1. Eine kleine Geschichte des Reisens
Lars Frühsorge
Die Geschichte des Reisens ist mit Migrationen, Kriegszügen und Handelsfahrten so alt wie die Menschheit selbst. Auch Pilgerreisen sind ein sehr altes und in allen Weltreligionen verbreitetes Phänomen. Und selbst touristische Reisen sind seit der Antike nachweisbar. So berichten römische Quellen von Bildungsreisen zu griechischen Tempeln, von Nilschiffern, die ihren Passagieren ein dramatisches Showprogramm boten, von Souvenirgeschäften und dem lautstarken Nachtleben der Ferienorte am Mittelmeer. All dies blieb jedoch der Oberschicht vorbehalten und Reisen beschränkten sich auf die Grenzen des Römischen Reiches, weshalb diese frühe Blüte des Tourismus mit dem Zerfall des Reiches ebenfalls endete.
Auch mittelalterliche Pilgerreisen nach Jerusalem ähneln in gewisser Weise modernen Touristenreisen. Sie waren durch professionelle Reiseführer straff organisiert und die Pilgergruppen blieben meist unter sich, so dass es zu keinen nennenswerten Kontakten mit den Einheimischen oder Reisenden aus anderen Ländern kam.
In der Neuzeit entstand mit der Kavaliersreise oder „Grand Tour“ eine neue Form der Bildungsreisen. Durch den Besuch antiker Stätten, durch das Studium von Kunst und antiker Sprachen, aber auch durch Besichtigung moderner Festungen und Fabrikanlagen sowie Aufenthalten an fremden Fürstenhöfen sollten Adelssöhne auf ihre spätere Tätigkeit vorbereitet werden. In der Praxis boten diese Reisen den jungen Adligen aber auch Chancen, den strengen Regeln des höfischen Lebens zu entfliehen, dem Glücksspiel zu frönen oder Kontakte mit der Damenwelt zu knüpfen. Trotzdem glaubt der Historiker Thomas Freller, dass die vielgereisten Adelsfamilien jener Zeit dem Gefühl eines vereinigten Europas näherkamen, als es in der heutigen Europäischen Union der Fall ist.
Ein wichtiges Erbe jener Epoche sind die Wunderkammern, in denen Fürsten neben Fossilien und anderen Naturalien auch archäologische Funde und Objekte aus fremden Kulturen sammelten. Besonders altägyptische Artefakte und Kunst aus China erfreuten sich schon damals größter Beliebtheit. Allerdings stand hinter diesen Sammlungen weniger der Wunsch nach einem Verständnis fremder Kulturen, sondern eher ein Bedürfnis, Reichtum und Macht zu demonstrieren, um Besucher zu beeindrucken.
Abgesehen von dem Heiligen Land beschränkten sich solche Privatreisen bis in das 18. Jahrhundert aber noch weitgehend auf Westeuropa. Nur sehr abenteuerlustige Personen wie der berühmt-berüchtigte Fürst Pückler besuchten auch Nordafrika oder Persien. Der Einfluss dieser wenigen Reisenden sollte trotzdem nicht unterschätzt werden. So lösten ihre Reiseberichte in Europa nicht nur eine Begeisterung für islamische Kunst und Architektur aus, sondern prägten auch Klischeevorstellungen über Harems, despotische Herrscher und „den Orient“, die bis heute in der Werbung und den Erwartungen vieler Reisender überdauern. Das haben auch Tourismusunternehmen erkannt, und passen durch entsprechende Hotelarchitektur oder Folkloreshows die oftmals wenig pittoreske Lebenswirklichkeit jener Länder an die europäischen Fantasien an.
Erst im 19. Jahrhundert begann mit neuen Verkehrsmitteln wie Dampfschiffen und der Eisenbahn ein Prozess, den ich als eine Demokratisierung des Reisens bezeichne. Durch die weltweite Ausdehnung der europäischen Kolonialreiche und dem darauffolgenden Ausbau der Infrastruktur wurde es letztlich nicht nur Adligen, sondern auch reisefreudigen Bürgern möglich, Länder zu bereisen, die man zuvor nur aus den Berichten früher Forschung und Eroberer kannte. So kam es auch zur Gründung erster Reiseunternehmen, wie dem von Thomas Cook, der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits erste Kreuzfahrten, Ägyptenreisen und 1872 sogar eine komplette Weltreise anbot. Auch die Entstehung gedruckter Reiseführer wie dem Baedeker erleichterte das Reisen und erlaubte es besonders unverheirateten Frauen, endlich ohne männliche Aufpasser zu reisen.
Angetrieben von der Aufklärung, und auch bedingt durch die Schattenseiten der Industrialisierung, veränderten sich im 18. und 19. Jahrhundert zudem die Weltsicht und Erwartung von Reisenden. Hatten Berge und Ozeane zuvor als bedrohlich gegolten, begann man mit der Romantik auch die Schönheit dieser Orte zu erkennen, was die Entstehung von Seebädern und des Alpinismus zur Folge hatte. Zugleich entwickelte sich eine Art „literarischer Tourismus“, bei dem es nicht um eigene Entdeckungen ging, sondern darum, Wirkungsstätten bekannter Literaten und Schauplätze ihrer Romane kennenzulernen oder die Erlebnisse früherer Reiseschriftsteller nachzuempfinden.
Einen guten Einblick in die Welt dieser frühen Touristen offenbaren die Reiseberichte des Lübeckers Gustav Pauli (1824-1911). Von der Postschiffreise zum Nordkap bis zum indischen Taj Mahal, von seiner Begeisterung für Kroatien und Kreta bis zu seiner Kreuzfahrt nach Australien und Hawaii weisen seine Reiserouten bereits erstaunliche Ähnlichkeiten mit unseren heutigen globalen Touristenströmen auf. So konnte er in den 1860er und 70er Jahren in Ägypten bereits eine Art All-Inclusive-Urlaub genießen, Madeira erschien ihm hingegen schon von britischen Kurgästen überlaufen. Auf den Kanaren traf er sogar erste deutsche Aussteiger. Lediglich auf Mallorca beklagte er sich noch über das Fehlen von Hotels und die geringe Gewöhnung der Spanier an Touristen. Somit waren Ende des 19. Jahrhunderts, also in jener Zeit, in der unsere Ausstellung einsetzt, bereits die wesentlichen Grundlagen des modernen Tourismus geschaffen.
Natürlich gab es auch im 20. Jahrhundert Ereignisse, die den heutigen Tourismus beeinflussen. So zogen etwa die Nordlandreisen von Kaiser Wilhelm II. bald auch bürgerliche Kreuzfahrten bis in das ferne Spitzbergen nach sich, die in ähnlicher Form bis heute angeboten werden. Ebenso ist es auffällig, dass sich unter unseren bevorzugten afrikanischen Reisezielen der Deutschen mit Namibia und Tansania zwei ehemalige deutsche Kolonien größter Beliebtheit erfreuen. Aber auch die „Kraft durch Freude“-Reisen des Nationalsozialismus oder der seit den 1970er Jahren boomende männliche und weibliche Sextourismus in Südostasien, Afrika oder der Karibik dürfen in einer Entwicklungsgeschichte des Tourismus nicht unerwähnt bleiben. Schließlich sind die Erfindungen weiterer Verkehrsmittel wie dem Automobil oder des Flugzeugs zu nennen, die das Reisetempo und die Zahl der Touristen im 20. Jahrhundert noch einmal deutlich erhöhten. Aber selbst die zahllosen sonnenhungrigen Deutschen, die seit den 1960er Jahren Sommer für Sommer mit dem Auto die Alpen gen Italien überqueren, reisen in gewisser Weise auf den Spuren von Goethes Italienreise und besuchen Ziele, die schon zum Reisekanon der „Grand Tour“ gehörten. Bewusst oder unbewusst ist jede Reise also immer von unserer eigenen Geschichte geprägt.
Zum Weiterlesen
Frühsorge, Lars (2018) Gustav Pauli (1824-1911). Die Reiseberichte und Sammlungen eines frühen Weltreisenden aus Lübeck. Lübeck: Schmidt-Römhild.
Freller, Thomas (2007) Adlige auf Tour: Die Erfindung der Bildungsreise. Ostfildern: Thorbecke.
Hachtmann, Rüdiger (2007) Tourismus-Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Lomine, Loykie (2005) Tourism in Augustan Society (44 BC - AD 69). In: Histories of Tourism: Representation, Identity and Conflict, John K. Walton. Clevedon: Channel View: 71-87.
Pauselius, Peter (2015) Weltreisende. „…aus Preetzer Geschichte…” Nr. 22: 69-80.
Zuelow, Eric G. E. (2016) A History of Modern Tourism. New York: Palgrave MacMillan.
Postkarten aus Äthiopien, 1930er Jahre (Sammlung Bruns)
Dorfleben in Nigeria, 1960er Jahre (Foto: Ludwig Orth)
2. Die Reisenden und ihre Objekte
Lars Frühsorge
Zu Beginn unseres Ausstellungsprojektes war noch alles möglich. Niemand hatte eine Vorstellung, wie viele Reisende sich auf unseren Aufruf in der Presse melden und wie ergiebig ihr Material sein würde. Ich wusste aber, dass Gutsherren aus dem Preetzer Umland bedeutende Reisen unternommen hatten. Victor von Plessen etwa bereiste Indonesien in den 1920er und 30er Jahren und dokumentierte seine Reisen in Sammlungen, Gemälden und Filmen. Von der Reiselust der Familie Johanssen zeugt hingegen ein chinesischer Altar in der Lübecker Völkerkundesammlung, mehr noch aber die Kapelle Sophienhof, deren Architektur sich an osteuropäischen Kirchen orientierte. Auch hatte Peter Pauselius schon 2015 Preetzer Zeitungsberichte über Reisende des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Und schließlich hätte ich mit meiner eigenen Sammlung aus 60 Ländern fehlende Exponate leicht ergänzen können.
Tatsächlich war die Resonanz aber so groß, dass wir uns ganz auf bürgerliche Reisen vom späten 19. Jahrhundert bis heute konzentrierten. Und obgleich wir so viele Objekte wie möglich ausstellen wollten, war klar, dass wir all den Geschichten hinter den Exponaten niemals gerecht werden konnten. So erwuchs in mir der Wunsch, dieses einmalige Ensemble von Objekten in Buchform zu dokumentieren und dabei auch die Reisenden selbst, gewissermaßen als Zeitzeugen der Tourismusgeschichte, zu Wort kommen zu lassen.
Auch aus wissenschaftlicher Sicht schien so ein Vorhaben vielversprechend, da sich die meisten Veröffentlichungen zur Geschichte des Reisens nur mit früheren Epochen, mit prominenten Reisenden und Reiseunternehmen, mit bestimmten Destinationen oder speziellen Reiseformen befassen. Die individuelle Erfahrung und Wahrnehmung von bürgerlichen Reisenden des 20. Jahrhunderts ist dabei eindeutig zu kurz gekommen, was ich nicht nur als Historiker, sondern auch als Ethnologe sehr bedauere. So stammt ein Großteil unseres Wissens über außereuropäische Kulturen aus Reiseberichten von Europäern. Die Frage, wie der Zeitgeist und die persönlichen Interessen dieser Reisenden ihre Wahrnehmung beeinflusst hat, wie tief sie überhaupt in fremde Kulturen eintauchen konnten, ist für die Ethnologie von zentraler Bedeutung. Diese Frage nach der Wahrnehmung von Reisenden stellt sich aber nicht minder für die heutige Zeit. Sie bleibt für ein friedliches Miteinander essentiell und gewinnt durch die digitalen Medien, in denen Reisende ihre Erlebnisse quasi in Echtzeit mit der Welt teilen, ganz neue Bedeutung.
Da die Autor*innen größtmögliche Freiheit haben sollten, fielen ihre Artikel vielfältig aus. Manche beschreiben ganze Reisen, andere nur einzelne Erlebnisse oder Objekte. Manche Texte basieren auf Tagebuchaufzeichnungen, andere sind aus dem Gedächtnis oder in gemeinsamen Gesprächen rekonstruierte Erinnerungen. Leider konnten nicht alle Leihgeber*innen Beiträge verfassen, und Reisen aus der Zeit vor 1945 sind ohnehin nur noch in Form von Erbstücken präsent. So wird im Folgenden zunächst die Gesamtheit der Objekte und Sammler*innen in Form eines imaginären Gangs durch die Ausstellung präsentiert.
Licht aus dem Osten
Für die Präsentation der Objekte wählten wir eine zeitliche und thematische Abfolge. So sieht man schon vor Betreten der eigentlichen Ausstellungsräume drei Leihgaben, die sich dem Thema des Reisens in unterschiedlicher Weise annähern.
Als eine Art Begrüßung dient ein persischer Teppich mit Zitaten des Dichters Hafis. Der Leihgeber Jürgen Plischke gehört zu dem Team, das für die Preetzer Kirchengemeinden ökumenische Reisen organisiert. Als Mitbringsel von einer dieser Reisen verweist der Teppich einerseits auf eine beachtliche Tradition selbstorganisierter Gruppenreisen, zu denen auch frühe Exkursionen der Preetzer Volkshochschule nach Nordafrika oder in die Sowjetunion zählen. Andererseits soll uns der Teppich an die Faszination erinnern, die wir Europäer seit jeher für den sogenannten „Orient“ empfinden, eine Begeisterung, die in Zeiten zunehmender Fremdenfeindlichkeit leicht in Vergessenheit gerät. Schon die alten Griechen und Römer waren von der persischen Kultur fasziniert, deren Wissenschaftler bis in das Mittelalter europäischen Gelehrten in vielen Bereichen weit voraus waren. Im 19. Jahrhundert glaubte man frei nach dem Motto „ex oriente lux“ (Licht aus dem Osten) gar, dass die gesamte menschliche Kultur im Nahen Osten ihren Ursprung hatte. Speziell die Werke des Dichters Hafis wurden von Literaten wie Goethe sehr geschätzt, der seiner Islambegeisterung in seinem „West-östlichen Divan“ 1819 lyrischen Ausdruck verlieh.
Ein Zelteingang aus dem indischen Bundessstaat Rajasthan, durch den man die Ausstellung betritt, machen das Eintauchen in einen anderen Kulturraum symbolisch erfahrbar. Der Stoff zeigt Pflanzen, Tiere, tanzende Menschen und Hindu-Gottheiten wie den elefantenköpfigen Ganesha, der Besucher beim Eintritt segnen und ihnen Glück bescheren soll. Für Diskussionen sorgten jene Zeichen, die einige Gäste als Hakenkreuze zu erkennen glaubten. Tatsächlich sind solche Swastikas schon seit Jahrtausenden u.a. als Glückszeichen und Sonnensymbole weltweit verbreitet und haben für Millionen von Menschen nicht die problematische Bedeutung, die wir mit ihnen verbinden. In diesem Sinne sollte der Zelteingang auch dazu anregen, bestehende Vorstellungen über scheinbar Bekanntes zu hinterfragen und sich auf die Glaubenswelt einer anderen Kultur einzulassen. Dass diese Zeltstoffe von Dr. Christian Stocks stammen, der als Diplomat auch beruflich eine kulturelle Mittlerfunktion hatte, lässt dieses Objekt umso passender erscheinen.
Ein drittes Objekt, das kurz vor der Eröffnung als Leihgabe unseres Bürgermeisters hinzukam, ist ein Wisent aus Pappmaché, der von Schüler*innen aus unserer Partnerstadt Tapa in Estland gestaltet wurde. Auch wenn es sich somit eher um ein Gastgeschenk handelt, verweist es doch auf die besonderen Beziehungen von Preetz zu Menschen im Osten Europas.
Händler in der Pampa
In den eigentlichen Ausstellungsräumen angekommen erwarten uns als ...