1 | Mensch, erkenne dich selbst!
Wenn Verstimmungen plötzlich aus dem Nichts auftauchen, sich in unserem etablierten Leben breitmachen, sich die Anzeichen von Unlust mit der «Delete»-Taste nicht mehr aus unserer Gefühlsdatenbank löschen lassen oder wir uns wiederholt in den gleichen Situationen wiederfinden, die wir vermeiden wollten, werden unweigerlich Selbstzweifel und Ohnmachtsgefühle wach und drehen schrittweise den Lebensenergiehahn zu. Dauert dieser Zustand so lange an, bis es nur noch tröpfelt, schwinden die Lebensgeister fast ganz. Dies kann zu psychischen oder körperlichen Veränderungen und letztlich sogar zu Krankheit führen. Das Leben verliert an Farbigkeit. Gleichzeitig fordert uns dieser Prozess dazu auf: Mensch, erkenne dich selbst!
Zwei Wege zur Farbigkeit
Bereits vor mehr als zwanzig Jahren war es dieser Satz, der uns unabhängig voneinander dazu animierte, uns näher mit dem Menschsein zu beschäftigen.
Denise Keller
Der Zugang zu den Farben wurde mir im wahrsten Sinn in einen Kinderwagen mit blauer Sonnenblende gelegt. Dieses Blau muss einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben. Nur so kann ich es mir erklären, warum ich mich nach über vierzig Jahren noch daran erinnere. Gleiches gilt für einen moosgrünen Teppich, auf dem ich als Vierjährige sass und heimlich ein Streichholz anzündete. Als es mir gelang, erschrak ich sehr und liess das brennende Zündholz fallen. Es blieb ein Brandloch im Teppich zurück, das meine Eltern bemerkten. Vielleicht ist das der Grund, warum Moosgrün in mir bis heute ein Unwohlsein auslöst.
Doch auch viele Jahre später, während meiner ersten Berufsjahre, spielten Farben eine wichtige Rolle. Beim Gestalten von Räumen und Produkten ebenso wie beim künstlerischen Schaffen konnte ich mich auf mein Farbengefühl verlassen. So entwickelte ich mich schrittweise zu einer Fachfrau für Farbgestaltung.
Nach einiger Zeit erfüllten mich diese Tätigkeiten jedoch immer weniger, und ich begann, nach einer neuen Aufgabe zu suchen. Ich besuchte eine Weiterbildung an einer Kunst- und Gestaltungsschule. Dort begegnete ich einem Körpertherapeuten und Künstler, der mir einen neuen Zugang zu den Farben vermittelte. Er leitete uns Studierende an, Farben mit allen Sinnen wahrzunehmen. Unter anderem mussten wir Rot in einer Körperbewegung darstellen, Grün in Worte fassen und Gelb als Persönlichkeit zu Papier bringen. Nach einer intensiven Woche voller Aha-Erlebnisse und Neuentdeckungen war mir meine Aufgabe klar: Ich würde künftig eine Lebensgestalterin sein und die Kunst und Gestaltung mit einer therapeutischen Tätigkeit verbinden.
Mit dieser Vision im Herzen begab ich mich auf einen langen Ausbildungsweg. Dieser brachte mich mit verschiedenen Therapieformen in Kontakt. Schliesslich liess ich mich zur Kunsttherapeutin ausbilden, da die Kunsttherapie meine therapeutischen und beratenden Fachkompetenzen am besten mit meiner gestalterischen Basisausbildung vereinte.
In 2002 gründete ich das atelier farbton und konnte während vieler Gestaltungsprozesse erleben, welch grosse Wirkung Farben auf Menschen haben. Deshalb spielen sie in meiner Arbeit bis heute eine zentrale Rolle und dienen mir als wichtige Wegweiser.
Als ich vor rund vierzehn Jahren meinem Partner und heutigen Ehemann Hans Rudolf Zurfluh begegnete, bekam auch das Material Ton einen Stellenwert in meiner kunsttherapeutischen Arbeit. Hans Rudolf arbeitete schon damals als Keramiker, Kunsttherapeut und Therapeutic-Touch-Praktiker. Er besass eine Töpferschule und eine Praxis für Energiemedizin.
Das atelier farbton bekam eine neue Bedeutung, denn wir beschlossen, unsere Kompetenzen – Farben und Ton – zu vereinen. Diese Fusion brachte uns beruflich und persönlich weiter. In uns erwuchs der Wunsch, unsere Methode anderen Menschen zugänglich zu machen. Gemeinsam entwickelten wir einen Kunsttherapielehrgang und gründeten 2010 unsere Firma magenta – schule für farbiges lernen.
Seither bereichern wir die Bildungslandschaft Schweiz mit unserer Farbigkeit. Sie wird inzwischen zum siebten Mal von unseren Auszubildenden an ihre Klienten weitergetragen. Diese Entwicklung ist für mich in der Farbe Magenta verankert. Sie zeigt sich, wenn das Alte nicht mehr greift. Victor Hugo drückte dies einst so aus: «Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.» Genauso ist es!
Hans Rudolf Zurfluh
Im Gegensatz zu Denise nahm ich als Kind zwar die Farben in meiner Umgebung wahr, doch sie waren entweder schön oder weniger schön. Dafür malte ich in meiner Schulzeit, so of ich konnte. Die Wasserfarben oder Malstifte, die ich dazu verwendete, waren meist Reste in Näpfen oder ausrangierte Stummel. Richtige Farben konnten sich meine Eltern nicht leisten, genauso wenig wie Papier. Dieses erbettelte ich meist in der nahen Druckerei.
Nachdem mir meine Eltern als Teenager untersagt hatten, Grafiker geschweige denn Künstler zu werden, schlug ich zunächst eine Karriere im Management ein. Mit dieser verdiente ich zwar Geld, sie machte mich aber auch krank. Deshalb stieg ich im Alter von dreissig Jahren schrittweise aus dem regulären Berufsleben aus.
Erst danach traten die Farben wieder in mein Leben. Ich besuchte eine Kunstgewerbeschule, nahm Unterricht bei Künstlern und belegte in Basel Töpferkurse. Dabei erkannte ich, dass die Arbeit mit Ton mich stabilisiert und fasste den Entschluss, eine Töpferschule zu eröffnen.
Die Töpferschule verwandelte sich nach und nach in einen Begegnungsraum, in dem die Auseinandersetzung mit dem Ton, dem Brennen, den Farben und dem Papier wichtiger wurden als das Endprodukt. Gleichzeitig gewann für mich die Vertiefung mit den Menschen und mir selbst an Bedeutung. Ein von mir getexteter Satz, den ich als Aufhänger für eine meiner ersten Ausstellungen wählte, begann sich mehr und mehr in meinem Leben auszuwirken. Er lautet: «Nur wer sich im Laufe seines Lebens sich selber nähert, nähert sich auch seinen Mitmenschen.» Erst heute beginne ich, ihn tief in mir zu verstehen und zu begreifen.
Der Satz startete gleichsam eine Suche nach Antworten auf die Frage: Und was noch? Denn die Erkenntnis, was alles in mir und meinen Mitmenschen an Potenzial brachlag, liess mich unzufrieden mit dem in Ausbildungen Erlernten werden. Sehr oft stand ich ratlos vor Bildern oder Objekten und fragte mich: Was soll ich zu diesem Bild, zu dieser Form, zu dieser Farbe sagen? Obwohl die psychologischen Erklärungsmodelle interessant und spannend waren, halfen sie mir nicht weiter. In den künstlerischen Erklärungsmodellen und Arbeitsmethoden fand ich zwar erste Ansätze, aber sie liessen mich die Bilder und Objekte zu wenig erspüren, erkennen und erleben.
Als Denise Keller an einem von mir geleiteten Meditationskurs teilnahm, wurde ich fündig. Ich hatte Denise bereits zuvor einige Male getroffen. Doch erst im Verlaufe des Kurses kamen wir näher ins Gespräch. Sie erzählte mir, sie sei Kunsttherapeutin, coache mit kunstorientierten Methoden und arbeite regelmässig mit Kindern und Erwachsenen. Schon damals bezeichnete sie ihre Methode als Prozessorientiertes Therapeutisches Malen (PTM). Auch berichtete sie mir von Farben als Wesenheiten, den ihnen zugeordneten Formen und Zahlen, von Farbtests, von lebensgrossen Körperbildern, von Collagen, von den neun Lebensbereichen und so weiter.
Schnell war Denise und mir klar, dass wir unsere Kompetenzen verbinden möchten, um daraus etwas Neues entstehen zu lassen. So fügten wir allmählich meine Fachkompetenzen als Plastiker, meine erlernten kunsttherapeutischen Methoden und mein Wissen über die Energiemedizin mit dem Wissens- und Erfahrungspaket von Denise zusammen. Geboren war die neue PTM-Methode, wie wir sie heute unterrichten.
Für mich ist unsere angebotene Ausbildung noch immer wie aus einem Guss. Obwohl sich seit Beginn des ersten Lehrgangs vieles entwickelt hat und sich weiter entwickeln wird, hat unser Grundkonzept Bestand. Dieses Buch ist ein weiterer wichtiger Meilenstein auf dem Weg im Ausleben und Entdecken meiner Farbigkeit.
Gestalten Sie Ihr Leben farbig?
Wie ist das bei Ihnen? Gestalten Sie Ihr Leben farbig? In unserer modernen Gesellschaft hat die Suche nach dem Finden der eigenen Farben in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen. Immer mehr Menschen empfinden das Leben als Qual der Wahl statt als Quelle der Fülle. Sie erleben einen Mangel an Zeit, vermissen echte Begegnungen und fühlen sich von den allgegenwärtigen Reizen überflutet. Sie leiden an seelischem Hunger und unter starker innerer Leere. Die wiederkehrenden Entwertungen und Bewertungen im persönlichen oder beruflichen Umfeld verstärken diese Gefühle. Erst wenn das Mass übervoll ist und im seelischen Vakuum die Luft knapp wird, suchen sie nach neuen, stimmigeren Lebensentwürfen.
Hier setzt die Kunsttherapie an und bietet den Suchenden einen wohltuenden Schutzraum, um sich auf die Spurensuche nach der individuellen Farbigkeit zu begeben. Sie ermöglicht:
- das Hinterfragen alter Denkmuster (um neuen, positiveren Ideen Platz zu geben),
- das Fördern der Eigenverantwortlichkeit (Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip),
- die Begegnung von Mensch zu Mensch,
- das Neuentwerfen der eigenen Persönlichkeit,
- die Gestaltung neuer Lebensentwürfe,
- das Lernen von Achtsamkeit (hinsehen, hinhören, wertschätzend kommunizieren),
- das Üben im / am Bild oder Objekt (bevor es im Alltag ernst wird),
- das Beleuchten von Verhinderungsstrategien,
- das Erkennen und Erleben der Selbstwirksamkeit (je nach persönlicher Machbarkeit),
- die Stärkung gesundheitsfördernder Prozesse auf körperlicher und seelischer Ebene.
Kurzum, die Kunsttherapie interveniert dort, wo der Lebensfluss von Menschen ins Stocken gerät und die grosse Frage nach dem «Wie weiter?» unüberhörbar ist. Die Art der Begleitung erfolgt mit allem, was persönlichen Themen Ausdruck verleiht: dem Malen von Bildern, dem Kleben von Collagen oder dem Gestalten von Objekten. Auf diese Weise soll die innere Farbigkeit des Menschen (wieder) entfacht und nach aussen sichtbar werden.
Farbige Prozessarbeit
Um Menschen ihrer Farbigkeit näherzubringen, begannen wir 2004 damit, unsere eigene kunsttherapeutische Methode zu entwickeln. Basierend auf unseren Erfahrungen und unserem Wissen kombinierten wir alte mit neuen Theorien, probierten Werkzeuge anderer Disziplinen aus, adaptierten sie für unsere kunsttherapeutische Arbeit und überprüften die Ergebnisse mit unseren Studierenden und Klienten. Entstanden ist daraus, was wir Prozessorientiertes Therapeutisches Malen und Gestalten (PTM) nennen.
Die PTM-Methode fusst auf zwei Fundamenten: dem Prozess und der (Kunst-)Therapie. Dabei steht das Wort Prozess oder prozessorientiert für jedes kunsttherapeutische Setting, in dem über Farben oder Objekte eine Auseinandersetzung mit der Innenwelt stattfindet. Diese Vertiefung geschieht unabhängig von Zeit und Dauer, da in jenen Momenten alles Ergebnisorientierte in den Hintergrund rückt. Die Klienten sollen in ihre Gestaltungsarbeit eintauchen und sich vom Geschehen am Bild oder Objekt berühren lassen können. Nur so bekommt das Unvorstellbare einen Erlebnisraum, und nur so wird ein Selbsterleben möglich. Beides ist für ein erfolgreiches (kunst-)therapeutisches, ganzheitliches Arbeiten essenziell.
Therapie oder therapeutisch stammt aus dem Griechischen und wurde ursprünglich mit dienen übersetzt. Im heutigen Sprachgebrauch steht es für Heilbehandlung (vgl. Duden, 2013). Wir verstehen darunter die vom Kunsttherapeuten angeregte Aktivierung der Selbstheilungskräfte der Klienten. Diese erfolgt primär über das Malen und Gestalten, denn der experimentelle Umgang mit Farben, Ton, Holz, Speckstein oder anderen Materialien stimuliert die Entwicklung von eigenständigen Lösungsstrategien. Sie motiviert die Klienten zu förderlicheren Lebensentwürfen.
Beim PTM geht es also um mehr als darum, ein Bild zu malen, sich auszudrücken und dadurch etwas zu erkennen. Das Ziel ist es, die gewonnenen Erkenntnisse über die Arbeit am Bild oder Objekt ins Leben zu integrieren. Deshalb wird dasselbe Bild oder Objekt auch so lange vom Klienten bearbeitet, bis es wirklich stimmig und unterstützend ist.
Eine Methode in der Kunsttherapie?
Vielleicht fragen Sie sich gerade, weshalb wir ein Buch über das PTM schreiben und wieso wir es als Methode bezeichnen. Fangen wir mit der ersten Frage an: Was sind die Gründe für dieses Buch?
Der wichtigste Grund ist unser tiefer Wunsch, für unsere Studierenden, alle Kunsttherapie-Interessierten und letztlich uns endlich ein kompaktes Hilfsmittel zu schaffen. Denn wir haben eine funktionierende und nachhaltige Methode gefunden, die es unseren Klienten und Studierenden erlaubt, in einem gestalterischen Prozess selbstverantwortlich zur eigenen Genesung beizutragen. Somit sehen wir in diesem Buch ein fundiertes und erprobtes Instrumentarium. Es ist ein wirkungsvolles, methodisches Verfahren, das auch nach über zehn Jahren weiter von neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen profitiert. – Doch was bedeutet das Wort Methode überhaupt?
Der Begriff Methode stammt aus dem Griechischen und bezeichnet ein zielgeleitetes, planmässiges und systematisches Vorgehen, das zu einer anwendbaren Fähigkeit bei der Lösung einer theoretischen oder praktischen Aufgabe führt (Lorenz, 1995). Wann immer wir die PTM-Methode nutzen, entsprechen wir dieser Definition. Das kann man sich wie folgt vorstellen:
Zu Beginn jedes Settings erfolgt zunächst eine ausführliche kunsttherapeutische Anamnese. Sie soll zur Klarheit über die Befindlichkeiten des Klienten und zur Festlegung erster Therapieziele führen. Erkenntnisleitende Beurteilungskriterien wie Farbtests, Collagen oder andere Mittel unterstützen diesen Einstieg und sensibilisieren den Klienten für seine schöpferischen Kräfte. Erst danach wird ihm der erste konkrete Farb- oder Objektauftrag erteilt. Vielleicht folgt der Klient an diesem Punkt sehr schnell seinem inneren Impuls, ein klares Bild zu malen oder bestimmtes Objekt zu formen. Es ist ebenso möglich, dass sich dieser Prozess langsamer entwickelt.
Die daran anschliessenden Phasen wechseln zwischen freier Gestaltung und richtungsweisenden Interventionen ab. Dieser Pendelbewegung wird im PTM Rechnung getragen, indem der Prozess – statt die Lösung – therapeutisch eingesetzt wird. Das heisst, der Klient darf sich malend und gestaltend treiben lassen. Gleichzeitig erfährt er Anleitung und Begleitung, damit sich die Bewusstwerdung einstellt, brachliegende Ressourcen aktiviert werden und der Klient selbstwirksam werden kann. Beide Schritte erfolgen in Form einer Aufforderung an den Klienten, verbindlich zu werden und abstrakte Bilder oder Objekte zu konkretisieren, da «Fantasiegebilde» erst dann zu wegweisenden Kräften werden, wenn sie sich auf einer Realitätsebene zeigen. Darum ist es wichtig, Dingen einen Namen zu geben, sie eingehender zu beleuchten und zum Dialog herauszufordern. Kurzum, die PTM-Methode verfolgt das klare Ziel, das Freigewordene zu bündeln und den Klienten zu seinem Werk Stellung nehmen zu lassen.
Oft kommt es dabei zu Konfliktsituationen zwischen dem Klienten und dem Kunsttherapeuten. Häufig zeigt sich sogar die ganze Palette menschlicher Verhaltensformen, die für alle Beteiligten zu einer grossen Belastungsprobe werden kann. Doch genau diese Reibungen sucht die PTM-Methode, um den im Vorlauf definierten Therapiezielen gerecht zu werden. Das heisst, Bilder und Objekte müssen geklärt und die daraus resultierenden Gefühle mit entsprechenden achtsamen Interventionen seitens des Kunsttherapeuten zuerst gelebt und danach umgewandelt werden können. Der Klient soll sich als selbstwirksame Person erfahren und sich neue Realitäten ermalen / erformen. Es werden die fünf klassischen Schritte einer jeden Therapie durchlaufen: Erinnern, Bewüten, Beweinen, Begreifen und Beenden.
Die PTM-Methode ist somit ein wandelbares, dynamisches und überprüfbares Werkzeug, das systematisch, zielgerichtet und planmässig ist und gleichzeitig neue Wege in der kunsttherapeutischen Begleitung offenhält. Entsprechend verstehen wir sie auf der einen Seite als Rahmenbeding...