Maria
Vorspeise
Maria vor Pfingsten
Erster Gang
Maria nach Pfingsten
Zweiter Gang
Johannes
Dessert
Requisit: ein Stück Pergament
Maria, vor Pfingsten
Mein Kind, warum hast du uns verlassen! Mein Kind, was haben sie mit dir gemacht!
Mein erstgeborenes Kind! An ein Kreuz haben sie dich genagelt. Wie weh es tut. Was für eine Mutter wäre ich, wenn es nicht so wäre.
Wir hätten es verhindern müssen. Warum hast du sie provozieren müssen, in Jerusalem!
Ich hätte eindringlicher auf dich einreden müssen.
Anders erziehen. Jesus, warum hast du dich mir entzogen?
Ich hätte an deiner Stelle sein müssen.
Jetzt sitze ich, die Mutter, hier in einem Haus in der Stadt, wo ich gar nicht hingehöre. Und warte. Ich warte im Haus eines gewissen Johannes, im ersten Stock. Er hat mich bei sich aufgenommen. Ich warte auf ich weiß nicht was, während die anderen auf Jesus warten. Denn, das ist die Nachricht, die sie verbreiten: Er lebt.
Das sagen sie. Ich war nicht dabei.
Ein Engel, sagen sie, der sagte: Er lebt, er ist nicht hier!
Menschen, die mir sagen: Er selbst, dein toter Sohn, ist uns lebendig erschienen. Der Herr! Sagen sie tatsächlich.
Ich hielt es für verrückt, aber sie bestehen darauf. Sie sind fröhlich. Sie warten darauf, dass sie ihn sogar noch einmal sehen. Also mache ich mir Hoffnungen. Der Schimmer eines Tages, inmitten einer finsteren Nacht. Ich muss Ihnen sagen, liebe Gäste, dieser Tag braucht noch Zeit, bis er da ist. Selbst wenn Jesus leben sollte – was er durchgemacht hat, lähmt mich und belastet mich.
Für mich ist das hier eher eine Familienzusammenkunft, wie es uns Juden die Trauer gebietet. Meine anderen Kinder sind alle mit da. Jakob, Joses, Rahel, Simon, Judit, Judas. Aber auch Freunde von Jesus, und Freundinnen. Nein – Schüler nennen sie sich, Schülerinnen. Ich war erst skeptisch, aber nun sind sie mir sympathisch. Ich lerne sie ja jetzt erst wirklich kennen. Petrus, der Fischer aus Kafarnaum. Levi, der Zöllner, der seine Zollbude verlassen hat. Maria aus Magdala, die ihr Leben um 180 Grad neu ausgerichtet hat. Jakob und Johannes, die Söhne des Zabdai, zwei etwas sehr ehrgeizige junge Männer. Und noch ein dritter Jakob ist da mit seiner Mutter Maria. Das ist eine Beamtenfrau. Von ihrem Geld leben wir zur Zeit, denn vom Warten allein kann man nicht leben. Dann ist da Bartimäus, der mir voller Dankbarkeit sagt, mein Sohn habe ihm das Augenlicht geschenkt. Und Salome, die auch sagt, sie hätte Jesus lebend gesehen. Genauso wie Petrus, und wie mein Sohn Jakob, und andere. Aber auch Thomas, der seine Zweifel hat. Wie ich. So sind wir eine schöne Familie, wie ich sie vorher nicht kannte.
Und wir warten auf den Herrn.
Das bringt mich in eine ungewohnte Lage. Soll ich Herr zu ihm sagen, falls ich ihn doch treffe, meinen eigenen Sohn? Wenn seine Schüler ihn Lehrer nennen – Rabbi –, das ist zwischen ihnen und ihm. Aber „Herr“.
Wie hatte der Engel gesagt? Damals, als ich einfach ein Mädchen aus Nazareth war und von Jesus nichts wusste. Sei gegrüßt, Maria, der Herr ist mit dir. So hatte er gesagt. Das fällt mir jetzt ein, wenn sie von ihrem Herrn reden.
Und jetzt? Angenommen, mein Sohn wird auch vor mir lebendig erscheinen – würde ich dann Herr zu ihm sagen?
Zu mir sagen sie hier: Mutter. Ich weiß dann gar nicht, wie sie das meinen: Mutter des Herrn? Oder Mutter der Gemeinschaft? So kommt es mir manchmal vor. Hier bei Johannes im Haus spiele ich unerwartet eine Ersatz-Mutterrolle. Egal. Ich mag es, wie ich hier aufgenommen werde.
Meine Gedanken gehen aber oft zurück statt vorwärts. Ich denke über Erziehung nach. Ob ich den Tod meines Kindes hätte verhindern können. Das fragt sich jede Mutter. Die Erziehung meines Ältesten war schön, und spannend, dann auch frustrierend. Wahrscheinlich würde jede Mutter das sagen. Im Nachhinein sage ich manchmal: schau, wie es damals war, da hast du schon sehen können, was aus ihm wird. Damals haben wir es allerdings noch nicht gesehen. Obwohl es schon immer Stimmen gab, die von ihm Besonderes gesagt haben.
Wundern Sie sich nicht, da war zuerst dieser Engel. Glauben Sie mir: dass Gottes Engel erscheint, ist bei uns Orientalen keine Seltenheit, das gehört dazu. Sei gegrüßt, Maria, du wirst jetzt demnächst schwanger werden, sagte er, das war überraschend, aber doch nicht so ungewöhnlich. Dein Kind wird Kind Gottes genannt werden, sagte er. Nun, das klingt ungewöhnlich. Oder doch nicht? Irgendwie so, wie eine Mutter es eben manchmal empfindet. Kind Gottes. Wie das letztlich gemeint ist – ich warte noch auf die Erklärung. All die Jahre habe ich alles in meinem Herzen bewegt, so gut es ging. Die letzte Erklärung fehlt momentan.
Die letzte Weissagung aus einer ganzen Reihe von Weissagungen erhielten wir, als wir das erste Mal mit Jesus in Jerusalem waren. Da hinzugehen, hat sich angeboten. Geboren war Jesus weiter im Süden, in Betlehem. Aber acht Tage später, auf der Heimreise zurück nach Nazareth, da kamen wir sowieso durch Jerusalem durch. Nicht ganz leicht mit einem acht Tage alten Baby. Wir gingen mit ihm in den Tempel. Wir kennen da Leute, immerhin habe ich Verwandtschaft unter den Tempelpriestern. Wir trafen da den sehr alten Simon und die noch ältere Hanna, zwei Leute, die im Leben nicht mehr viel anderes machten als beten. Simon nahm unser Kind auf den Arm und fing an zu reden. Er schaute fast ein wenig durch uns durch. Er redete direkt zu Gott, der alte Mann.
Gott, sagte Simon, du hast mir einmal gesagt, dass ich die Rettung für die Völker noch sehen werde. Viele Jahre warte ich nun schon. Und jetzt – jetzt kann ich in Frieden sterben. Denn du hast meine Augen die Rettung sehen lassen. Hier ist ein Licht, das alle Länder erleuchtet. Und Israel wird berühmt, weil hier alles angefangen hat.
Und genauso war Hanna, eine echte Prophetin. Sie hatte auch eine Prophezeiung in ihrer Jugend gehabt, und hatte lange auf eine Bestätigung gewartet, und sagte, als sie Jesus sah, dass sie es jetzt endlich wüsste: Die Erlösung und die Rettung ist da.
Das war ja alles schwer zu verstehen. Denn nirgends war eine Rettung zu sehen. Hier war nur ein kleines Baby. Also speicherte ich es vorläufig einfach ab. Und dann sagte aber Simon noch etwas. Er sagte, dass dieses Kind Menschen zu Fall bringen wird, und andere Menschen aufrichten wird. Und er sagte, dass Menschen ihm Widerstand leisten werden. Bis das am Ende wie ein Schwert eindringen wird in meine, Marias, Seele. Und da hat Simon recht gehabt. In meine Seele ist ein ganz furchtbares Schwert gedrungen. Ich weine um mein Kind. Und ob Jesus die Rettung für die Völker wird in all der Unterdrückung und Not, die da ist – darauf muss man noch warten.
In Momenten des Zweifels frage ich mich sogar, ob wir Jesus überhaupt in den Tempel hätten bringen sollen. Klar, es ist so üblich. Wir gehen nicht ganz selten nach Jerusalem. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte das Unglück im Tempel angefangen. Zwölf Jahre später hatten wir nämlich den ersten richtigen Schrecken um unser Kind – im Tempel.
Das war so: Wir gingen zum Erntefest hinauf nach Jerusalem. Jesus mit seinen zwölf Jahren durfte das erste Mal auf eigenen Füßen mitkommen. Er war ganz stolz, wir, die Eltern auch, seine kleineren Geschwister mussten bei den Großeltern bleiben, bei Anna und Joachim. Wir gingen in den Tempel, wie es uns das Gesetz eben sagt. Danach zu den Verwandten zum Übernachten. Ein paar Tage später sind wir wieder aufgebrochen. Zu dritt, das weiß ich noch ganz genau. Natürlich nicht nur wir drei: viele andere Pilger waren auch da, auch auf dem Heimweg. Und dann, als wir zum Tor hinausgehen, schaue ich mich um, und wir sind nur noch zu zweit.
Josef, Jesus fehlt!
Beruhige dich. Er ist irgendwo zwischen den Leuten.
Er ist nicht zwischen den Leuten! Josef, wir müssen umkehren!
Langsam, da muss man Ruhe bewahren. Bleib du stehen, ich gehe voraus. Entweder er ist voraus gelaufen, dann hole ich ihn ein. Oder er ist langsamer geworden, dann wird er zu dir stoßen.
Kurz: Jesus war nicht zwischen den Leuten. Was macht man? Man kehrt zwischen den Leuten zurück, gegen den Strom. Bis zum Haus der Verwandten. Zum Markt, wo Kinder gern sind. Nirgends unser Kind. Da wird man panisch, wenn das Kind in einer Großstadt verloren geht. Haben Sie das schon einmal erlebt?
Obwohl Josef nicht recht gehabt hatte – seine Methode war doch richtig: die Ruhe bewahren.
Überleg mal, Maria, wo waren wir noch überall?
Nirgends sonst, Josef, wir sind vom Haus direkt zum Stadttor gelaufen.
Und gestern vielleicht?
Gestern war er doch da!
Aber ob er gestern irgendwo war, wohin er heute nochmal wollte.
Nichts, wir sind vom Tempel direkt zum Haus zurückgegangen.
Der Tempel, Maria, das ist es. Der Tempel.
Jesus saß im Tempel. Da fanden wir ihn. Seelenruhig. Mitten unter den gelehrten Männern. Er hatte sie gestern gesehen, hierher war er heute wiedergekommen. Hier fand er, was seine Seele suchte. Ein Zuhause für ihn. Diskussionen über Gottes Gesetz. So etwas konnte ihm Nazareth nicht bieten. Obwohl ja im Haus eines Zimmermanns noch am ehesten Diskussionen zu kriegen sind. Wir haben so eine Redewendung im Dorf: Ist irgendwo ein Zimmermann? Damit meint man, dass eine besonders knifflige religiöse Frage vorliegt, wo man einen Fachmann braucht. Und wenn der Rabbi nicht zu erreichen ist, dann sagt man: Ist wenigstes irgendwo ein Zimmermann? Vielleicht weil das wenigstens einer ist, der logisch denken kann von Berufs wegen. Der Sohn eines Zimmermanns fühlt sich im Tempel unter Schriftgelehrten vielleicht besonders wohl.
Nicht, dass ich das damals sehen konnte. Damals habe ich ihn nur geschimpft. Konnte ihn nicht verstehen, als er sagte: Ich muss doch im Haus meines Vaters sein. Konnte nicht anerkennen, dass die Männer ihn sehr lobten für sein Verständnis schwieriger Fragen. Ich habe den ganzen Heimweg dazu gebraucht, ihm zu erklären, wie viel Angst ich um ihn hatte. Und dass sogar Josef, sein Vater, sehr besorgt war. Dass für Jesus andere Dinge wichtig waren, sah ich erst später. Dass ihm längst ein anderer Vater wichtig war.
Ob ich also damals alles kaputt gemacht habe? Oder ob es vielleicht normal ist, dass die Loslösung eines Sohnes von der Mutter heftig zugeht? Jedenfalls war das damals irgendwie der Anfang. Der Tempel, das Symbol der Einheit unsres Volks, führte zur Trennung: Jesus löste sich von nun an von seiner Familie. Und löste sich ein wenig von dem, was im Tempel geglaubt wird. Das ging nicht mit einem Mal, das ging langsam. Jesus war immer öfter fort von zuhause. In den anderen Dörfern, dann am See von Genezareth. Da war er viel. Bis hin zu den griechischen Städten. Jesus wurde einer der vielen Aussteiger, die wir im Land haben.
Ich muss Ihnen etwas über die Aussteiger sagen.
Wenn viele Menschen in winzigen Dörfern leben und von wenigen Feldern leben, steigen viele aus. Viele unfreiwillig, nicht wenige auch freiwillig. Es wird ein Trend. Was tun diese Menschen? Viele gehen zum Betteln, so wie Bartimäus. Noch mehr suchen sich eine Tagelöhnerstelle, so wie der verlorene Sohn. Sehr viele gehen zu diesem Zweck in die Hafenstädte, bis nach Phönizien hinauf.
Manche gehen stattdessen in die Wüste. So hatte es unser Cousin Johannes gemacht, der dann Täufer wurde und Prophet. Jesus ging ihn da draußen besuchen. In der Wüste sind sogar Kommunen entstanden, die in Qumran zum Beispiel. Ich wüsste allerdings nicht, dass Jesus dort auch war. Manche gehen in die Wüste und sagen, dort sei das Reich Gottes. Jesus, der selbst dort gewesen war, sagte: Geht deswegen nicht hin, es ist nicht dort.
Nicht allzu viele gehen natürlich in die Wüste. Viele leben einfach auf den Landstraßen. Es gibt Wanderphilosophen und Wanderasketen und Wanderprediger. Griechische und jüdische. Andere leben dagegen als Straßenräuber. Man kann auf einer Reise schon unter die Räuber fallen. Manche machen es noch anders und gehen in den Widerstand hinaus. Sie werden Gueri...