Braunau, eine Wiege der Demokratie?
„Hier geschieht heute etwas Sensationelles“, schreibt Henric Wuermeling (1995) schwer beeindruckt. „Etwas, das weder in der Verfassungsgeschichte noch in der Politischen Wissenschaft und kaum in der Bayerischen Geschichte entsprechend bewertet wird.“ Was des Historikers Begeisterung weckt: Wuermeling kommt in seinem Buch über den bayerischen Volksaufstand von 1705/06 auch auf den Montag, 21. Dezember 1705, zu sprechen, den ersten Tag des sogenannten Braunauer Kongresses. „Die Aufständischen schaffen ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung“, bemerkt er. Und: „Was hier in den nächsten Tagen geschieht, geht seiner Zeit weit voraus.“
1705/06. Im Zeitalter der Feldherren, Fürsten und Kaiser werden unvermutet Bauern, Schmiede und Wirte zu den handelnden Personen der Geschichte. Im Zeitalter der unantastbaren Monarchien ist in Braunau, im Innviertel, in Bayern plötzlich von einer freien Republik die Rede. Im Zeitalter der absoluten Herrscher von Gottesgnaden will auf einmal ein Kongress von Abgeordneten über die Geschicke des Landes entscheiden. Im Zeitalter der Leibeigenschaft tritt in diesem Kongress kurzerhand das Landvolk als der vierte – und gleichberechtigte - Stand auf.
Im Zeitalter der demütigen Schicksalsergebenheit erklären die Aufständischen die Besatzungsherrschaft für unerträglich und berufen sich auf ein Recht auf Widerstand. Henric Wuermeling kommt zu dem Urteil: „Die erste Revolution der Neueren Geschichte fand in Bayern statt.“ Und: Dem absolutistischen Modell werde zum ersten Mal ein demokratisches entgegengesetzt. „Das Beispiel Braunau hätte Schule machen können. Die Sprengkraft einer solchen Entwicklung wäre kaum auszudenken.“
Braunau eine Keimzelle der Revolution? Braunau ein Ursprung des Parlamentarismus? Braunau eine Wiege der Demokratie? Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse um die Jahreswende von 1705/06, auf den kurzen Winter, als Bayern die Freiheit wagte.
Eine Vorbemerkung:
Die Darstellung folgt den historischen Überlieferungen und hebt zugleich den literarischen Charakter über den wissenschaftlichen Anspruch. Die direkten Zitate wiederum folgen – sofern nicht anders benannt – den Akten zur Geschichte des bairischen Bauernaufstandes 1705/06, herausgegeben von Sigmund Riezler und Karl von Wallmenich in den Jahren 1912, 1913/14 und 1914/15.
Einzelne Hinweise stammen aus verschiedenen Heimatbüchern und Gemeindechroniken sowie aus zahllosen Zeitungsberichten, Fachbeiträgen und Veranstaltungspapieren zum Jubiläum 1705/06 – 2005/06, allen voran aus den Artikelserien im Burghauser Anzeiger und der Tips Braunau.
Woche 1: Montag bis Sonntag, 2. bis 8. November 1705
Das erste Gefecht, der Aufstand beginnt
Es ist genug! Seit Wochen, zum Teil seit Monaten verstecken sich die Burschen im Wald. In ihren Dörfern, auf ihren Höfen können sie sich nicht sehen lassen. Der Kaiser braucht Soldaten für seinen Krieg in Italien.
Abbildung 1. Skulptur in Aidenbach. Es ist genug! Das Volk zeigt die Fäuste und greift zu den Waffen. In vielen Orten in Bayern kommt mit November 1705 der Aufruhr gegen die Besatzer, Mauerkirchen sieht ein erstes Gefecht.
Jeder vierte Hof soll einen Mann stellen, insgesamt 12.000 Bayern sollen auf die Schlachtfelder ziehen – und damit in die Gewissheit, ihre Heimat nie wieder zu sehen.
Zunächst hatte die Kaiserliche Verwaltung noch versucht, die Rekruten anzuwerben. Ohne Erfolg. Die Musterungsplätze blieben leer. Aus dem Werben wurde ein Befehl. Die Beamten sollten dafür sorgen, dass diesem Folge geleistet wird. Doch die Burschen versteckten sich. In den Gegenden um Altheim, Uttendorf und Mattighofen war kein Einziger auf den Höfen und in den Dörfern anzutreffen. Aus Braunau berichtet ein Beamter: „Die beorderten ledigen Burschen weigern sich trotz allen Zuredens zu erscheinen.“ Und: „Die Amtsleute sind viel zu schwach, um sie zum Gehorsam zu bringen.“ Auch in Burghausen blieb die Einberufung ohne Erfolg.
Seitdem hausen die jungen Männer wie Banden in Kobernaußerwald und Weilhartforst. Und seitdem machen Kaiserliche Husaren in Streifzügen durch das Land regelrecht Treibjagd nach künftigen Rekruten. Wen sie erwischen, den werfen sie ins Gefängnis oder führen ihn an Wägen gekettet mit sich.
Das ist zu viel! Irrsinnige Steuerlasten und Abgaben, einquartierte Soldaten und ihre Exzesse, korrupte Beamte und völlige Rechtlosigkeit – alles konnte ertragen werden, doch nun ist die Leidensfähigkeit erschöpft. Nun wollen sich die geflohenen Burschen nicht länger verstecken. Sie ziehen durch das Land und führen aufrührerische Reden. Sie plündern die Ämter und holen sich die Steuergelder zurück. Sie misshandeln die korrupten Beamten. Sie erbeuten Waffen und Geld. Und sie befreien die Rekruten - ihre Nachbarn, Brüder, Kameraden - aus dem Gefängnis.
Erstes Feuergefecht in Mauerkirchen
Am 6. November marschieren über 100 bewaffnete Burschen durch den Markt Mauerkirchen. Ihr Anführer: der 23-jährige Student Johann Georg Meindl aus Weng. Sie liefern sich ein Feuergefecht mit dem Kaiserlichen Dragonerregiment, beide Seiten bleiben aber ohne größeren Schaden. Ein Teil der Aufständischen erscheint noch am Abend vor den Mauerkirchner Beamten. Diese sollen für den nächsten Tag alle Bauernsöhne und Knechte in das Wirtshaus in St. Georgen an der Mattig beordern. Der andere Teil der Aufständischen geht in die Gerichte Uttendorf und Friedburg. Auch hier rufen sie die Jungmannschaft zur Rebellion auf. Ein Beamter aus Mauerkirchen berichtet: „Es verlautet, dass die Burschen sich nicht nur der Märkte Uttendorf und Mattighofen, sondern sogar der Stadt Braunau bemächtigen wollen.“
Der Volksaufstand beginnt.
Rege Berichterstattung
Mit dem Aufstand beginnt auch eine rege Berichterstattung. Aus der Stadt Braunau schreibt Festungskommandant Graf Tattenbach an den Kaiserlichen Verwalter in München, Administrator Graf Löwenstein, er habe von „solchem Feuer und Alarm“ auch aus Rotthalmünster und Schärding Bericht: „Wodurch zu ersehen, dass an mehreren Orten dergleichen Aufrührigkeiten sich finden.“ Aus dem Rottal berichtet ein Beamter nach der Plünderung von Schloss Neudeck: Die Burschen „geben vor, dass sie jetzt keinen Herrn hätten“. Sie wollten daher ihr eigener Herr sein.
Auch dem Kaiser in Wien, Josef I., wird bekannt, dass sich „unter dem Landvolk in Baiern und der Oberen Pfalz einige Empörung ereignet“. In München zeigt sich Administrator Löwenstein in Sorge, „es werde dieses Übel in dem ohnedies ganz schwierigen und zu Aufruhr geneigten Land um sich greifen“. Nach Braunau schickt Löwenstein den Hinweis, er sei bereits in Begriff, gegen diesen Aufruhr die Maßnahmen zu verfügen.
Woche 2: Montag bis Sonntag, 9. bis 15. November 1705
12.000 Rebellen belagern die Stadt Braunau
Die aufständischen Burschen ziehen durch das Land. Im Rottal macht schon die Legende die Runde, die Rebellen seien kugelfest, „so dass sie ohne Schaden aufeinander schießen“. Die Haufen werden zu Hundertschaften, und diese treten miteinander in Verbindung.
Abbildung 2. Belagerung Braunau. Braunau ist die mächtigste Festung in Baierns Osten, gegen Österreich gerichtet. Tausende Aufständische Belagern nun die Bastion – vorerst mit Prügeln, Stangen und Spießen.
Die Wirtshäuser dienen dabei oft als die Zentren der Kommunikation, so mancher Wirt schreitet gar selbst dem Aufstand voran. Im Oberen Innviertel ist der Wirt von Ibm einer der Anführer. Der Wirt von Schweigertsreith versammelt die Burschen aus der Gegend am Höhnhart um sich. Und dem Wirtssohn Johann Georg Meindl aus Weng folgen nicht nur die Aufständischen zwischen Altheim und Mauerkirchen, er steht sogar mit den Gleichgesinnten jenseits des Inns, wie den Aufständischen aus Kößlarn und Rotthalmünster, in Verbindung.
Diese Rottaler ziehen – ebenfalls bereits in Hundertschaften – am 10. November gegen den Inn. Mit Meindl war die Belagerung von Braunau und Schärding beschlossen worden. Der Plan soll nun in die Tat umgesetzt werden. Aus den spontanen Einzelaktionen ist mittlerweile eine organisierte Volksbewegung geworden. 11. November 1705, Martinitag: Von Ering und Frauenstein aus sind es bereits Tausende, die gegen die Festung Braunau ziehen.
Braunau ist eingeschlossen
Am 13. November schlagen rund 6.000 Rottaler ihr Lager in Simbach auf, am 14. November sind es ebenso viele Innviertler, die von Ranshofen bis Haselbach Stellung beziehen. Festungskommandant Tattenbach sieht „rund herum die Annäherung der Bauern“. Die Stadt Braunau ist eingeschlossen, die Rebellen fordern Tattenbach zur Übergabe der Festung auf.
Dieser versammelt das Magistrat und die Zunftmeister und erinnert an den Eid, den auch Braunau erst vor wenigen Monaten auf den Kaiser schwor – schwören musste. Den Rebellen erwidert Tattenbach: „Es ist nicht gebräuchlich, eine Festung mit Prügeln, Stangen und Spießen zu belagern.“ Das wissen auch die Aufständischen und versuchen eine List. Mit einem vorgetäuschten Rückzug wird die Kaiserliche Besatzung aus der Stadt gelockt. Doch aus Versehen löst sich ein Schuss, der Hinterhalt ist aufgedeckt, die Festung bleibt uneingenommen. Sie bleibt aber auch weiterhin von der Lebensmittel- und vor allem der Wasserzufuhr abgeschnitten.
Die Lager in Simbach und Haselbach nennen sich bald Hauptquartiere, in Haselbach wird die Feldkanzlei in einem Weberhaus eingerichtet - „wo neben einem Webstuhl ein Tisch stand, an dem vier Leute die laufenden Schreibarbeiten durchführten“ (Probst, 1978), also Verstärkungen anforderten, Verpflegung befehligten und vieles mehr.
Die Administration in München hat derweil, wie angekündigt, Gegenmaßnahmen veranlasst. Löwenstein schickt Oberst Freiherr de Wendt mit 600 Mann gegen „dieses vermessene Bauernvolk“ an den Inn. In Hebertsfelden, keine 30 Kilometer nordwestlich von Braunau, trifft de Wendt am 12. November erstmals auf einen Rebellenhaufen. „Mit dem göttlichen Beistand wurden die Schelmen völlig über den Haufen geworfen, so dass über 50 auf dem Platz blieben und 11 gefangen wurden“, berichtet er. Und: „Weil es heute schon spät ist, werde ich morgen vor dem Abmarsch einige aufhängen lassen.“ Den Weg nach Braunau schafft de Wendt aber nicht. Die Stellungen der Aufständischen halten.
Kämpfe in Burghausen
Seit dem 12. November wird auch die Stadt Burghausen, die Hauptstadt des Rentamtes, von Aufständischen eingeschlossen. Ein erster Sturmversuch am 13. November scheitert. „Die Tumultanten, unter denen seine Gerichtsuntertanen nicht die wenigeren waren, stellten einen formidablen Aufruhr an“, berichtet der Verwalter des Pfleggerichts Wildshut. Anführer stammen unter anderem aus Hochburg, Mitterndorf und Eggelsberg. Der zweite Sturmversuch am 14. November führt die Rebellen bis in die Grüben. In der Stadt wird also bereits gekämpft, doch erobert ist sie noch nicht.
Woche 3: Montag bis Sonntag, 16. bis 22. November 1705
Die erste Stadt, Burghausen, wird erobert
Rund um Burghausen erhellen Wachtfeuer die Nacht. Seit vier Tagen ist die Stadt von tausenden Aufständischen belagert. Die Bürger – anfangs noch zur Verteidigung bereit – bekommen Angst. Sie drängen die Kaiserliche Garnison, mit den Rebellen zu verhandeln. Die Garnison – ohnehin nur knapp 150 Mann stark – zeigt sich einsichtig.
Abbildung 3. Burghausen erobert. Die Belagerung von Burghausen wird nach fünf Tagen und mehreren Sturmversuchen von Erfolg gekrönt. Die Aufständischen befreien die erste Stadt, und dabei keine geringere als die Hauptstadt des Rentamtes.
Die Aufständischen schicken Franz Naglstätter und Martin Guglreiter als Vertreter von „drent und herent“ der Salzach. Am 16. November um 19 Uhr wird der Kapitulationsvertrag unterschrieben. Mit Trommelschlag und Pfeifenklang ziehen am nächsten Morgen 700 der Aufständischen in Burghausen ein. Die erste Stadt ist erobert. „Befreit“, wie die Rebellen betonen.
Aus dem Hauptquartier in Haselbach kommt auch Johann Georg Meindl mit 400 Mann nach Burghausen. Meindl wird als Hauptmann bezeichnet, schlägt sein Quartier am Stadtplatz Nr. 46/47 (heute Hotel Bayerischer Hof) auf und übernimmt die Verteilung der Waffen und die Ordnung der Mannschaft. Aus Haselbach eilt auch der Wirt von Schweigertsreith nach Burghausen, er überbringt der Rentamtsregierung eine Liste mit Forderungen.
Drei Tage später sitzt in Münche...