TEIL I: INDUSTRIELÄNDER
Die Wirtschaftsgeschichte der Industrieländer ist geprägt von den jeweils vorherrschenden wirtschaftspolitischen Ideologien: Merkantilismus, klassischer Liberalismus, Keynesianismus, Neoliberalismus. Die Ideologien unterscheiden sich primär hinsichtlich des Vertrauens in die Kräfte des freien Marktes und des Umfangs der notwendigen bzw. zulässigen Staatsinterventionen in die Marktwirtschaft. Ein Wechsel zu einer neuen Ideologie findet immer dann statt, wenn die bestehende in eine Krise gerät.
Der klassische Liberalismus setzte sich im 19. Jahrhundert durch, als der feudalistische Obrigkeitsstaat zur Fessel der sich dynamisch entwickelnden kapitalistischen Marktwirtschaft wurde. Die Weltwirtschaftskrise 1929 beendete die Epoche des klassischen Liberalismus und führte zum Wechsel zur nachfrageorientierten, staatsinterventionistischen (‚keynesianischen’) Wirtschaftspolitik. Die Ölkrisen von 1973 und 1978 führten dann wieder zur Rückkehr zum klassischen Liberalismus, der zunächst unter dem Etikett ‚Neoliberalismus’ propagiert wurde, um nicht mit dem Desaster der Weltwirtschaftskrise in Verbindung gebracht zu werden. Seit dem Beginn der 80er Jahre prägt der ‚Neoliberalismus’ die Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Industrieländer, wenn auch Teile des in der keynesianischen Epoche entstandenen Sozialstaats noch erhalten geblieben sind.
Im Folgenden soll kurz, stichwortartig in Erinnerung gerufen werden: welche wirtschaftspolitischen Instrumente wurden in den drei wirtschaftspolitischen Epochen zum Einsatz gebracht? Wie haben sich als Folge Wachstum, Beschäftigung, Verteilung, wirtschaftliche Stabilität entwickelt?
1 Epoche des klassischen Liberalismus
(Industrielle Revolution bis 1930er Jahre)
1.1 Theoretische Grundlagen
Zu Beginn der Frühindustrialisierung Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts besteht eine starke Steuerung und Kontrolle der Wirtschaft durch die absolutistischen Feudalstaaten. Durch enge Kooperation von entstehendem Unternehmertum und Staat soll der Reichtum des Landes, zumindest des Adels und Bürgertums, vermehrt werden (Merkantilismus). Durch Importbeschränkungen und Exportförderung soll eine positive Handelsbilanz erreicht werden, was wiederum den Wohlstand des ganzen Landes mehren soll.
Gegen die Bevormundung des Privatkapitals durch den Staat wendet sich der klassische Liberalismus (Adam Smith: Wohlstand der Nationen 1776)3. Die Steuerung der Wirtschaft durch die unsichtbare Hand des Marktes und die Reduzierung der Rolle des Staates auf das Niveau eines Nachtwächters wird gefordert, damit der Markt Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle erzeugen kann. Bezogen auf den Außenhandel wird der Freihandel und damit die internationale Konzentration der Produktion auf den jeweils kostengünstigsten Standort propagiert (D. Ricardo 1817).
Ab den 1870er Jahren wird an den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen Europas Adam Smiths klassische Wirtschaftstheorie abgelöst durch die Neoklassik (z. b. Leon Walras: Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirtschaftlichen Güter 1874, Carl Menger als Begründer der ‚Österreichischen Schule’4): Güterpreise werden nun anders erklärt (aus dem subjektiven Nutzen der Konsumenten anstatt aus der aufgewandten Arbeitszeit der Produzenten), die Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik sind aber dieselben: der freie Markt führt automatisch zu einem allgemeinen Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung und maximalem Wohlstand, staatliche Wirtschaftspolitik ist überflüssig und schädlich. Während sich Adam Smith hundert Jahre zuvor gegen den Merkantilismus der absolutistischen Feudalstaaten wandte, sahen die Neoklassiker die aufkommende Arbeiterbewegung als Gegner der freien Marktwirtschaft und ergriffen entsprechend Partei in den öffentlichen Debatten.
1.2 Umsetzung
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich der klassische Liberalismus in der Wirtschaftspolitik durch - zunächst in Großbritannien und den USA („Manchester-Kapitalismus“), später nach den Napoleonischen Kriegen ab 1815 auch im übrigen Europa. Entgegen der liberalen Ideologie gibt es gelegentlich staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen (Beispiele Deutsches Reich: Schutzzölle für Getreide oder Stahl im nationalen Interesse, Verstaatlichung der Eisenbahn, um deren Ausbau zu forcieren, Einführung einer rudimentären Kranken- und Rentenversicherung, um die unruhige Arbeiterschaft zu befrieden), die jedoch keine Abkehr vom liberalen Dogma darstellen. Nach der staatlich gesteuerten Kriegswirtschaft 1914-18 gibt es noch einmal eine Rückkehr zum Liberalismus bis zur Weltwirtschaftskrise 1929.
1.3 Wirtschaftliche Entwicklung: Wachstum und Krisen
Die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist geprägt von stürmischen Wachstumsphasen und häufigen Krisen (u.a. 1837, 1857, 1873-1896, 1907, 1929),5 sowie von Armut und großen Einkommensunterschieden.
Trotz Wirtschaftswachstum gab es im Europa des 19. Jahrhunderts immer ein Überangebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt. Dies war auf die ständige Freisetzung von Arbeitskräften aus Landwirtschaft und Handwerk sowie auf das hohe Bevölkerungswachstum zurückzuführen, das wiederum bedingt war durch den medizinischen Fortschritt bei Fortbestand einer hohen Geburtenrate (analog zur Dritten Welt heute). Das Überangebot an Arbeitskräften führte auf dem unregulierten Arbeitsmarkt – ungestört durch Gewerkschaften, Tarifverträge, Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Arbeitslosenhilfe etc. – zu niedrigen, stagnierenden oder phasenweise sogar sinkenden Reallöhnen und zu sich verschlechternden Arbeitsbedingungen6. Die Armut löste folgende Entwicklungen aus:
- Millionen Europäer wanderten zwischen Mitte des 19.Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nach Nordamerika und Australien aus. Die meisten weißen Amerikaner haben Vorfahren, die in dieser Periode eingewandert sind.
- angesichts des offensichtlichen Elends kümmerten sich zahlreiche bürgerliche und religiöse Wohltätigkeitsvereine um Arme, Waisen, Kranke und Alte, die sich nicht selbst helfen konnten. Der Wohlstand des Bürgertums löste bei einem Teil seiner Angehörigen offensichtlich ein ‚schlechtes Gewissen’ aus, da Gleichheit und Gerechtigkeit zu den Werten ihrer Kultur gehörten.
- es entstand die Arbeiterbewegung, die für höhere Löhne, das Recht auf Gründung von Gewerkschaften, Begrenzung der Arbeitszeit, Kündigungsschutz, bessere Arbeitsbedingungen, Anspruch auf staatliche Hilfe bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität kämpfte (anstatt um Almosen bei mildtätigen Organisationen betteln zu müssen). Von den Forderungen wurden bis zum Ende der 1920er Jahre nur wenige umgesetzt.
Der klassische Liberalismus endete mit der Weltwirtschaftskrise: der Wirtschaftsaufschwung der 20er Jahre („Roaring Twenties“, Wachstum durch neue Technologien: Elektrizität, Radio, Automobil, Fließbandfertigung) ging mit einer stark wachsenden Einkommensungleichheit einher (USA: die Produktivität stieg vier Mal so schnell wie das Lohnniveau7). Das Kapital, das sich bei Unternehmen und der wohlhabenden Oberschicht ansammelte, floss mangels ausreichender produktiver Investitionsmöglichkeiten (Überkapazitäten in der Industrie) zunehmend in die Aktien- und Immobilienspekulation, wo sich höhere Renditen erzielen ließen. Die Spekulationsblase an den Aktienbörsen platzte in den USA im Oktober 1929, was aufgrund der unzureichenden Bankenregulierung zu einigen Bankenzusammenbrüchen führte und die bereits kurz vorher eingesetzte Rezession verschärfte.
Die amerikanische Regierung unter Präsident Hoover interpretierte die Rezession im Lichte der herrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie: nicht nur die Aktienkurse, sondern das gesamte Preis- und Lohnniveau waren überhöht, die Geldmenge war aufgebläht. Folglich war eine Deflationspolitik angesagt: die Preise und Löhne mussten wieder auf den ‚Gleichgewichtswert’ sinken, um die Nachfrage nach Waren und Arbeitskräften anzuregen und so die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Staatsausgaben wurden gekürzt, um Verschuldung zu vermeiden, Geldmenge und Zinsen zu senken und billiges Kapital für Unternehmensinvestitionen bereitzustellen. Die zusammenbrechenden Banken wurden bewusst nicht gerettet, um die Geldmenge zu reduzieren. Die Krise wurde als eine vorübergehende, notwendige „Reinigungskrise“ betrachtet.
Die Deflationspolitik bewirkte jedoch genau das Gegenteil des Erwarteten: die Wirtschaft der USA schrumpfte 4 Jahre kontinuierlich, bis sie 1933 den Tiefpunkt erreichte. Obwohl das Preisniveau um 25%zurückgegangen war, sank das BSP real um ein Drittel, obwohl das Lohnniveau um 60% zurückgegangen war, stieg die Arbeitslosenrate auf 25%. Ein Drittel der Banken war zusammengebrochen, der Dow Jones lag 90% unter seinem Höchststand8. (Analog verlief die Entwicklung in Deutschland unter Reichskanzler Brüning).
In der Weltwirtschaftskrise offenbarte sich der Denkfehler der neoklassischen (angebotsorientierten) Wirtschaftstheorie: die Verbesserung der Investitionsbedingungen (Senkung von Löhnen, Steuern und Zinsen) führt zu keinerlei Investition, wenn die bestehenden Produktionskapazitäten mangels Nachfrage nicht ausgelastet sind. Stattdessen verringern die sinkenden Löhne und Staatsausgaben die Nachfrage und damit die Kapazitätsauslastung weiter und verschärfen die Krise. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert sich nicht, wenn alle konkurrierenden Industrieländer dieselbe Politik betreiben. Das angebotsorientierte Krisenmanagement ist nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv (Spirale abwärts).
2 Epoche der keynesianischen Wirtschaftspolitik
(1930er bis 1970er Jahre)
Die Weltwirtschaftskrise 1929 erschüttert das Vertrauen in die Kräfte des freien Marktes und die zugrunde liegende Ideologie des klassischen Liberalismus. Das offensichtliche Scheitern des liberalen Kapitalismus löst folgende Gegenbewegungen aus:
- In Deutschland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Portugal, Griechenland, Österreich, Spanien kommen zwischen 1930 und 1939 rechtsnationale und faschistische Kräfte an die Macht. In Italien und Polen sind sie es schon seit den 1920er Jahren. Sie praktizieren einen nationalistischen Staatsinterventionismus, der nahtlos in die Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs übergeht. Infrastruktur und Rüstungsindustrie werden ausgebaut. Durch Im- und Exportbeschränkungen soll eine maximale wirtschaftliche Autarkie erreicht werden. Der Krieg soll den Wohlstand der eigenen Nation durch Annektion, Plünderung, Ausbeutung anderer Nationen erhöhen. Die Ära des nationalistischen Staatsinterventionismus endet 1945 in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs.
- In Frankreich und Spanien kommen 1936 kurzzeitig linke Volksfrontregierungen an die Macht, in Spanien gefolgt vom Bürgerkrieg, in dem sich die faschistischen Gegner durchsetzen. Als Folge des 2. Weltkriegs kann die Sowjetunion nach 1945 den von ihr vom Faschismus befreiten osteuropäischen Ländern ihre sozialistische Planwirtschaft aufoktroyieren. 1990 kollabiert dieses Wirtschaftsmodell.
- John M. Keynes macht die Fehler der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie verantwortlich für die falsche Wirtschaftspolitik während der Weltwirtschaftskrise und entwickelt eine neue makroökonomische Theorie und Politik. In den USA unter Präsident Roosevelt („New Deal“) und Großbritannien kommt die Politik ...