1 Neue Realitäten
Augmented und Virtual Reality (AR und VR) im Sommer 2016: Innerhalb von nur ein paar Monaten wurde aus einer spannenden Zukunftsstory ein absolutes Hypethema. Niemand hatte eine solche Entwicklung vorausgesehen. Zwar hatten Markt-Auguren über die Jahre hinweg immer wieder den Durchbruch beider Technologien für die nahe Zukunft prophezeit, aber dann ebenso häufig diesen Termin auf die nächsten Jahre verschoben.
Doch es kam anders. Zum einen löste Pokémon Go im Juli 2016 einen wahren AR-Boom aus, zum anderen entführte die Automobilindustrie ihre Kunden in abenteuerliche Erlebniswelten mit völlig neuen „er-Fahrungen“. Dies waren schwerwiegende Symptome einer dann in Kürze ausbrechenden „Epidemie“. Sie wird immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft durchdringen, unseren Alltag beeinflussen und vor allem viele neue Industrie-Prozesse anstoßen. Das Potential von AR und VR ist so wirkmächtig und ansteckend, dass sich Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur und das gesamte zivile Leben diesem bestimmenden Einfluss wohl kaum durch eine einfache Impfung werden entziehen können. Denn neben ihren Sensationen, ihren Marketing- und Sales-Aspekten und ihren verheißungsvollen Entertainmenteigenschaften sind AR und VR wichtige Faktoren bei der digitalen Transformation unserer Wirtschaftssysteme, die zur vierten industriellen Revolution führen werden: Der Industrie 4.0!
Die Bedeutung von AR und VR für diesen umfassenden Wandel in Industrie, Handel, Wirtschaft und Logistik ist kaum hoch genug einzuschätzen. Schließlich arbeiten an vielen Standorten in der ganzen Welt Forschungseinrichtungen und die Hightech-Industrie schon seit Jahrzehnten intensiv an AR und VR. Insbesondere Deutschland kommt hier eine führende Rolle zu. Denn mit den Fraunhofer Instituten wird hier in Kooperation mit verschiedenen Industrie-Unternehmen in vielen Bereichen intensiv geforscht und entwickelt.
Monster`s Ball
Binnen kurzer Zeit wandelte sich AR/VR durch den Pokémon Go-Effekt von einem Expertenzu einem absoluten Hypethema. Plötzlich füllte es die Titelseiten von Zeitungen und Magazinen. Kein Wunder, dass die CeBIT AR und VR zum Leitmotiv für ihre Messe in 2017 machte.
Für die Meisten beschränkten sich bisher die Kenntnisse und Erfahrungen über AR auf ergänzende Inhalte, die ihnen bei Sport- und manchmal auch Polit- Ereignissen im Fernsehen zur Verfügung gestellt wurden. Den Zuschauern war oftmals gar nicht klar, dass es sich bei den Übertragungen im Fernsehen um eine AR-Erfahrung handelte. Denn viele hatten sich über Jahre hinweg an die zusätzlichen informativen Inhalte so sehr gewöhnt, dass sie ihnen als selbstverständliche Beiträge vorkamen. Natürlich erleichterten diese Grafiken und Animationen das bessere Verständnis komplexer Zusammenhänge, aber im Vergleich zu den schon jetzt verfügbaren AR- und VR-Techniken waren dies erste tapsige Schritte einer sich rasch entwickelnden Technologie.
Nur ein kleiner Vorgeschmack
Im Frühsommer 2016 launchte Nintendo sein Online Spiel Pokémon Go. Sein Erfolg war überwältigend. Bis heute ist dieser Kampf der Monster der erfolgreichste Start eines Online-Games überhaupt. Der Einfluss auf die weitere Entwicklung von AR und VR ist unübersehbar. Pokémon Go wurde überall gespielt: Während der Arbeitszeit, in der Schule, an Universitäten und in der Freizeit sowieso. Pokémon Go war im Sommer 2016 „hot“ und wurde für einige Monate die erfolgreichste Augmented Reality (AR) Anwendung weltweit. Begeisterte Spieler erlebten sich in diesem Spiel als Teil einer grenzenlosen Bewegung, die ihre Spieler auf die Straßen lockte und sich nicht mehr auf Konsolen und PCs in den eigenen vier Wänden beschränkte. Das Spiel trieb seine Monsterjäger auf die Straße, durch das ganze Land. Denn an realen Orten, in jeder Straße, auf jeder Kreuzung und in Wald und Wiesen lauerten Monster, die gefangen und dressiert werden mussten.
Was das Spiel so faszinierend macht, ist, dass es an realen Schauplätzen gespielt wird. Die Ortsdaten und Bilder dazu werden von Nintendo selbst geliefert und mit einer digitalen Pokemon Erlebniswelt überlagert. Treffen Pokémon Spieler aufeinander, lassen sie ihre nun dressierte Beute in virtuellen Arenen gegeneinander kämpfen. Die Suche nach Gegnern oder die Jagd auf Monster nahm im Sommer 2016 enorme Ausmaße und die Form einer Sucht an. Sie war teilweise so groß, dass sie sogar Stadtverwaltungen beschäftigte und ihren Bauämtern Kopfzerbrechen bereitete.
In Düsseldorf hatten mehrere Pokémons durch einen Pokestop auf der Girardet-Brücke1 an der „Kö“ ihr Zuhause gefunden. Das machte sie zu einem wahren Spieler-Pilgerort. Düsseldorfs Stadtverwaltung überlegte, ob sie die Brücke aus Sicherheitsgründen sperren sollte – die Belastungsgrenze ihrer Tragfähigkeit schien erreicht. Das Ausmaß, mit der Pokémon-Fans Anwohner und Geschäftsleute mit ihrer Daddelei belästigten, schien alle Dimensionen zu sprengen. Man entschloss sich in einem ersten Schritt zu einer Duldung. Gleichzeitig sahen clevere Unternehmer in einigen angrenzenden Geschäften in den Menschenmassen allerdings eine Marketing-Chance und versorgten die spielverrückte Menge mit Snacks und Getränken.
Da der Run auf den Pokestop nicht abnahm, sah sich Düsseldorfs Oberbürgermeister in einer zweiten Entscheidung auf Grund des Ansturms auf die Brücke genötigt, mit Niantic, dem Hersteller von Pokémon Go, zu verhandeln. Sein Ziel war es, die US Firma zu bewegen, einen echten „Pokestop“ aller Pokémons oder ihre teilweise Reduktion2 zu erreichen. Denn einfache städtische Verbote reichten einfach nicht aus3: In ihrer Spielbegeisterung ließen sich die Spieler nicht abhalten, die Brücke in großen Scharen zu besuchen. Nach fast anderthalb Monaten schaltete der amerikanische Hersteller schließlich zwei seiner vier Pokestops ab: Das machte die Girardet Brücke endlich langweilig4.
Der Erfolg von Pokémon Go bezieht sich zwar nur auf ein Spiel, aber zeigt schon jetzt, was sich in unserer Lebenswelt durch die neuen Technologien Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) ändern wird. Aktuell findet dieser Gamingspaß jedoch nur auf dem Display des Smartphones statt. Für die Wahrnehmung einer durch Informationen „angereicherten Realität“ sind aber Computergesteuerte Werkzeuge notwendig, die unmittelbar und teilweise massiv auf unsere Sinne einwirken.
Die Datenbrille sichert den Erfolg auch zukünftig ab
Es ist daher nicht erstaunlich, wenn Hersteller wie Brother, Microsoft, Google, Epson, Samsung, HTC, Oculus Rift und andere ihre Geschäftsfelder erweitern oder ihr bestehendes Smartphone-Geschäft absichern möchten. Sie bringen Headsets auf den Markt, die die Erfolgsgeschichte ihrer Produkte auch in der Zukunft weiterschreiben sollen. Intelligente Brillen von Google, Epson, Fujitsu, Avegant Glyph und auch von Microsoft bedienen noch einen kleinen Markt. Meistens werden sie in ambitionierten Industrieprojekten eingesetzt. Hier sind es Anwendungen in der Produktion, beim Design, Service und Support sowie in der Logistik. Sie steigern durch Kollaboration die Produktivität, die Effizienz und vermindern gerade in der Produktion den Ausschuss deutlich. Was ihnen fehlt, ist die Anbindung an die große Welt des World Wide Web. Sie sind daher fast ausschließlich proprietäre AR-Lösungen einzelner Firmen. „Erst wenn die wahrgenommenen Gegenstände mit anderen verlinkt sein werden, also wenn wir von einem echten “Hyperlinking“ sprechen können, wird sich Augmented Reality auf breiter Bahn durchsetzen“, vermutete ein Teilnehmer auf der Digility Konferenz 2016 in Köln beim Mittagessen.
VR ist hingegen in seiner Entwicklung schon weiter. Mittlerweile finden sich VR-Headsets bereits im Massenmarkt, sei es als „CardBox“ aus Pappe von Google, in welche ein
Smartphone eingeklemmt wird, oder als vollwertiges Headset. Beide Varianten ermöglichen auf verschiedenen technischen Niveaus den teilweisen Einstieg oder das vollständige Eintauchen in virtuelle Welten.
Augmented Reality mit dem SmartPhone: eingeblendete Zusatzinformationen zu einem Bauwerk in der Sprechblase
2 Ich bin drin: Immersion
Die preisliche Bandbreite von AR/VR Lösungen mit einer Datenbrille reicht von wenigen bis mehreren tausend Euro. Die Lösungen unterscheiden sich nur darin, wieviel Sinne und auf welche Weise sie sie ansprechen. Teure und hochwertige Systeme sind in sich vollständig abgeschlossen. Ihr Nutzer ist dann komplett durch VR-Brille oder Headset und Kopfhörer sowohl optisch wie auch akustisch von der realen Welt abgetrennt. Dann spricht man von „Immersion“. Hier werden die Sinnesorgane mit virtuellen Reizen förmlich überflutet. Dabei taucht der Nutzer buchstäblich in eine andere Welt ein. Die Spielhandlung erlebt er nicht mehr nur als Zuschauer, sondern als agierender Teilnehmer. Audi bietet seinen Kunden mit dem R8 zum Beispiel virtuelle Erlebnisse an exotischen Orten, selbst auf dem Mond5.
Selbstverständlich kann man mit VR seinen künftigen Wagen konfigurieren und schon einmal virtuell in ihm Platz nehmen. Und nicht nur das. Die Präzision virtueller Technik lässt selbst einen „blinden“ Rennfahrer in einem Sportwagen mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit auf einer echten Rennstrecke durch eine virtuelle Traumwelt rasen. Das zeigt das „Castrol Edge“ Video6.
Obwohl der Fahrer im Castrol Edge Video durch seinen Helm nichts von der realen Welt sieht und hört, steuert er sein Auto mit Geschick, hohem Tempo in voller Drift durch einen Parcours in einer fantastischen virtuellen Welt. Die Immersion ist so perfekt, weil die Bedingungen der realen Rennpiste und das optische, akustische, haptische und virtuelle Feedback des Rennwagens hundertprozentig mit der realen Rennpiste übereinstimmen. Wichtig ist hierbei, dass das Fahrerlebnis in der virtuellen Welt sowohl den Gesetzen der Physik als auch der Lebens- und vor allem der Fahr-Erfahrung des Nutzers entspricht. Damit grenzt die Virtual unmittelbar an die Augmented Reality. Wo aber genau diese Grenze liegt, hängt im Wesentlichen von der Technologie und vom Stand der Technik ab. Hier sind die Übergänge zwischen real und virtuell fließend.
Mixed Reality ist Holo
Die HoloLens von Microsoft7 setzt auf ein Head Mounted Display (HMD), eine erweiterte Form einer Datenbrille oder eines Smartglasses, wie sie von den meisten AR- und VR-Produzenten eingesetzt werden. Der Funktionsumfang der HoloLens reicht von AR bis zu VR. Microsoft spricht deshalb von einer Mixed Reality (MR). Am 12. Oktober 2016 hat der Konzern aus Redmond die HoloLens offiziell zum Verkauf für Jedermann freigegeben. Parallel zum Verkaufsstart seiner Datenbrille plant der Konzern sein eigenes AR/VR Betriebssystem „Holographic“ im Rahmen des großen Windows 10 Creator`s Updates freizugeben. Darüber hinaus stellt Microsoft Entwicklern ein „Software Development Kit“ (SDK) zu Verfügung, um für sie und durch sie eine lukrative Software-Plattform zu schaffen. Normale Windows 10 User könnten dann neben der HoloLens auch andere Devices nutzen und auf attraktive MR Games und Lösungen zugreifen. „Mit der Microsoft HoloLens befinden wir uns am Anfang einer langen Reise und wenden uns im ersten Schritt primär an Entwickler und kommerzielle Endkunden. Die Microsoft HoloLens ist aber nur ein Teilaspekt unserer Windows Holographic-Strategie. Indem wir die Windows Holographic Plattform in unser Betriebssystems integrieren (wie es scheint ist erst jetzt – je nach Leistungsgrad des jeweiligen Rechners – das vollständige Creators Update verfügbar) ermöglichen wir es allen Windows 10 Nutzern mit ent...