideale Drama in eine pyramidale Form – von der Exposition ansteigend, nach einem Höhe- oder Mittelpunkt wieder fallend, hin zur Katastrophe. Eine solch bogenförmige Struktur findet sich auch in der Filmdramaturgie.11 In Anlehnung an die aristotelische Poetik geht es dabei außerdem um die Einheit der Handlung; alle Elemente haben eine Funktion für das Gesamte der Geschichte. Des Weiteren erzählt die Drei-Akt-Struktur eine Entwicklung des Protagonisten, die ebenfalls eine kathartische, zumindest emotionale Wirkung auf die Zuschauerinnen hat. Abgeleitet wird daraus eine aktive Hauptfigur mit einem konkreten Ziel, die die äußere Handlung gegen größtmögliche Widerstände und erschütternde Erlebnisse vorantreibt, verbunden mit ihrer inneren Entwicklung.
Unterschiede zur Dramentheorie des Theaters werden im Filmbereich selten diskutiert. Wie auch von Gustav Freytag benannt, spielt beispielsweise die Peripetie, der Umschwung der Handlung, in der Mitte der Geschichte traditionell eine noch signifikantere Rolle als der Midpoint eines Films.12 Auch ein heutiges dramaturgisches No-Go wie ein „Deus-ex-machina-Schluss“ 13 war üblich in der antiken Tragödie und im Sinne Aristoteles’. Insgesamt scheint der ständige Rückbezug auf Aristoteles eine sehr gut nutzbare, in Details aber mehr oder weniger ungenaue Interpretation zu sein.
Es lässt sich also festhalten: In den 90er Jahren ist der Rückbezug auf zwei große dramaturgische Einheitsstifter Usus – die Heldenreise und die aristotelische Poetik. In manchen Handbüchern wird gleich auf beide Bezug genommen; sie müssen nicht unverbunden nebeneinander betrachtet werden. Von Christopher Vogler wird eine elegante Querverbindung formuliert: „Selbstverständlich durchzieht das mythische Bewusstsein auch Aristoteles’ Idee des Dramas, denn viele Schauspiele, über die er schrieb, entsprangen unmittelbar den Mythen der Kultur, in der er lebte.“ 14
Im Laufe der Jahre etabliert sich damit eine dramaturgische Tradition, die in großen Teilen an eine standardisierte Interpretation altbewährter Formen angelehnt ist, sich dabei aber zumeist als undogmatisch erklärt.15 Sie bietet Orientierung, weil sie den Genius (oder die Begabung oder die Sehnsucht danach) mit dem Handwerk konfrontiert. Sie gibt dem bislang Ungeordneten eine Sprache, die als überaus schwierig und wertvoll behauptet wird, aber erfreulicherweise als Handwerk erlernbar ist: „Das bemitleidenswerte Individuum, das den inneren Drang verspürt, fürs Kino zu schreiben, braucht neben Talent noch eine ganze Menge mehr. Zum Glück handelt es sich dabei um Dinge, die erlernbar sind.“ 16
Viele dramaturgische Überlegungen, die in dieser Zeit wurzeln, beantworten die Frage „Wie erzählt man eine gute Geschichte?“ mit Rückbezug auf einen allem zugrunde liegenden Ursprung, einer Art menschlicher Essenz, die die dramatische Form bestimmt.
In diesem immer ähnlichen Gefüge gibt es trotzdem viel Raum für unterschiedliche Inhalte. Das zeigen im deutschen Kino so unterschiedliche Beispiele wie KNOCKIN’ ON HEAVENS DOOR, 7 ZWERGE – MÄNNER ALLEIN IM WALD und VIER MINUTEN, die sich leicht im Sinne der Lehrbücher interpretieren und verstehen lassen. Darüber hinaus sind innerhalb des einen Musters auch zahlreiche formale Spielarten und Varianten möglich, ohne das Grundprinzip zu verletzen – vom ziellosen Protagonisten über den Ensemblefilm bis zur Zeitschleife wie in LOLA RENNT. Dort wird in drei aufeinanderfolgenden, dramatisch aufgebauten Episoden auf die jeweils selbe Zielfrage („Wird Lola es schaffen, in zwanzig Minuten 100.000 DM aufzutreiben?“) stets eine andere Antwort gegeben.17 Nicht nur dieses Beispiel zeigt: Das Einheitsprinzip bietet viel Platz für Originalität – einerseits.18
Andererseits tragen die Dramaturgien der 90er Jahre die Gefahr von Wiederholung und Abnutzung in sich. Zahlreiche dramaturgische Aspekte finden im Rahmen der gängigen einheitlichen Überlegungen zu wenig Raum, um die Möglichkeiten des Erzählens auszuweiten oder reichhaltiger zu gestalten. Oft vage oder oberflächlich behandelt wird der Bereich der Figurenentwicklung. Die psychologische Dimension einer Figur ist mit Vorgeschichtenverletzung, Need und innerer Entwicklung erst sehr grob erfasst. Hier haben sich neben anderen vor allem Überlegungen der Dramaturgin Linda Seger etabliert. Sie beschreibt ausführlich die Idee der Backstory einer Figur, die sich auch in anderen Handbüchern findet. Darüber hinaus führt sie zahlreiche Kategorien aus der Psychologie an wie Hinweise auf das Unbewusste, aber auch die Einteilung der Temperamente in melancholisch, sanguinisc...