IV Sigmund (Teil 1)
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IV 7. Die Wolfs-Königin
Hier wird berichtet, wie fast alle Söhne des Königs Völsung sterben.
IV 7. a) Völsungen-Saga
Als Signy sah, daß ihr Vater getötet und ihre Brüder ergriffen und dem Tod bestimmt waren, bat sie König Siggeir zur Seite um mit ihm zu sprechen und sagte: „Dies will ich von Dir erbitten, daß Du meine Brüder nicht eilig töten läßt, sondern sie für eine Zeitlang in den Fußblock legst, denn ich erinnere mich an das Sprichwort, das sagt 'Süß dem Auge, solange es gesehen wird'. Aber ich werde nicht um längeres Leben für sie bitten, denn ich weiß, daß diese Bitte mir nichts nutzen wird.“
Der Fußblock ist eine Form des Prangers und besteht aus zwei Balken mit Einkerbungen, in denen die Fesseln der Beine eingesperrt werden, sodaß der Betreffende nicht mehr laufen kann. Von dieser Form des „Fuß-Prangers“ gab es verschiedene Varianten wie z.B. den im Folgenden beschrieben „Gemeinschafts-Balken“.
Da antwortete Siggeir: „Du muß verrückt sein und den Verstand verloren haben, daß Du so um mehr Schande für Deine Brüder als nur die ihrer jetzigen Niederlage bittest. Aber dennoch will ich Dir dies gewähren, denn es gefällt mir um so besser, je mehr sie ertragen müssen und je länger ihre Pein dauert, ehe der Tod zu ihnen kommt.“
Nun ordnete er es an, wie sie es gewünscht hatte und es wurde ein mächtiger Balken gebracht und an einem bestimmten Ort im Wild-Wald auf die Füße der Brüder gelegt. Dort saßen sie bis in die Nacht, aber um Mitternacht kam, als sie dort am Pranger saßen, eine Wölfin aus dem Wald. Sie war alt und sowohl groß als auch von bösartigem Aussehen und das erste, was sie tat, war, einen der Brüder so lange zu beißen, bis er starb und dann fraß sie ihn auf und ging ihres Weges.
Am nächsten Morgen aber sandte Signy einen Mann zu den Brüdern, den, dem sie am meisten vertraute, weil sie wissen wollte, wie es ihnen ergangen war. Und als er zurückkehrte, erzählte er ihr, daß einer von ihnen tot war und es schien ihr ein großes Leid zu sein, wenn sie alle auf diese Weise sterben sollten und doch wußte sie nicht, was sie für sie tun könnte.
Die Geschichte hierüber ist schnell erzählt: Neun Nächte hintereinander kam um Mitternacht die Wölfin und in jeder Nacht tötete sie einen der Brüder bis sie alle tot waren außer Sigmund allein.
Da sandte Signy, bevor die zehnte Nacht kam, jenen vertrauenswürdigen Mann zu ihrem Bruder Sigmund und gab ihm Honig in die Hand und bat ihn, den Honig auf Sigmunds Gesicht zu streichen und ein bißchen davon in seinen Mund zu geben. Da ging er zu Sigmund und tat wie ihm geheißen ward und kam dann wieder zurück.
In der nächsten Nacht kam die Wölfin von ihrem Verlangen getrieben und wollte ihn töten und verschlingen so wie sie es mit seinen Brüdern getan hatte. Aber da roch sie den Duft, der von ihm ausging, weil er mit Honig bestrichen worden war. Sie leckte mit ihrer Zunge über sein ganzes Gesicht und steckte ihm dann ihre Zunge in seinen Mund.
Davor hatte er keine Furcht, sondern fing die Zunge der Wölfin zwischen seinen Zähnen und wie sehr sie daraufhin auch zurückzuckte und wie mächtig sie sich auch von ihm zurückzog und ihre Füße gegen den Fußblock stemmte, sodaß alles zu reißen begann – er aber hielt ihre Zunge so fest, daß sie an ihrer Wurzel abriß und das war ihr Tod.
Einige Leute aber sagen, daß diese Wölfin die Mutter des Königs Siggeir gewesen ist, die sich selber mithilfe von Trollkünsten und Hexerei in die Gestalt einer Wölfin verwandelt hatte.
IV 8. Signy sendet ihre Söhne zu Sigmund
Hier wird berichtet, wie die beiden Söhne des König Siggeir und der Signy sterben.
IV 8. a) Völsungen-Saga
Nachdem nun Sigmund befreit und sein Fußblock zerbrochen wurde, lebte er in den Wäldern und ernährte sich dort selbst, aber Signy sandte wieder Boten aus, da sie erfahren wollte, ob Sigmund noch lebte oder nicht; und als diejenigen, die ausgesandt wurden, zu ihm kamen, erzählte er ihnen alles, was sich zugetragen hatte und was sich zwischen ihm und der Wölfin ereignet hatte. So gingen sie wieder heim und berichteten alles der Signy. Sie jedoch brach auf und fand ihren Bruder und sie berieten miteinander, daß sie ein unterirdisches Haus im Wald bauen wollten. So gingen die Dinge für eine Weile und Signy verbarg ihn dort und sandte ihm die Dinge, die er benötigte. König Siggeir jedoch glaubte, daß alle Völsungen tot seien.
Die Wolfskönigin und das unterirdische Haus lassen zusammen den Eindruck entstehen, daß dieser Waldaufenthalt des Sigmund die Umdeutung einer früheren Jenseitsreise ist. Da die Unterweltsgöttin Hel manchmal auf dem Fenris-Wolf ritt und die Midgardschlange als Zaumzeug benutzte, könnte sie der Ursprung der todbringenden Wolfskönigin sein.
Das Erdhaus ist vermutlich ein umgedeutetes Hügelgrab – vermutlich ursprünglich das des Tyr.
Dieselbe Jenseitsszenerie findet sich auch am Beginn des Wieland-Liedes, in dem Wieland und seine beiden Brüder zusammen mit drei Walküren in einem Haus in einem Wald im „Wolfstal“ leben. Im Harbard-Lied werden die Hügelgräber mit „Wald-Wohnungen“ umschrieben.
Warum konnte sich Sigmund nach dem Tod der Wölfin selber befreien und vorher nicht? Auch diese widersprüchliche Stelle zeigt, daß hier ältere mythologische Motive (vermutlich aus den Tyr-Mythen) zu einer Saga umgewandelt worden sind.
Nun hatte Siggeir mit seiner Frau zwei Söhne, von denen erzählt wird, daß Signy den Älteren, als er zehn Winter alt war, zu Sigmund sandte, damit er ihm helfe, wenn er in irgendeiner Weise danach streben sollte, seinen Vater zu rächen. So ging der Jüngling in den Wald und kam spät am Abend zu Sigmunds Erd-Haus und Sigmund hieß ihn in gebührender Weise willkommen. Er sagte zu ihm, daß er das Brot zubereiten solle, „Ich jedoch,“ sprach er, „werde Feuerholz suchen gehen.“
Mit diesen Worten legte er den Mehlsack in die Hände des Jünglings, während er selber losging, um Feuerholz zu holen. Als er jedoch zurückkehrte, hatte der Jüngling nichts für das Brotbacken getan. Als Sigmund frug, ob das Brot bereitet sei, sprach der Jüngling: „Ich habe nicht gewagt, den Mehlsack in die Hände zu nehmen, da sich in ihm etwas rasch bewegte.“
Da schien dem Sigmund, daß er wüßte, daß der Jüngling nicht von solchem Herzen sei, daß er ihn als Gefolge haben wolle, und als er seine Schwester traf, sagte Sigmund seiner Schwester, daß er der Hilfe durch einen Mann nicht näher gekommen sei, auch wenn der Jüngling bei ihm ist. Da sprach Signy: „Dann ergreife und töte ihn, denn warum sollte solch einer noch länger leben?“ Und so tat er.
So verging dieser Winter und im nächsten Winter sandte Signy ihren nächsten Sohn zu Sigmund. Es ist nicht nötig, viele Worte über diese Geschichte zu verlieren, denn alles geschah wieder in derselben Weise und er erschlug das Kind nach dem Rat der Signy.
Auch diese Szene findet sich im Wieland-Lied, in dem Wieland die beiden Söhne des Königs Nidud erschlägt. Wieland ist der in den Bereich der Sage übertragene Göttervater Tyr in der nächtlichen bzw. winterlichen Unterwelt, wie u.a. seine Bezeichnung als „König der Alben (Totengeister)“ zeigt.
Die beiden ermordeten Königssöhne sind aus dem Motiv der beiden Pferde-Zwillinge entstanden, die den Streitwagen des Sonnengott-Göttervaters Tyr ziehen und als dessen Söhne angesehen wurden: Wenn der Göttervater am Abend oder im Herbst starb, starben auch seine beiden Söhne mit ihm. Aus diesen beiden Söhnen wurde dann in den Mythen des Odin das „Doppelpferd“ Sleipnir. Diese beiden Söhne waren im Jenseits Totengeister, d.h. Alben oder Zwerge. Da sie z.T. das Neuschmieden des am Abend bzw. im Herbst bei dem Tod des Göttervaters zerbrochene Schwert neuschmiedeten, wurden sie zu den beiden zauberkundigen Zwergen, die allgemein die magischen Gegenstände der Götter herstellten.
Aufgrund dieser Herkunft des Motivs des Mordes an zwei Königssöhnen ist es recht sicher, daß Sigmunds Zeit im Wald auf die Jenseitsreise des angehenden Königs bzw. Helden zurückgeht. Ursprünglich hat natürlich nicht der Sommergott Tyr (Wieland, Sigmund) seine eigenen Alcis-Söhne getötet, sondern der Wintergott Loki.
Auch die Ostsee-Insel Gotland, auf der König Siggeir herrscht, hat in der Wieland-Sage eine Entsprechung: Der Schmied Wieland wird von König Nidud auf einer Insel gefangengehalten und muß dort für ihn arbeiten. Die Insel ist ein weitverbreitetes Bild für das Jenseits, das aus der Rationalisierung der früheren Wasserunterwelt entstanden ist. Die bekannteste dieser Jenseitsinseln ist sicherlich Atlantis.
IV 9. Die Zeugung des Sinfiötli
Hier wird berichtet, wie Signy sich in eine andere Frau verwandelt hat und mit ihrem Bruder Sigmund einen Sohn zeugte.
IV 9. a) Völsungen-Saga
Nach einiger Zeit, als Signy...